Manchmal wäre es gut zuzugeben, dass das eigene politische Urteil eher von einem Vorurteil geprägt war als von Tatsachenkenntnis. So verhält es sich auch mit den Chemiewaffen des syrischen Diktators Assad: Es bedurfte eines Aufschreis der Welt, der amerikanischen Drohung mit einer Militärintervention und der russischen Vermittlung, bis Assad am 10.September endlich einräumte, er werde die Chemiewaffen aufgeben, von denen er immer behauptet hat, er habe sie nicht. Seine Propaganda wurde leider auch hierzulande von manchen Linken, die sich für Antiimperialisten halten, getreu wiederholt und die Wahrheit in geradezu grotesker Weise auf den Kopf gestellt:
Assad, die letzte Bastion gegen die vollständige Beherrschung des Nahen Ostens durch den Imperialismus, Opfer imperialistischer Aggression. In Syrien wiederholt sich der Irakkrieg. Jede Unterstellung, das syrische Regime habe Chemiewaffen und könnte sie eingesetzt haben, wiederholt nur die amerikanische Lüge von den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins. Bullshit.
Es würde auch nicht wundern, wenn sich im Laufe der Zeit herausstellte, dass der Chemiewaffenangriff auf einige Vororte von Damaskus am 21.August vom Regime kam. Der UN-Bericht dokumentiert, dass in den frühen Morgenstunden des 21.August großflächig Chemiewaffen mit Hilfe von Boden-Boden-Raketen abgefeuert wurden, Augenzeugen sprechen von einem Dutzend solcher Raketen. Dabei durfte das UN-Team auf russischen Einspruch hin nicht feststellen, woher die Raketen stammten, es durfte nicht einmal Teile davon als Beweisstücke mitnehmen. Es konnte sich an dem fraglichen Ort nur eineinhalb Stunden aufhalten und durfte die wichtigsten sechs Orte, an denen Raketen niedergegangen waren, nicht besuchen. Die Sicherheitskräfte des Regimes sagten, sie könnten «für die Sicherheit des Teams nicht garantieren».
Mindestens wäre es an der Zeit, dass diejenigen, die bislang im Brustton der Überzeugung einen Chemiewaffenangriff von Seiten Assads als reine Erfindung, «höchst unwahrscheinlich und nicht vernünftig» abgetan haben, bescheidener werden und wenigstens zugeben, dass eine Urheberschaft der «Rebellen» (wen immer sie darunter verstehen) derzeit ebensowenig mit letzter Sicherheit «nachzuweisen» ist wie ein Angriff des Regimes. Was bislang von offizieller syrischer und von russischer Seite als Argument vorgetragen wird, warum Assad es nicht gewesen sein kann, steht jedenfalls auf deutlicher tönerneren Füßen als Berichte etwa der Organisation Ärzte ohne Grenzen oder der Menschenrechtsorganisation Violations Documentation Center in Syria (VDC).
Letztere hat am 22.August einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass mehrere Orte in Ghouta, dem Grüngürtel im Osten und Süden von Damaskus, seit Wochen von den syrischen Truppen bombardiert und belagert wird; die Orte werden von Aufständischen kontrolliert, die dem gemäßigten und säkularen Flügel der Opposition angehören. Dass jihadistische Rebellen sie mit Chemiewaffen angegriffen haben sollen (das wären die einzigen, die als Urheber übrig blieben), würde nur dann einen Sinn machen, wenn diese sich mittlerweile offen auf die Seite des Regimes gestellt hätten. Ganz abgesehen davon, dass auch ihnen bislang noch die militärischen Kapazitäten für einen Angriff dieser Größenordnung fehlen dürften (was nicht heißt, dass Angriffe mit Giftgas von ihrer Seite ausgeschlossen werden können). Demgegenüber hat das Assad-Regime bislang nur die Aussage von islamistischen Rebellen angeführt, die für sich die Urheberschaft für den Angriff reklamieren und dabei betonen, es habe sich um einen Unfall gehandelt, während sie mit Chemiewaffen hantierten, die ihnen von den Saudis geliefert worden seien. Ein «Unfall» mit einem Dutzend Boden-Boden-Raketen?
Der VDC-Bericht (www.vdc-sy.info/index.php/en/reports/chemicaldamascussuburbs) ist insofern von Interesse, als er den Angriff in einen größeren Kontext stellt. Demnach versucht das Regime seit eineinhalb Jahren, die Kontrolle über Ghouta zurückzuerobern und ist dabei gezwungen, vermehrt auf Luftangriffe zurückzugreifen, weil die Bodentruppen nicht ausreichen. Es sei auch nicht der erste Chemiewaffenangriff auf dieses Gebiet gewesen, aber weitaus der größte, und sein unmittelbares Ziel sei es gewesen, eine Gegenoffensive der Freien Syrischen Armee (FSA) zu stoppen, die darauf gerichtet gewesen sei, in die nördlichen Stadtteile von Damaskus vorzudringen. Im Gegensatz zu dem Bild, das von den militärischen Positionen der FSA im Ausland gezeichnet werde, und zu den Behauptungen, die das Regime von sich gibt, habe Letzteres bislang nicht vermocht, die Frontlinien wesentlich zu verschieben.
Wenn dieser Bericht stimmt, erscheint die plötzliche Bereitschaft Assads, sein Chemiewaffenarsenal abzugeben und sich auf eine «Friedenskonferenz» einzulassen, in ganz anderem Licht. Dann wäre dies eher ein Rettungsanker, um mit Hilfe Russlands und der USA (die am 27.August nochmals ausdrücklich betont haben, sie wollten kein Regime Change) möglichst das zu retten, was noch zu retten ist.
Bei allem berechtigten Entsetzen über den Einsatz von Chemiewaffen muss man auch sehen, dass diese im syrischen Bürgerkrieg nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das Regime setzt die Artillerie- und Luftangriffe auf Ghouta unvermindert fort, seit dem 21.August sind ihnen 2000 Menschen zum Opfer gefallen – durch ganz konventionelle Waffen. Darüber spricht kein Mensch. Und selbst die pazifistische Linke hüllt in Deutschland ein Mäntelchen des Schweigens darüber, dass Assad diesen Krieg gegen das eigene Volk nur führen kann, weil es ständig Waffennachschub aus Russland und dem Iran bekommt.
Die Generalsekretärin der Quäker in den USA hat am 4.September einen Offenen Brief an Obama und an die beiden Häuser des Kongresses gerichtet, in dem sie fordert: Sofortiges Waffenembargo der USA gegenüber sämtlichen Kriegsparteien! Diese Forderung kann man nur mit beiden Händen unterschreiben. Die notwendige Kritik an der katastrophalen Rüstungspolitik der Bundesregierung, die Mitverantwortung dafür trägt, dass dieser Chemiewaffenangriff überhaupt stattfinden konnte, kann nicht dazu führen, über die Verbrechen anderer Regierungen zu schweigen. Auch die Kampagne gegen Rüstungsexporte sollte sich globalisieren.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.