von Leo Löwe
Nein, dieses Buch wirft den Leser nicht in eine tiefe Depression, wie der Autor im Vorwort selbst vermutet und wofür er angesichts der geschilderten Ungeheuerlichkeiten in Duisburg allen Grund hat. Nein, dieses Buch, die dargestellten Vorgänge machen wütend. Sie machen mich so wütend, dass ich mich wundere, dass die Menschen in Duisburg nicht längst zu ganz anderen Mitteln als dem gesprochenen Wort und der politischen Debatte greifen.
Worum geht es? Im Duisburger Norden, in Bruckhausen und Marxloh, den von der industriellen Vergangenheit geschundenen Keimzellen des früheren Duisburger Wohlstands, wollen die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik den Ortskern bzw. eine Wohnsiedlung abreißen. In Bruckhausen soll ein „Grüngürtel“ entstehen, wo einst und heute das Zentrum einer Gemeinde stand und teilweise (trotz längst begonnener Abrisse) noch heute steht. In Marxloh soll die Zinkhüttenplatzsiedlung mit 400 Wohnungen einem Factory Outlet Center eines reichlich dubiosen Investors weichen. In beiden Fällen arbeiten die Täter mit gleichen Waffen (die sie Argumente nennen, obwohl es keine sind): Der Bevölkerungsrückgang, die soziale und demografische Lage (also arme, ausländische und alte Menschen), der miserable bauliche Zustand, die notwendige Positionierung Duisburgs im globalen Wettbewerb ließen keine Alternative. Letztlich sei das zu erbringende Opfer für die betroffenen Menschen gering und es würde alles getan, um Härten zu vermeiden.
Roland Günter trägt akribisch die Punkte zusammen, die am Ende nur einen Schluss zulassen: Die behaupteten Argumente greifen nicht. Entweder sind sie beliebig oder geradezu falsch. Sie sind zynisch und respektlos gegenüber den Menschen, die in den ach so heruntergekommenen Vierteln wohnen und sich dort seit Jahren und Jahrzehnten wohl fühlen. Diese Menschen entsprechen womöglich nicht dem Bild der Wohlanständigen im Süden der Stadt, sie sind dennoch Bürgerinnen und Bürger der Stadt Duisburg und wollen dies überwiegend auch bleiben.
Die Wohlanständigen haben sich offensichtlich längst aus der Idee der solidarischen Stadt verabschiedet und finden – und das ist der eigentliche Skandal – willfährige Helfer in allen Teilen der Politik. 74 von 75 Ratsmitgliedern haben dem Abriss der von Max Taut entworfenen Zinkhüttenplatzsiedlung und damit der Vertreibung von fast 1000 Menschen zugestimmt. Dieselben Ratsmitglieder haben auch kein Problem damit, dass in Bruckhausen ganze Straßenzüge mit gewachsener Bausubstanz in kriegsähnlicher Manier planiert werden und damit Tausende von Menschen ihre Heimat verlieren. Auch von den Duisburger Vertreterinnen und Vertretern im Düsseldorfer Landtag sind keine kritischen Äußerungen zur Duisburger Stadtzerstörung bekannt.
All dies weist Roland Günter unermüdlich und im Detail nach, er zeichnet die Ereignisse nach, die aus Duisburg ein Schlachtfeld machen. Und doch ist Duisburg nur ein Beispiel für das, was Roland Günter zu Recht „Stadtmassaker und Sozialverbrechen“ nennt. Dabei ist der Autor polemisch und unfair gegenüber jenen, die zynisch und skrupellos mit der eigenen Bevölkerung umgehen; er ist respekt- und achtungsvoll gegenüber jenen, die ein weiteres Mal zum Opfer einer perversen Logik werden.
Kurz: Dieses Buch will nicht objektiv sein. Es kann es auch gar nicht. Dieses Buch bezieht Stellung, und es tut dies in vollem Bewusstsein des Autors, der sich nicht scheut, dies zu sagen. Roland Günter legt uns hier ein dringend notwendiges Buch für alle Menschen vor, die sich noch nicht abgefunden haben mit der abgeschmackten und gekauften Wirklichkeit der Kollaborateure und Nutznießer. Auf fast 400 Seiten rechnet er mit ihnen ab; auf 40 Seiten – aus gutem Grund in der Gegenrichtung zu lesen – umreißt er eine andere Wirklichkeit, die mehr ist als nur eine „visionäre Stadt“.
Mit Bernward Vesper: „ich weiß, daß wir und andere nur glücklich werden können, wenn wir unsere erfahrungen in haß und unsern haß in energie verwandeln. ich glaube an die nützliche funktion des hasses. er ist ausdruck dafür, daß wir uns nicht länger unterdrücken lassen wollen, weder durch uns noch durch andere. aber das ist noch nicht alles, erst die liebe und solidarität – das ist liebe + praxis – kann diesem notwendigen haß ein ende bereiten. ich dürste danach, aber ich lüge mir auch nicht länger in die eigene tasche.“
Der Autor ist Soziologe und im Ruhrgebiet stadtpolitisch aktiv.
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