von Giuseppe Sergi
Am 1.Juli ist in der schweizerischen Metall- und Elektroindustrie ein neuer Gesamtarbeitsvertrag in Kraft getreten. Er betrifft etwa ein Drittel der 300.000 in diesem Sektor Beschäftigten, der für die eidgenössische Wirtschaft eine zentrale Bedeutung hat.
Vor allem die Gewerkschaftsführung hat dies als ein "historisches Ereignis" gefeiert. Denn zum erstenmal seit 76 Jahren, seit der Einführung des Gesamtarbeitsvertrags in der Metallindustrie im Jahr 1937, werden darin Mindestlöhne aufgenommen, die für die unterzeichnenden Firmen verbindlich sind. Das kommt einer regelrechten "Revolution" gleich, zumal in einer Situation, da sich, infolge der seit etwa zehn Jahren bestehenden Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU, Lohn- und Sozialdumping im ganzen Land ausbreiten.
Die lange Tradition des Arbeitsfriedens
Der Gesamtarbeitsvertrag in der Metallindustrie galt in der Schweiz immer als <I>das<I> Symbol für ein Gewerkschaftsverständnis, das sich auf vertragliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses stützt. Er beschreibt jene Verhaltensregeln, die vor allem für die Arbeiter gelten und unter dem Namen "Arbeitsfrieden" bekannt geworden sind. Demnach verzichten die Gewerkschaften auf Streiks und andere Formen der Mobilisierung und des Arbeitskampfs ebenso wie auf eine direkte Vertretung in den Betrieben.
Die Arbeitsbeziehungen in einem Betrieb werden von Betriebskommissionen moderiert, in denen die Gewerkschaften vertreten sind. Aber die Tätigkeit der Betriebskommissionen ist stets auf Kompromiss und nicht auf Konflikt gegenüber dem Betrieb ausgerichtet. Dieses Rollenverständnis, das die Gewerkschaften teilen, hat nach und nach dazu geführt, dass eine reale gewerkschaftliche Vertretung im Betrieb überflüssig wurde. So kommt es, dass in diesen Strukturen die traditionellen Gewerkschaften (die UNIA, die christlichen Gewerkschaften) in der Minderheit sind oder auch ganz fehlen und sie statt dessen von Interessenvertretungen (etwa der Angestellten oder der hochqualifizierten Facharbeiter) dominiert werden, die sich den Interessen des Betriebs verbunden fühlen.
Ein Ergebnis des "Arbeitsfriedens" war die unzureichende Regelung der Arbeitsbedingungen. So wurde in all den Jahrzehnten der Existenz des Gesamtarbeitsvertrags niemals ein Lohn vertraglich fixiert, der wird immer individuell ausgehandelt. Dasselbe gilt für die Arbeitszeit. Sie wird aufs Jahr festgelegt und gibt dem Arbeitgeber damit einen hohen Spielraum: Die Wochenarbeitszeit kann leicht zwischen 30 und 45 Stunden schwanken. Diese Flexibilität wurde in den letzten Tarifverhandlungen nochmals ausgebaut.
Das Gebot der Flexibilisierung beherrscht das gesamte Tarifverhältnis. In Stein gemeißelt wird es durch den berüchtigten "Krisenartikel" (Art.57), welcher der Geschäftsleitung erlaubt, Tarifvereinbarungen flexibel zu handhaben, wenn sie in der Produktion oder durch die wirtschaftliche Entwicklung unter Druck gerät. In solchen Fällen kann sie die Bestimmungen über Lohn oder Arbeitszeit vorübergehend aufheben oder anders handhaben. Anders gesagt, wenn die Geschäftsleitung findet, sie ist in einer schwierigen Situation oder die Profite sinken, kann sie die Folgen davon auf die Arbeiter abwälzen – und bleibt dennoch dem Gesamtarbeitsvertrag treu.
Der Mindestlohn
Die Presse, die Gewerkschaftsführung, fast alle mit dem Thema Befassten haben die Einführung eines Mindestlohns in den Gesamtarbeitsvertrag als ein "historisches Ereignis" gefeiert. Tatsächlich stellt die Einführung eines so grundsätzlich neuen Elements in einen Kollektivvertrag der schweizerischen Metallindustrie eine bedeutende Neuerung dar. Der Begriff "historisch" will aber doch nahelegen, hier handele es sich um einen entscheidenden Fortschritt, einen Bruch mit einer festgelegten Tradition, eine angemessene Antwort auf grundlegende Probleme. "Geschichte", zumal die der Arbeiter und ihrer Lebensbedingungen, schreitet aber in tiefgehenden gesellschaftlichen Schüben voran, in Kämpfen, die ein neues Kräfteverhältnis herstellen, durch das sich die Gesamtlage verändert. Drücken die Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrags in der Metallindustrie und die Verankerung eines Mindestlohns darin eine solche Situation aus? Eher nicht.
Das erste große Problem, und das haben viele betont, ist die Höhe der festgelegten Mindestlöhne. Für nicht qualifizierte Beschäftigte gibt es nun drei Mindestlöhne: 3300 Franken im Tessin (Region C); 3850 Franken in der Region A (im wesentlichen Zürich und Aargau); 3600 Franken im Rest der Schweiz. Für Facharbeiter gibt es im Tessin einen Mindestlohn von 3600 Franken, in der Region A 4150 Franken, im Rest 3900 Franken. Die Löhne werden dreizehnmal im Jahr gezahlt.
Diese Mindestlöhne liegen weit unter den mittleren Löhnen (der mittlere Lohn ist die Linie, wo die Hälfte der Löhne darüber und die Hälfte darunter liegt). Der mittlere Lohn für alle Arbeiter in der Metallindustrie lag im Jahr 2010 bei 6692 Franken im Monat.
Die Festschreibung von (gesetzlichen oder vertraglich vereinbarten) Mindestlöhnen weit unter dem Niveau, das in einem Sektor oder in einer Region tatsächlich gezahlt wird, kann nur den Effekt haben, die Löhne zu drücken; das ist das, was man heutzutage als Lohndumping bezeichnet und was sich auch in der Schweiz langsam, aber unerbittlich seit nunmehr über zehn Jahren ausbreitet.
Die Festlegung von Mindestlöhnen per Kollektivvertrag (mit Allgemeinverbindlichkeitserklärung) oder per Gesetz ist ein wertvolles Instrument gegen Lohndumping, vorausgesetzt, die Löhne liegen in der Nähe der mittleren Löhne. In der nun vorgesehenen Höhe sind sie aber ein Instrument, um das Lohnniveau insgesamt zu senken. Mit einem Kollektivvertrag, der den absoluten Arbeitsfrieden und eine maximale Flexibilität garantiert, haben die Arbeitgeber der Metallindustrie nun auf Jahre hinaus auch Niedriglöhne festgeschrieben.
Der Autor war viele Jahre Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Bau und Industrie, die später in der UNIA aufgegangen ist. Er ist Mitglied der Bewegung für den Sozialismus (MPS) im Tessin.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.