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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2013
Nationaler Agrarstreik zwingt Präsident zu Verhandlungen
von Werner Hörtner

Das zu Ende gehende Jahr war in Kolumbien von zwei historischen Ereignissen gekennzeichnet, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben und doch in einer engen Beziehung zueinander stehen: einmal die Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung sowie verschiedene Aufstände im Land, die schliesslich zum zweiten in einen «nationalen Agrarstreik» mündeten.Die Friedensgespräche begannen in der kubanischen Hauptstadt Havanna vor knapp einem Jahr, am 18.November 2012. Im Unterschied zu früheren Versuchen, dem bewaffneten Langzeitkonflikt durch mehr oder weniger schlecht strukturierte Verhandlungen ein Ende zu setzen, hatten die beiden Konfliktparteien diesmal unter norwegischer Anleitung eine genaue Agenda ausgearbeitet, gegliedert in sechs Arbeitskreise.

Das erste Thema war gleich das schwierigste: die Agrarfrage. Tatsächlich geschah etwas für die meisten Beobachter Unerwartetes: Im Juni d.J. unterzeichneten die beiden Verhandlungsteams ein Teilabkommen zur Agrarpolitik. Obwohl dessen Inhalt bis zum Abschluss eines endgültigen Abkommens geheim gehalten wird, hat die Tatsache, dass Themen wie Agrarproduktion, Ernährungssicherheit und Ökologie im Mittelpunkt der Öffentlichkeit standen, das Selbstvertrauen der von jeher marginalisierten und diskriminierten Landbevölkerung gestärkt.

Ab März waren fast im ganzen Land die Bauern und Arbeiter im Kaffeesektor in den Streik getreten, dann mehrte sich die Unruhe in verschiedenen Regionen und zur Jahresmitte formierte sich ein schon lange nicht mehr erlebter Protest auf dem Land, der sich zunehmend ausweitete und schließlich auch die urbanen Zentren erreichte. Am 19.August wurde dann der Aufstand zum «nationalen Agrarstreik» ausgerufen.

Der Protest breitete sich schnell auf einen großen Teil des Landes aus. Er wurde nicht nur von den wichtigsten Bauernverbänden und den agrarischen Berufsorganisationen aus den Bereichen Kaffee, Kakao, Kartoffel, Reis und Milchprodukte getragen, er erstreckte sich auch sukzessive auf den Gesundheits- und Bildungssektor wegen der durchgeführten und weiter zu erwartenden Privatisierungen. Schließlich schlossen sich auch die Transportunternehmer und die Studentenverbände an, Gewerkschaftszentralen und soziale Bewegungen unterstützten den Ausstand.

Präsident Santos verneint zunächst die Existenz eines Agrarstreiks und einer Agrarkrise, doch schließlich willigte der Staatschef in Verhandlungen ein, nachdem die Regierung mit einem Aufgebot von 50.000 Soldaten vergeblich versucht hatte, den Streik aufzulösen. Zwölf Demonstranten waren erschossen worden, 485 Menschen verletzt. Santos verurteilte den Gewaltexzess seiner militärischen Sondereinheiten zur Aufstandsbekämpfung und zog die Armee zurück.

Gegen Großagrarier und Freihandelsabkommen

Auf der Liste der Forderungen der Protestbewegung standen Massnahmen zur Förderung der landwirtschaftlichen Produktion, Verteilung von Landtiteln (eine Million bäuerlicher Familien leben ohne Landbesitz), soziale Investitionen für die ländliche und städtische Bevölkerung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau, öffentliche Dienstleistungen und Verbesserung des Straßennetzes.

Grossen Unmut unter den Agrarproduzenten hatte eine Bestimmung aus dem Freihandelsvertrag mit den USA hervorgerufen, dass sie kein eigenes Saatgut verwenden dürfen, sondern dieses von den US-amerikanischen Konzernen beziehen müssen. Obendrein genverändert und nur einmal verwendbar.

Die Regierung trat wohl in Verhandlungen mit der Protestbewegung ein, doch verliefen sie für diese nicht zufriedenstellend. Sie würden nur den grossen Agrarproduzenten Verbesserungen bringen, äußerten Kritik aus der Bewegung. Als sie mit einer Wiederaufnahme des Agrarstreiks drohten, willigte die Regierung ein, gemeinsam Punkt für Punkt die Umsetzung der geschlossenen Vereinbarungen zu untersuchen. «Hier werde niemand über den Tisch gezogen», hieß es.

Der Versuch, die bäuerliche Protestbewegungen übers Ohr zu hauen, dürfte diesmal kaum gelingen – zu oft schon haben die Landbevölkerung und die Indigenen den Versprechungen der Regierung geglaubt und sind dann leer ausgegangen. Auch in Bezug auf die Sicherheit ihrer eigenen Kader hat die Bewegung gelernt. Die Drahtzieher der Proteste bleiben unbekannt im Hintergrund, in der Öffentlichkeit bekannte Aktivisten und Aktivistinnen führen die Verhandlungen mit der Regierung.

Präsident unter Zeitdruck

Die Zeit für Proteste ist derzeit in Kolumbien gut. In naher Zeit stehen zwei wichtige Urnengänge auf dem Programm: im März die Wahl von Abgeordnetenhaus und Senat, im Mai die Präsidentschaftswahl. Bis zum 25.November muss Santos bekanntgeben, ob er noch einmal kandidieren will – was er wahrscheinlich tut. Für eine Wiederwahl kann er allerdings keine Massenproteste brauchen. Obendrein setzt ihn der schleppende Verlauf des Friedensprozesses mit der FARC-Guerilla unter Druck.

Am 18.November jährt sich der Friedensdialog, und bis jetzt wurde erst das Agrarthema ausgehandelt. Unruhe und Unmut unter der Bevölkerung wachsen. Beide Seiten, Regierung und Guerilla, schieben einander die Schuld an dem schwächelnden Dialog zu. Santos forderte die Delegation der FARC auf, bis zum Jahrestag im November zu konkreten Ergebnissen zu kommen, sonst könnten die Gespräche suspendiert (d.h. bis nach den Wahlen ausgesetzt) oder gar abgebrochen werden. Laut Regierungsseite haben sich die FARC in einem Grundsatzpapier, das die Verhandlungen eingeleitet hat, verpflichtet, «die Effektivität des Prozesses zu garantieren und die Arbeit zu den Abkommen in der kürzestmöglichen Zeit abzuschliessen».

Eine weitere Hürde bei den Friedensgesprächen liegt für Präsident Santos in der Blockadehaltung seines Amtsvorgängers und früheren politischen Ziehvaters, Álvaro Uribe Vélez, der sich von Anfang an gegen den Dialog mit den FARC ausgesprochen hat, die ja für ihn nur Terroristen und Kriminelle sind. In Wirtschaft und Politik hat der Langzeitpräsident immer noch eine grosse Anhängerschaft und mit 57% geniesst er über 10% mehr Zustimmung als der amtierende Präsident. Uribe hat angekündigt, bei den Parlamentswahlen im März für den Senat zu kandidieren. Das wird ihm sehr wahrscheinlich auch gelingen, und es wird angenommen, dass er auch mehreren seiner Anhänger zu einem Sitz in einer der beiden Parlamentskammern (Abgeordnetenhaus und Senat) verhelfen wird.

Werner Hörtner ist Kolumbienspezialist und schreibt für die in Österreich erscheinende Zeitschrift Lateinamerika anders. Er hat kürzlich ein Buch verfasst, «Kolumbien am Scheideweg», Zürich: Rotpunktverlag, 2013, 300 S., 27 €

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