Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2013
Historische Vorbilder für alternatives Wohnen
von Manfred Dietenberger

Die sogenannte „Wohnungsfrage“ war im ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jahrhundert ein zentrales Thema. Damals entwickelten sich auch die ersten Vorstellungen, der Wohnungsnot mit städtebaulichen Alternativprojekten zu begegnen. Nicht alle haben sich bis heute gehalten.

Die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung führte zu einem explosiven Bevölkerungsanstieg in den Städten und zu einem radikalen Bruch mit der bis dahin vorherrschenden vorindustriellen Wohnweise. Die Städte mussten erweitert, Massenunterkünfte gebaut werden – ein goldener Boden für Spekulanten. Die Mietpreise stiegen rasant und wurden für Arbeiter und ihre Familien immer unerschwinglicher.

Das Mieterelend war Gegenstand heftiger Kritik und Debatte besonders in den Organisationen der Arbeiterbewegung und sozialpolitisch engagierten Verbänden sowie unter Wohnungsreformern. Wie konnten Wohnungen für Arbeiter bezahlbar werden?

Für die Vertreter der Arbeiterbewegung war die Wohnungsfrage eine Klassenfrage, die nicht im Kapitalismus, sondern erst im Sozialismus durch kollektive Wohnformen zu lösen war. Für die Wohnungs- und Sozialreformer war die Wohnungsnot ein sittliches, gesundheitliches und oft auch moralisches Problem. Sie forderten bezahlbare und in sich abgeschlossene Kleinwohnungen, in denen nach bürgerlichem Vorbild der Mann der Erwerbsarbeit nachging und die Frau für die Hausarbeit sorgte. Um dies zu erreichen sollten die Kapitalkosten beim Wohnungsbau subventioniert werden, vorgeschlagen wurden u.a. Mietkaufmodelle und Eigenheimbau.

Die Utopien

Die Sozialdemokratie selbst entwickelte, sieht man von August Bebel ab, lange keine eigenen Vorstellungen. Bebel entwarf in seiner 1878 erschienenen Schrift "Die Frau und der Sozialismus" die Vorstellung einer Gesellschaft, in der der Privathaushalt aufgelöst und die Essenszubereitung, die Bereitstellung von Kleidung und die Erziehung der Kinder außerhäuslich in kollektiven Einrichtungen organisiert würden; auf diese Weise würden auch Zeit, Kraft, Heiz- und Beleuchtungsmaterial sowie Nahrungsmittel eingespart.

"Die Privatküche ist für Millionen Frauen eine der anstrengendsten, zeitraubendsten und verschwenderischsten Einrichtungen, bei der ihnen Gesundheit und gute Laune abhanden kommt und die ein Gegenstand der täglichen Sorge ist, namentlich wenn, wie bei den allermeisten Familien, die Mittel die knappsten sind. Die Beseitigung der Privatküche wird für ungezählte Frauen eine Erlösung sein“, schrieb Bebel.

Lange vorher schon hatte der Frühsozialist Charles Fourier (1772–1837) mit dem Modell der Phalanstère eine Vorlage für alternatives Wohnen geliefert. Nach seiner Vorstellung sollten die einzelnen Familienhaushalte durch Gemeinschaftshäuser mit kollektiver Infrastruktur zu ersetzen werden. Dafür sollten öffentliche Küchen, Speisesäle, Schulen, Festsäle, Erholungsräume, Geschäfte, Bibliotheken, Musikräume und Bereiche für Kinder und Alte geschaffen werden. Es ging ihm dabei auch um die Gleichstellung der Frau.

Der französische Frühsozialist und Fabrikbesitzer Jean-Baptiste Godin (1817–1889) setzte Fouriers Entwurf um und baute 1859 in der französischen Gemeinde Guise, neben seiner Eisengießerei und Ofenfabrik, die Gemeinschaftswohnanlage Familistère, in der 1500 Menschen Platz fanden. Die Siedlung bestand aus drei Wohnkomplexen, Schulgebäuden, einer Kinderkrippe, einem Badehaus und einem Theater. Dazu kamen noch die Gebäude des Économats, bestehend aus einem Wirtschaftshof mit Küchen, Sälen, Restaurants, einer Schankwirtschaft, Läden, einem Schweinestall und Hühnerhof.

Anders als Fourier wollte Godin aber nicht die Auflösung der Familie. Zwar betrachtete auch er Frauen theoretisch als den Männern gleichgestellt, doch traute er ihnen nicht die schwere und schmutzige Arbeit in der Fabrik zu. Viele Frauen blieben auch ohne Arbeit. Und so kam es, dass in die Wohnungen schon bald individuelle Küchen eingebaut wurden. 1880 überführte Godin den Gesamtkomplex einschließlich Fabrik in eine Genossenschaft, die noch bis 1960 existierte...

Lily Braun

Die frühsozialistischen Ideen und deren Umsetzungsversuche in Amerika, aber auch das Modell der „Cooperative Housekeeping Association“, das Ende des 19.Jahrhunderts in der sozialistischen Frauenbewegung in Chicago diskutierte wurde, beflügelten den utopischen Geist der Sozialdemokratin Lily Braun (1865–1916). Sie begann noch Ende des 19. Jahrhunderts, in Reden und Vorträgen für ihre Vorstellungen einer Zentralisierung der Hauswirtschaft und genossenschaftlich organisierte Einküchenhäuser zu werben.

Lily Braun war eine Frau, der viel daran lag, die bürgerliche und die proletarische Frauenbewegung zusammenzuführen. Daher versuchte sie in ihrem Konzept für ein "anderes Wohnen und Arbeiten", sowohl die Situation der Proletarierfrauen, denen die außerhäusliche Fabrikarbeit aufgezwungen war, als auch der bürgerlichen Frauen zu berücksichtigen, die selbst den Zugang zur Erwerbstätigkeit anstrebten. Ihrer Ansicht nach waren Wirtschaftsgenossenschaften eine Voraussetzung für die Befreiung der Frau. Um dies zu unterstreichen, zitierte sie Kropotkin: Frauen „von dem Kochherd und dem Waschfaß befreien, heißt solche Einrichtungen treffen, die ihr gestatten, ihre Kinder zu erziehen und am sozialen Leben Theil zu nehmen“.

In ihrer 1901 erschienen Schrift "Frauenarbeit und Hauswirtschaft" legte sie eine erste Zusammenschau ihrer Vorstellungen vor. Darin warb sie für einen mitten in einen Garten gebauten Häuserkomplex mit 50–60 Wohnungen. Neben Kropotkins Kritik am Einzelhaushalt stützte sie sich auch auf August Bebels Gedanken zur Industrialisierung der Reproduktionsarbeit: „An Stelle der 50<\#208>60 Küchen, in denen eine gleiche Zahl Frauen zu wirthschaften pflegt, tritt eine im Erdgeschoß befindliche Zentralküche, die mit allen modernen arbeitsparenden Maschinen ausgestaltet ist. Giebt es doch schon Abwaschmaschinen, die in drei Minuten zwanzig Dutzend Teller und Schüsseln reinigen und abtrocknen!"

Außer einer Zentralküche sollte es auch Vorratsräume und eine zentrale Waschküche mit selbsttätigen Waschmaschinen geben. Das Essen würde, je nach Wunsch, entweder in der eigenen Wohnung oder in einem gemeinsamen Speisesaal eingenommen, der in der essensfreien Zeit als Versammlungsraum oder als Spielzimmer für die Kinder genutzt werden konnte. Die Hauswirtschaft sollte unter der Leitung einer bezahlten Wirtschafterin stehen und von ein bis zwei Küchenmädchen bei ihrer Arbeit unterstützt werden. Die Wohnungen sollten zentral beheizt werden, so könnten 50 Öfen durch einen einzigen ersetzt werden.

"Während der Arbeitszeit der Mütter spielen die Kinder, sei es im Saal, sei es im Garten, wo Turngeräthe und Sandhaufen allen Altersklassen Beschäftigung bieten, unter der Aufsicht der Wärterin. Abends, wenn die Mutter sie schlafen gelegt hat und die Eltern mit Freunden plaudern oder lesen wollen, gehen sie hinunter in die gemeinsamen Räume, wo sie sich die Unterhaltung nicht durch Alkoholgenuß zu erkaufen brauchen, wenn sie kein Bedürfnis danach haben.“

Anders leben

Zu organisieren und finanzieren sei dies über Genossenschaften und aus Mitteln der Arbeiterversicherungen. Lily Braun rechnete ihren Kritikern vor, diese Wohnform wäre für Arbeiterfamilien erschwinglich, weil die Kostenersparnis durch den Wegfall der Einzelküche zur Finanzierung der Zentralküche und der Gemeinschaftsräume verwendet werden könnten.

Lily Braun strebte mit der in ihrer Schrift vorgestellten Realutopie eine Lösung der Wohnungsnot der Proletarier und die Besserung ihrer sozialen Lage an. Außerdem sollte die von ihr propagierte Wohnform auch die Befreiung der Frau von der Hausarbeit ermöglichen und die Frauenemanzipation insgesamt voranbringen. Eine kollektive Hauswirtschaftsführung sollte ein von der Hausarbeit befreites Familienleben ermöglichen.

Sie verband damit außerdem eine Ernährungsreform, die den „schädlichen Dilettantismus in der Küche“ beenden und für eine ausgewogene Ernährung sorgen sollte. Vor allem um die Verbesserung des Loses der Proletarierkinder ging es Lily Braun: „Nicht nur, dass sie beschützt wären vom Einfluss der Straße und der traurigen Frühreife der Stadtkinder, sie würden auch zeitig den Geist der Brüderlichkeit in sich entwickeln lernen.“ Mit der Befreiung der Arbeiterfrauen von der Hausarbeit würden zudem weibliche Arbeitskräfte frei und könnten den Dienstbotenmangel zu beheben.

Viel Ablehnung, wenig Erfolg

Lily Braun erntete für ihr Modell des Einküchenhauses wenig Beifall. In der bürgerlichen Presse wurde es als „Zukunftskarnickelstall, Kasernenmassenabfütterung und verstaatlichte Mutterfreuden“ bezeichnet. Es krame den „überwundenen Utopismus des 19. Jahrhunderts“ wieder hervor, um „die Rezepte für die Garküche der Zukunft auszuspintisieren“.

Doch auch die sozialdemokratische Frauenbewegung lehnte das Modell ab. Gleich in mehreren Aufsätzen kritisierte Clara Zetkin es in der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit aufs heftigste. Die zentralisierte Hauswirtschaft sei weder für Massenarbeiter noch für Facharbeiter realisierbar, weil ihre Arbeitsbedingungen den kapitalistischen Konjunkturschwankungen unterworfen seien und sie sich deshalb nicht längerfristig finanziell (mit Genossenschaftsanteilen, M.D.) binden könnten.

Wenn überhaupt, dann sei das Modell nur für eine privilegierte Arbeiterschicht materiell möglich, in diesen Familien aber seien die Frauen gerade nicht berufstätig. Für ärmere Haushalte sei das Einküchenhaus nicht bezahlbar. Zudem würden in der Zentralküche die dort angestellte Wirtschafterin und die Küchenmädchen ausgebeutet, zumal der Personalbedarf in Brauns Berechnung viel zu niedrig angesetzt sei.

Aus alledem werde abermals deutlich, dass eine Haushaltsgenossenschaft nur eine Errungenschaft des verwirklichten Sozialismus sein könne. Genossin Brauns Vorschlag wecke falsche Hoffnungen und würde „die Arbeiterklasse in ihrer Energie lähmen, statt sie zu stärken".

Dennoch entstand 1908 in Charlottenburg, in der Kuno-Fischer-Straße 13 am Lietzensee, das erste Einküchenhaus in Deutschland. Äußerlich sah das fünfgeschossige Haus nur wenig anders aus als die benachbarten bürgerlichen Wohnhäuser. Und doch war da etwas Neues entstanden. Die Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen hatten Zentralheizung, Warmwasserversorgung, Bad und einen kleinen Anrichteraum, Küche und Speisekammer aber fehlten. Das Essen wurde für alle Bewohner des Hauses in einer Zentralküche im Untergeschoss zubereitet. Per Haustelefon konnte sich jeder Mieter mit der Küche in Verbindung setzen, die Mahlzeiten wurden von dort mit einem Speiseaufzug direkt in die Wohnungen geliefert.

Für Arbeiterhaushalte war das Wohnen darin unerschwinglich. Die Sozialdemokratin Hulda Maurenbrecher kritisierte 1911 in der Zeitschrift Die Frauenbewegung die falsche Zusammensetzung der Bewohnerschaft. Statt berufstätiger Frauen und ihrer Familien, die einen wirklichen Bedarf an einer Entlastung im Haushalt hätten, seien Familien „alten Schlages“ eingezogen:

„Beamten- und Offiziersfamilien, die Familien mit der nervösen jungen Mutter, die Familien mit der verärgerten älteren Hausfrau, die verwitwete Mutter mit der zwar berufstätigen, aber ‚gut häuslich’ gewöhnten Tochter, dazu ein paar Einzelexemplare wie Schriftsteller und Künstlerinnen und gar auch ein junges Ehepaar, dessen weiblicher Teil Redakteurin ist.“

Damals gab es die zur Finanzierung des Baus notwendige Genossenschaft noch nicht, die die späteren Arbeitersiedlungen ermöglichten. Und auch die Zentralküche wurde schon 1913 aufgegeben. Das Haus besteht bis heute, es steht unter Denkmalschutz und ist in der Hand einer Wohnungseigentümergemeinschaft.

Teile diesen Beitrag:

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.