Die Verlierer der brasilianischen Wirtschaftsaufstiegs sind die mittleren Schichten der Lohnabhängigen, sagt JOÃO MACHADO* im Gespräch mit solidaritéS, Schweiz.
Brasilien hat eine Periode ökonomischer und sozialer Entwicklung erlebt. In Europa versteht man deshalb die Gründe für die Massenproteste nicht recht, von den Fahrpreiserhöhungen mal abgesehen. Ist das ein Protest von Mittelschichten, die sich nicht vertreten fühlen?
Die Vorstellung, es gebe in Brasilien eine nennenswerte ökonomische und soziale Entwicklung, beruht auf einem Irrtum. Es ist wahr, dass das Wirtschaftswachstum zur Zeit der Regierung Lula höher lag als davor unter Präsident Fernando Henrique Cardoso. Aber im Vergleich zu anderen Schwellenländern oder auch zu anderen Ländern Lateinamerikas war es niedrig. In den beiden Jahren der Regierung Dilma Roussef ist das Wirtschaftswachstum zurückgegangen: 2011 stieg das Bruttoinlandsprodukt um 2,7%, 2012 nur noch um 0,9%. Für 2013 deutet sich ebenfalls nur ein mäßiges Wachstum an.
Tatsache ist, dass es in Brasilien keine bedeutende wirtschaftliche Entwicklung gibt. Im letzten Jahrzehnt hat sogar ein Prozess der De-Industrialisierung stattgefunden, vor allem in der exportorientierten Industrie. Brasilien ist zu einem Land geworden, das landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe exportiert; es exportiert heute weniger Industrieprodukte als noch vor zwanzig Jahren. Seine Abhängigkeit vom Ausland ist gewachsen. Die Handelsbilanz hat sich deshalb verschlechtert. Die Inflation ist zurückgekehrt (derzeit bewegt sie sich um die 6% pro Jahr). Diese Umstände zusammengenommen schränken den Manövrierspielraum der Regierung stark ein. Auf dem Feld der Wirtschaftspolitik ist die PT-Regierung sehr konservative, sie versucht mit aller Macht, die öffentlichen Ausgaben unter Kontrolle zu halten und den Kapitalisten Anreize zu bieten – bislang mit wenig Erfolg.
Welche Sektoren dominieren die brasilianische Ökonomie?
Die brasilianische Wirtschaft wird von einer Allianz aus Finanzkapital, industriellem Großkapital und Agrobusiness – einheimischem wie ausländischem – beherrscht. Entwickelt haben sich in den letzten Jahren vor allem das Finanzkapital und das Agrobusiness.
Einige Brosamen wurden auch an die ärmsten Schichten der Gesellschaft verteilt, vor allem durch die starke Ausweitung der Sozialhilfe und die, weniger spektakuläre, Erhöhung des Mindestlohns. Hierin liegt der Hauptgrund für die große Unterstützung, die die Zentralregierung in Brasília unter den ärmsten Schichten der Bevölkerung genießt, die manche als «Subproletariat» bezeichnen. Aber selbst ein Teil dieser Schichten hat rebelliert – genauer gesagt ist die Initiative zu den Aktionen gegen Geschäfte und Banken, zum Anzünden von Autos usw. von diesen ausgegangen.
Verloren haben die mittleren Schichten der Lohnabhängigen und solche mit höherem Einkommen, vor allem die Angestellten im öffentlichen Dienst. Das ist einer der Gründe dafür, weshalb die Regierung in diesen «Mittelschichten» (die Teile der Arbeiterklasse einschließen) die geringste Unterstützung erfährt. Verloren haben auch die Bauern und die in Brasilien nicht zahlreiche indigene Bevölkerung, denn die Regierung begünstigt das Agrobusiness und nicht die bäuerliche Landwirtschaft. Sie lässt auch einen regelrechten Genozid an der indigenen Bevölkerung zu – Großgrundbesitzer lassen immer wieder Indigene ermorden, und die Bundesregierung toleriert das, weil sie sich auf ihre Zustimmung stützt.
Es ist vielleicht nicht richtig zu sagen, «die Mittelschicht fühlt sich nicht vertreten», eher erleben wir einen allgemeinen Legitimitationsverlust der politischen Macht. Ein großer Teil der Bevölkerung spürt, dass die Mehrheitsparteien alle eine sehr ähnliche Politik vertreten.
Wie sind die Proteste entstanden? Was sind die Forderungen?
Ausgegangen sind die Proteste von der Stadt São Paulo und den Mobilisierungen gegen eine Fahrpreiserhöhung von 3,00 auf 3,20 Reais [3 Reais entsprechen etwa 1 Euro]. Die erste Demonstration fand am 6.Juni statt. Am 13.Juni folgte eine größere Demonstration mit mindestens 15000 Teilnehmern, die auf massive Polizeirepression traf: Es gab über 250 Festnahmen, gegen Demonstranten und Journalisten wurden Gummigeschosse und Knüppel eingesetzt.
Auf der nachfolgenden Demonstration am 17.Juni, wieder in São Paulo, stand der Protest gegen die Polizeigewalt im Mittelpunkt. Da änderte sich auch die Linie der Massenmedien: Waren sie anfänglich offen feindselig, weil die Forderung nach Rücknahme der Fahrpreiserhöhung «unrealistisch» wäre, zeigten sie nun eine gewisse Sympathie mit den Demonstranten wegen der Polizeigewalt. Daraufhin beschloss die Regierung des Bundesstaates Sao Paulo, die Repression (teilweise) einzustellen. Landesweit entwickelte sich Solidarität mit den Protesten, und die Demonstrationen weiteten sich auf das ganze Land aus (es gab Mobilisierungen in 400 Städten).
Auf der Demonstration vom 17.Juni tauchte neben der Polizeirepression jedoch noch ein weiteres Thema auf: die enormen Ausgaben für die kommende Fußball-WM und den Confederations Cup. Eine häufige Parole lautete: «Ich will keinen Ball, ich will eine Schule» («Não quero bola, quero escola»). Andere Parolen lauteten: Gesundheit und Bildung sind wichtiger als Fußball. Es gab auch Losungen gegen Homophobie, ein Thema, das in den Monaten zuvor zahlreiche Mobilisierungen gegen die religiöse Rechte ausgelöst hatte (diese Rechte unterstützt einen Gesetzesvorschlag, Homosexualität als Krankheit zu behandeln). Und es wurden Parolen gegen die Korruption gerufen. Das entsprach sicher einer starken Stimmung in der Bevölkerung, aber es ist auch ein Markenzeichen der rechten Presse. Diese hat versucht, die jungen Leuten zu drängen, sie sollten gegen Kriminalität (d.h. für mehr Polizei) und Korruption kämpfen. Das rechte Blatt mit der stärksten Verbreitung, Veja, titelte am 16.Juni: «Die Revolte der Jugend – nach dem Fahrpreis sind Korruption und Kriminalität an der Reihe.»
Auf dieser Demonstration zeigte zum erstmal auch die extreme Rechte Präsenz, vor allem durch Zusammenarbeit mit Polizeiprovokateuren. Am 20.Juni, als die größten Demonstrationen stattfanden, errangen diese Gruppen sogar einen Teilerfolg, weil sie Leute aus der Demonstration vertrieben, die Partei- und Bewegungsfahnen trugen. Sie verfolgten sogar Personen, die einfach nur rote Kleidung trugen. All dies hat die Stimmung gegen «die Parteien» und insbesondere ihre Fahnen angeheizt.
Welche Gesellschaftsschichten stehen hinter der Mobilisierungen? Was sind ihre Kampf- und Organisationsformen?
Initiatoren der Mobilisierung gegen die Fahrpreiserhöhung in São Paulo war die Bewegung Passe Livre (MPL, Bewegung für kostenlosen öffentlichen Nahverkehr). Diese Bewegung besteht seit 2005, sie hat oft Mobilisierungen angestoßen, aber nie in dieser Breite. Sie hat immer gute Beziehungen zu den Parteien der radikalen Linken wie PSOL und PSTU** gepflegt. PSOL und PSTU haben die Mobilisierungen von Anfang an unterstützt und mit der MPL zusammengearbeitet; dann sind auch Teile der PT dazugestoßen. Der PSOL nahestehende Jugendorganisationen haben eine wichtige Rolle gespielt.
Die soziale Basis der MPL bilden vor allem junge Leute aus den «mittleren Schichten». Zweifellos ist das eine linke Bewegung, links von der PT. Nach dem 13.Juni sind viele weitere Organisationen und Bewegungen zu den Protesten dazugestoßen. In São Paulo war dies vor allem die Bewegung der obdachlosen Arbeiter (MTST) und die Bewegung Periferia Attiva, die obdachlose Bewohner in den Vorstädten organisiert. Zu den Mobilisierungen riefen aber auch andere Jugendgruppen, Teile der Frauenbewegung und der Homosexuellenbewegung auf, ebenso Teile der PT und der [früher proalbanischen] PCdoB (die Teil der Regierungslinken ist) und Anarchisten.
In anderen Städten sah es ähnlich aus, hier waren es Kollektive, die sich gemeinsam mit linken Parteien gegen Fahrpreiserhöhungen oder für einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr einsetzen, aber auch Komitees, die seit über zwei Jahren gegen die enormen Kosten der Fußball-WM mobilisieren und sich gegen die Verletzung der Rechte derer wehren, die wegen der Bauarbeiten für die WM vertrieben wurden – und gegen die, von der FIFA geforderten, Ausnahmegesetze, die während der WM herrschen.
Wie ist das Verhältnis zu den anderen sozialen Bewegungen, wie den Landlosen (MST)?
In einigen Städten hat die MST die Demonstrationen unterstützt. Aber das Verhältnis zu ihr ist nicht gut, auch nicht das zur organisierten Arbeiterbewegung. Diese hat sich an den Protesten nicht beteiligt, auch wenn der Gewerkschaftsverband CUT (und ich glaube auch andere Gewerkschaftsverbände) am Ende die Demonstrationen unterstützt haben. Das Hauptproblem ist, dass die Zentralregierung eine starke Kontrolle über die CUT ausübt und auch die MST eine extreme Nähe zur Regierung pflegt.
In Europa ist man verblüfft, dass im Lande des Fußballs Menschen sich mobilisieren für weniger Fußball und mehr Investitionen in andere Bereichen (Bildung, Gesundheit…).
Auch für uns war dies eine Überraschung. Aber es ist nicht schwer, dafür eine Erklärung zu finden. Der Confederations Cup (und mehr noch die WM) findet nicht statt, damit sich die Bevölkerung daran beteiligen kann. Die Eintrittskarten sind teuer. Der ganze Prozess der Organisierung solcher Megaevents wie die Fußball-WM, die Olympischen Spiele usw. ist skandalös und beleidigt das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen. Die Ausgaben dafür sind sehr hoch, wie die Profite der Unternehmen auch, und die Sicherheitsanforderungen der FIFA sind absurd, sie bedeuten wirklich einen Ausnahmezustand. Die Wut gegen die Ungerechtigkeit war diesmal lauter als die Leidenschaft für den Fußball.
Wie hat die Regierung reagiert?
In der Frage der städtischen Fahrpreise haben die Regierungen der verschiedenen Bundesstaaten nachgegeben. Da hat die Bewegung einen klaren und raschen Sieg errungen. Das bedeutet allerdings keine Änderung ihrer grundsätzlichen politischen Orientierung, es drückt eher den Willen aus, die Dinge künftig effizienter zu regeln.
Welche Probleme wirft die Bewegung für die PT auf?
Sie hat in der PT großes Unbehagen ausgelöst und die PT wurde dadurch am stärksten beschädigt. Vor der Demonstration am 20.Juni appellierte der Parteivorsitzende Rui Falcão an die Mitglieder, sich mit eigenen Fahnen daran zu beteiligen. Das Ergebnis war ein Desaster: Ein großer Teil der Demonstranten betrachtete dies als Provokation, was es den Gruppen der extremen Rechten erleichtert hat, aggressiv gegen sie vorzugehen.
In der PT – und vor allem in Sektoren, die sie von links unterstützen, wie die MST oder die PCdoB – herrscht die Neigung vor, an die Einheit der gesamten Linken zu appellieren (einschließlich der radikalen Linken), um eine gemeinsame Front «gegen die Rechte» zu bilden. Die PT-Regierungen machen aber keinerlei Anstalten, ihren Kurs zu ändern. Sie bewahren dieselbe Linie, die die Demonstrationen ausgelöst hat (und weiter auslöst). Es ist offensichtlich, dass die linke Opposition eine Allianz auf dieser Grundlage nicht akzeptieren kann.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die Bewegung weitergehen und weitere Erfolge feiern kann. Aber sie wird nicht selbst einen grundlegenden Wandel herbeiführen können, sie stellt sich nicht das Ziel, das politische System zu ändern oder die Regierung zu stürzen; von einem «Sie sollen alle abhauen» sind wir noch weit entfernt.
*João Machado hat 1980 die Arbeiterpartei (PT) mitgegründet und sie 2003 wegen ihres neoliberalen Kurses verlassen. Er war 2003 Gründungsmitglied der PSOL und gehört in dieser der Strömung Enlace an, die sich auf die IV.Internationale bezieht.
**Die PSTU kommt aus einer trotzkistischen Tradition; ihre Gründungsmitglieder wurden im Juni 1992 aus der PT ausgeschlossen.
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