von Ingo Schmidt
Merkels Wiederwahl als Bundeskanzlerin steht außer Zweifel. Nur die Zweitfarbe ihrer schwarzen Entourage – gelb, grün oder rot – steht noch zur Wahl. Weit abgeschlagen in den Umfragen ist allerdings nicht nur die politische Konkurrenz, sondern auch die Bilanz der von ihr geführten Regierung. Merkel ist nicht wegen, sondern trotz ihrer Politik beliebt. Im Gegensatz zu Obama, der fehlende Regierungserfolge mit seinem Charisma überspielen kann, zeigt Merkel, dass Popularität auch ohne Starqualitäten möglich ist. Wenn aber weder ihre Politik noch deren mediale Verpackung ihre Popularität erklären können, was dann?
Kanzlerin der Krisengewinnler
Merkel ist eine Krisengewinnlerin. Aus den Ruinen des untergehenden Preußensozialismus in der DDR ist die ehedem systemnahe Physikerin als Bundesministerin der osterweiterten BRD auferstanden. Den Zerfall des Systems Kohl wusste sie für ihren Aufstieg an die Parteispitze der CDU zu nutzen und die Krise der SPD-Regierung unter Schröder ebnete ihr den Weg ins Bundeskanzleramt.
Ihre Karriere verlief parallel mit dem Aufstieg Deutschlands zur europäischen Führungsmacht und seiner Position als Gewinner der Eurokrise. Die Abwicklung der ostdeutschen Staatswirtschaft durch die Treuhand lieferte der Troika die Blaupausen für die Zerstörung von Sozialstaat und öffentlichem Sektor in den Verliererstaaten der Eurokrise. Westdeutschland war der Gewinner der deutschen Einheit, Einheitsdeutschland ist der Gewinner von Binnenmarkt und europäischer Währungsunion.
Beide Vereinigungsprozesse haben Opfer gekostet. Der industrielle Kahlschlag in den neuen Ländern sowie das Zusammenstreichen öffentlicher Stellen haben Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung in die alten Länder verursacht. Die sozialstaatliche Abfederung der Anschlusskrise unter Kohl verursachte die Staatsschulden, mit deren Abbau Schröder Hartz IV rechtfertigte. Der dadurch entstehende Druck auf das Lohnniveau führte zu den Kostenvorteilen, die Deutschlands Leistungsbilanz ins Plus und die Bilanzen der meisten seiner Handelspartner ins Minus trieben.
Die Ungleichgewichte zwischen Überschuss- und Defizitländern sind der Grund, weshalb der Einbruch der Weltkonjunktur 2008/9 nahtlos in die zählebige Eurokrise übergegangen ist. Auf einem wenig wachsenden Weltmarkt überlebt nur, wer andere unter Wasser drückt. Merkel repräsentiert die Hoffnung, zu den Überlebenden zu gehören, weil sie Karriere machte, während ihre Landsleute massenhaft aus den Betrieben flogen und später auf Hartz IV herabgestuft wurden. Sie haben den Preis für deutsche Einheit und Exporterfolge bezahlt. Sozial ins Abseits gestellt, bleiben sie, vorläufig zumindest, auch politisch passiv und gefährden daher Merkels Wiederwahl nicht.
Letztere wird sich am 22.9. als strahlende und souveräne Wahlsiegerin geben, erstere werden mit einer Mischung aus Hoffnung und Bangen vom Wahllokal nach Hause zurückkehren. Den meisten unter ihnen wird schon dämmern, dass die Zahl der Krisengewinnler in Zeiten von Stagnation und Sparprogrammen abnimmt. Wer heute noch dazu gehört, kann schon morgen unter den Verlierern sein. Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren sind rar.
Das Ende der Utopien
Die Ironie der Geschichte will es, dass Merkel auch diese Hoffnungslosigkeit und die daraus resultierenden Ängste repräsentiert. Ihre persönliche Wandlung von der Physikerin im «Arbeiter-und-Bauern-Staat» zur Kanzlerin des Kapitals ist mit dem Aufstieg und Niedergang sozialer Utopien verbunden, an deren Ende Ratlosigkeit und Resignation herrschen. Merkels Zwischenspiel in der Bürgerbewegung der DDR, die mehrheitlich einen demokratischen Sozialismus statt kapitalistischer Einheit wollte, erscheint im Rückblick als ein sympathisches, aber zum Scheitern verurteiltes Nachhutgefecht des Sozialismus des 20.Jahrhunderts. Dieser war aber bereits vorher von seinen Gegnern – Hitler und Pinochet, Reagan und Thatcher – geschlagen oder von vorgeblichen Freunden wie Stalin und Mao zerstört worden. Gegenüber real existierenden Politbüros konnte sich die kommunistische Dissidenz von Trotzki bis Dubcek ebenso wenig durchsetzen wie der Linkssozialismus im Westen gegen die Integration der Sozialdemokratie in den kapitalistischen Staat. Angesichts dieser Tradition des Scheiterns war auch von Perestroika und Bürgerbewegung nicht mehr viel zu erwarten. Nicht Sozialismus, sondern Kapitalismus war die Utopie des ausgehenden 20.Jahrhunderts.
Die deutsche Einheit und die Währungsunion waren lediglich als Übergang auf dem Weg zur vollständigen Auflösung von Staaten in den Weltmarkt gedacht. An die Stelle von Gesellschaften und ihre Zwänge würden individuelle Nutzenmaximierer treten. Mittlerweile ist die Marxsche Prognose, dass die Zahl der Nutznießer begrenzt und deren Glück mit der Ausbeutung und Marginalisierung der Masse der Habenichtse erkauft wird, zum Alltagsverstand geworden. Über die Ursachen sozialer Spaltung muss heute niemand mehr belehrt werden. Die großen Utopien, denen zufolge sozialistische Weltgesellschaft oder kapitalistischer Weltmarkt diese Spaltung überwinden könnten, sind erschöpft. Der Endkrise eines schon lange erstarrten Sozialismus in den frühen 90er Jahren folgt zwei Jahrzehnte später eine allgemeine Krise des Kapitalismus.
Alternativen?
Für Thatcher war der Satz «There is no alternative» ein Kampfauftrag. Als sie den Kampf für individuelle Selbstentfaltung und die Beherrschung des Weltmarkts begann, sah sie sich von sozialistischen Gegnern, seien es linke Sozialdemokraten, autonome Basisbewegte oder antiimperialistische Revolutionäre, umstellt. Für Merkel ist der gleiche Satz eine Zustandsbeschreibung. Zwar wissen irgendwie die meisten Menschen in Deutschland, dass es so nicht weiter geht. Sie wissen auch, dass die Aufforderung an die Südeuropäer, ihre Wirtschaft nach deutschem Vorbild wettbewerbsfähig zu machen, Unsinn ist. Es können nicht alle Länder gleichzeitig Exportweltmeister sein und Krisenlasten auf andere abschieben. Es ist heute aber ebenso schwer, sich Alternativen zum real existierenden Kapitalismus auszumalen, wie die Vorstellung eines anderen Sozialismus zu Zeiten Honecker.
Dass Globalisierungskritiker die Parole «Eine andere Welt ist möglich» ebenso trotzig auf ihre Fahnen schrieben, wie die Neoliberalen einstmals ihr «There is no alternative», hat die Ausbreitung der Hoffnungslosigkeit auch nicht aufhalten können. Die linken Bewegungen der Gegenwart, von Occupy Wall Street bis zu den Generalstreiks südeuropäischer Krisenverlierer, sehen ebenfalls nicht aus, als ginge mit ihnen die neue Zeit. Eher scheinen sie noch Schlimmeres verhüten zu wollen. Das Umschlagen des arabischen Frühlings in Bürgerkrieg und neuerliche Militärherrschaft gibt eine Ahnung, worin das Schlimmere bestehen könnte. So geht die Krise des Kapitalismus mit dem massenhaft verbreiteten Gefühl einher, Alternativen seien entweder nicht möglich oder noch schlimmer als die Gegenwart. Solange das so ist, es aber noch eine hinreichend große Zahl von Leuten gibt, die sich in der allgemein als beschissen wahrgenommen Lage noch auf der Seite der Krisengewinner sehen und die Marginalisierten weiter in Passivität verharren, wird Merkel als Hoffnungsträgerin in einer hoffnungslosen Zeit gewählt.
Dabei gäbe es noch viel zu tun. Denn die Sozialismusversuche des 20.Jahrhunderts hatten zwar das Privateigentum als Voraussetzung kapitalistischer Klassenspaltung überwunden, keineswegs aber die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit. Nachdem nun aber auch der neoliberale Kapitalismus nicht zum Absterben des Staates im Weltmarkt, sondern zum Wuchern des Staates zum Schutzes des immer stärker konzentrierten Privateigentums führt, haben die Beherrschten allen Grund, aus der Kritik an Staat und Privateigentum doch noch einen demokratischen Sozialismus zu entwickeln. Vielleicht haben sich Merkel und andere Bürgerbewegte doch zu schnell der 1990 noch nicht erschöpften Utopie freier Marktwirtschaft ergeben.
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