Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2013
Calle Santa Fe, Chile 2007. Regie: Carmen Castillo, Länge: 163 Minuten
von Gaston Kirsche

Calle Santa Fe ist ein sehr persönlicher Film aus dem Widerstand gegen die chilenische Militärdiktatur. Den Putschisten vom 11. September 1973 ist es nicht gelungen, den Kampf und die Erinnerung daran auszulöschen.

Man sieht eine Frau mit einer Blume und einem Foto in der Hand, mit dem anderen Arm umfasst sie fest ihren kleinen Sohn, mit dem Zorn der Verzweiflung schreit sie die Soldaten in Kampfmontur an: Ich will doch nur meines von Euch getöteten Mannes gedenken. Ihr Schutz: Die Anwesenheit einer Kamera. Eine Aufnahme aus Santiago de Chile 1975, eine der vielen aufrüttelnden Archivaufnahmen, die in „Calle Santa Fe“ zu sehen sind.

Der Militärputsch Augusto Pinochets vom 11. September 1973 war einer der blutigsten Lateinamerikas. Im Untergrund leisteten viele Linke Widerstand. Der MIR, Movimiento de Izquierda Revolucionaria, Bewegung der Revolutionären Linken, hatte sich vorbereitet, einige Waffen besorgt.

In einem Vorort von Santiago lebten Miguel Enriquez, der Generalsekretär des MIR, seine Frau und die Genossin Carmen Castillo mit ihren beiden vierjährigen Töchtern im Untergrund in einem kleinen Haus in der Calle Santa Fe 725. Am 5. Oktober 1974 belagerten Geheimpolizei und Militär das Haus. Sie warfen eine Granate hinein, welche die im sechsten Monat schwangere Carmen Castillo schwer verletzte. Miguel Enriquez wehrte sich mit einer Maschinenpistole. Er wurde erschossen. Nachbarn verhinderten, dass Carmen Castillo verblutete, riefen einen Krankenwagen. Dank dieser Solidarität überlebte sie, konnte nach Paris ins Exil. Dreißig Jahre später kehrte sie, mittlerweile Fernsehjournalistin in Paris, in die Calle Santa Fe zurück.

Begleitet von einer Kamerafrau spricht sie mit den Nachbarn von damals, trifft sich mit GenossInnen des MIR, mit ihren Eltern. Behutsam nimmt sie die Fäden der Erinnerung auf. Sie zeigt Zweifel, scheut nicht, Widersprüche zu benennen. Ihr Bruder, ebenfalls Militanter des MIR, spricht über die Einsamkeit im Untergrund, kann nicht mehr weitersprechen, als er an die von der Diktatur ermordeten, gefolterten GenossInnen denkt. Aber Kämpfen oder Leben, das ist nicht die Alternative. Zum Leben gehört es, für bessere Lebensbedingungen für die Ausgebeuteten zu kämpfen. Auch Verunsicherungen, Kontroversen gehören dazu.

Carmen Castillo hat sich mit vielen GenossInnen überworfen, als sie in den 80er Jahren dem Parteibeschluss nicht gefolgt ist, klandestin aus dem Exil nach Chile zurückzukehren, um im Untergrund zu wirken. Eine Landguerrilla wurde aufgebaut in den Bergen von Neltume, Zellen in den Städten. Viele Miristas wurden gefasst, gefoltert, erschossen.

Carmen Castillo hat einige mittlerweile Erwachsene befragt, die damals von ihren Eltern unter vielen Tränen in einem extra für die Kinder der nach Chile Zurückgehenden eingerichteten Kinderhaus auf Kuba zurückgelassen wurden. Gut versorgt, aber mit der traumatischen Erfahrung der Trennung, der Ungwissheit. Carmen Castillo ist eine sehr persönliche, bewegende Reflexion gelungen. Auch darüber, wie sie damit umgeht, die Witwe von Miguel Enriquez zu sein, wobei sie sich nicht auf eine Opferrolle reduzieren lässt.

Der MIR ist an dem Druck der Diktatur, an den Opfern zerbrochen, aber es gibt viele widerständige Ansätze von solidarischer Gegenwehr, die an ihn anknüpfen. Und mehrere Organisationen, die seine Nachfolge beanspruchen. Im heutigen Widerstand radikaler Linker in Chile ist der MIR ein wichtiger Bezugspunkt.

Carmen Castillos Film ist erschienen als Beilage zu dem Buch „MIR - Die Revolutionäre Linke Chiles“, das der Laika Verlag herausgegeben hat. Dort finden sich ein geschichtlicher Überblick über den MIR von Pascal Andres Allende, MIR-Generalsekretär nach Miguel Enriquez, der auch die Kontroversen mit seinem Onkel Salvador Allende schildert, sowie lange Interviews mit drei Frauen aus dem MIR, die Tamara Vidaurrázaga Aránguiz geführt hat.

Wer mit dem MIR im Exil zu tun hatte, wird in Carmen Castillos Film einiges wieder erkennen, Bewegendes. Nach langen Jahren, in denen sie sich zurückgezogen hatte, hört Carmen Castillo die Hymne des MIR wieder, gesungen von einem Kinderchor in Chile: Trabajadores al Poder, Arbeiter an die Macht. Ein Lied voller Hoffnung, voll des Willens zum Aufbruch. Immer wieder, immer noch.

MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles, 176 Seiten, plus DVD „Calle Santa Fe“. 19,90 Euro. Laika-Mediabook.
http://www.laika-verlag.de/bibliothek/calle-santa-fe-film

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