Ein Interview mit Alexandra Scheele
Der Unmut über die Überforderung von Frauen und Männern durch unzumutbare Arbeitszeiten wächst. Die Karrierefrau mit Kindern hat es mittlerweile zum Leitbild auch der Union gebracht, doch die Arbeitszeiten, die Frauen abverlangt werden, machen ein Leben in der Gemeinschaft, gar mit Kindern und mit alten Menschen unmöglich. Nun regt sich Widerstand: Gleich drei Initiativen haben sich im Vorfeld der Bundestagswahlen das Thema Sorgearbeit vorgenommen und wollen damit Druck auf die Politik machen. Eine davon stellen wir vor: den Aufruf «Für eine soziale, geschlechtergerechte und offene Gesellschaft», eine Initiative feministischer Wissenschaftlerinnen.Der Aufruf beschränkt sich nicht auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern stellt die Zentralität von Erwerbsarbeit überhaupt in Frage und das eigene Anliegen in den größeren Kontext der Prekarisierung und Ausgrenzung zunehmender Teile der Bevölkerung.
Die SoZ sprach mit Alexandra Scheele, Akademische Mitarbeiterin an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sie ist Mitherausgebern der Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft <I>Femina Politica<I>.
Der Aufruf findet sich unter www.gwi-boell.de/web/feminismus-geschlechterdemokratie-aufruf-initiative-feministischer-wissenschaftlerinnen-5098.html.
Wie ist die Initiative für Ihren Aufruf zustande gekommen? Was gab den Anstoß dafür?
Die Initiative ging von feministischen Wissenschaftlerinnen aus, mit dem Ziel, das Thema Geschlechtergerechtigkeit in einen größeren Zusammengang zu stellen und überhaupt wieder zu einem Thema zu machen. Auslöser war die Feststellung, dass Geschlechtergerechtigkeit im Bundestagswahlkampf keine Rolle gespielt hat und wir vielleicht mit dem Aufruf unseren Vorstellungen eine Stimme geben können.
Die Idee dazu entstand im Anschluss an einen Workshop zu «Feministische Kritik in Zeiten der Prekarisierung», den Susanne Völker und Christina Klenner konzipiert hatten. Ausgangspunkt war für uns, dass wir zwar einen gleichstellungspolitischen Ansatz vertreten, aber zugleich die Auffassung hatten: Uns geht es nicht nur darum, Frauen und Männer gleichzustellen, was an sich wichtig genug ist, sondern um die grundsätzliche Frage von Prekarisierung und Ausgrenzung. Hartz IV ist ja an sich auch eine Gleichstellung von Frauen und Männern, weil sie formal gleich davon betroffen sind – aber wir halten Hartz IV insgesamt für keinen sinnvollen Ansatz. Um Ingrid Kurz-Scherf zu zitieren: «Uns geht es nicht um Fensterplätze für Frauen und Männer auf der Titanic.» Uns geht es um eine andere Vorstellung davon, wie wir zusammenleben wollen, um eine andere Gesellschaft – eine soziale, geschlechtergerechte und offene Gesellschaft.
Ein Grundproblem, das wir sehen, ist die zunehmende Prekarisierung von Erwerbsarbeit, die begleitet wird von einer Aktivierungspolitik. Diese setzt nicht nur die Einzelnen unter Druck, sondern macht auch ein selbstbestimmtes Leben jenseits der Erwerbsarbeit nahezu unmöglich. Die wichtigen Fragen: Wie arbeiten wir?, Was ist überhaupt sinnvolle Arbeit? werden im Zuge der Aktivierungspolitik an den Rand gedrängt, da es nur darum geht, Druck und Kontrolle auszuüben und Menschen in jedwede Arbeit zu bringen – unabhängig von Arbeitsbedingungen oder Bezahlung.
Ein weiteres Grundproblem sind die Sorgekonflikte. Sie hängen eng mit dem ersten Problem zusammen. Es gibt eine Pflicht zur allgemeiner Erwerbstätigkeit – aber was ist mit der Sorge? Die ist ja zwingend notwendig, sowohl für Kinder als auch für Ältere und Kranke. Und auch die Zeit für Selbstsorge, wo kommt die her?
Als drittes legen wir als Feministinnen natürlich ein Schwergewicht auf das Geschlechterverhältnis, aber wir müssen dieses auch in einem größeren globalen Zusammenhang sehen. Denn was nützt es der Gleichstellungsidee, wenn wir das Doppelernährermodell fahren, die Hausarbeit oder die Kinderbetreuung dann aber an prekär Beschäftigte aus anderen Ländern abgeben? Das ist auch kein Modell, das wir als feministisch bezeichnen würden.
Das war der Hintergedanke: Unser feministisches Anliegen in größere gesellschaftliche Zusammenhänge einzubetten – was meines Erachtens ja auch das Uranliegen des Feminismus ist.
Sie wollen jetzt einen Offenen Brief an den neuen Bundestag schreiben.
Die Frage ist, wie kommen wir in den politischen Diskurs? Wir wollen zum vorliegenden Aufruf ein Anschreiben, einen Offenen Brief, verfassen und beides an die Abgeordneten aller Parteien im Bundestag schicken, aber auch an Interessenverbände, Gewerkschaften usw. Im Wahlkampf ist ja überhaupt kein Thema zur Sprache gekommen, das irgendwie mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun hatte, höchstens indirekt über die Mindestlohndebatte. Es gibt interessanterweise derzeit drei Initiativen, die Geschlechtergerechtigkeit zum Thema haben, eine davon befasst sich explizit mit dem Thema Krise der Sorgearbeit. Offenkundig herrscht eine große Unzufriedenheit, dass es darüber keine öffentliche Auseinandersetzung gibt. Es ist zu überlegen, ob die drei Initiativen nicht zusammen aktiv werden und etwas Größeres auf die Beine stellen können.
Mir fällt auf, dass das, was Sie sagen, in einem gewissen Kontrast zu einem Ergebnis der Bundestagswahl steht. Die CDU wurde diesmal von mehr Frauen als Männern gewählt, auch von jüngeren Frauen. Das hängt, denke ich, damit zusammen, dass die Regierung Merkel nicht unmaßgeblich dazu beigetragen hat, das Frauenleitbild der Union zu verändern: es ist nicht mehr die Frau an Heim und Herd, sondern die erfolgreiche Karrierefrau mit vielen Kindern. Da rückt die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie natürlich in den Mittelpunkt. Da hat die Regierung auch Initiativen ergriffen: die Öffnung zur Ganztagsschule, das Recht jedes Kindes auf einen Hortplatz – das sind alles Entwicklungen, die zum klassischen Frauenbild der Union gar nicht passen. Jetzt sagen Sie: Dennoch gibt es viel Unzufriedenheit. Was passt Ihnen an der Frauen- und Familienpolitik der Bundesregierung nicht?
Sie sagen es schon mit Ihrer Frage: Mir passt nicht, dass die Frauen- und Familienpolitik reduziert wird auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ich bin selber berufstätig, habe auch zwei kleine Kinder in einer wunderbaren Kinderbetreuung hier in Berlin. Aber selbst wenn die Kinder rund um die Uhr betreut werden würden, entspricht das nicht meinem frauenpolitischen Ideal. Die Kinder sind manchmal krank, manchmal brauchen sie mehr Aufmerksamkeit, dennoch sind wir beruflich gezwungen so weiterzumachen, als ob nichts wäre. Im Grunde bleibt die Frage der Betreuung von Kindern und Älteren weiterhin eine Aufgabe, die wir privat lösen müssen: Wenn wir Glück haben, mit einer Rundum-Kinderbetreuung, wenn wir Pech haben, verkürzt man eben – mehr oder minder freiwillig – die Arbeitszeit.
Als gesellschaftliche Gesamtaufgabe wird das nicht begriffen. Es gibt zwar mehr Betreuungsplätze, aber wenn man beruflich erfolgreich sein will oder selbst wenn man nur Geld verdienen will, muss man soviel arbeiten, dass keine Zeit bleibt für alles andere. Deswegen fordern wir, mehr zeitliche Optionen zu ermöglichen. Damit wir uns recht verstehen: Der Ausbau der Kinderbetreuung ist ein ganz wichtiger Punkt, dahinter möchte ich nicht zurück. Aber das kann nicht das einzige sein.
Der zweite Punkt ist für uns das Thema der sozialen Gerechtigkeit: Vom Elterngeld oder der Kindergelderhöhung profitieren die Haushalte mit einem höheren mittleren oder hohen Einkommen. Wir wissen aus Untersuchungen auch, dass viele Frauen nur ein relativ geringes Elterngeld bekommen. 67 bzw. 65% vom Einkommen hört sich zunächst nach viel an, wenn das Einkommen vorher aber gering war, ist es letztlich auch wieder sehr, sehr wenig, so dass die Frauen die Auszeiten, die dadurch möglich gemacht werden sollen, gar nicht wahrnehmen können. Und die letzte Kindergelderhöhung haben Hartz-IV-Beziehende gleich gar nicht bekommen, die wurde verrechnet mit dem Hartz-IV-Satz.
Unsere Unzufriedenheit bezieht sich darauf, dass sich die Frauen- und Familienpolitik zwar modernisiert hat, aber eher für höhere Einkommensschichten und nach einem Leitbild, das lautet: Wir wollen für die hochqualifizierten Frauen Politik machen. Das ist schon viel wert, aber die anderen Frauen sind damit draußen. Das ist nichts, womit wir aus feministischer Perspektive zufrieden sein können.
Diese Segnungen der Politik sollen also nicht nur Besserverdienenden, sondern allen zugute kommen?
Ja. Aber das ist es nicht nur. Viele Frauen, und auch Männer, haben das Problem, dass sie ältere Angehörige pflegen müssen. Wie können sie das leisten? Wenn sie in einem Betrieb mit 15 Beschäftigten und mehr arbeiten, können sie zeitweise eine Auszeit dafür nehmen. Aber was ist, wenn das Kontingent an Auszeit aufgebraucht ist, oder von vornherein nicht zugänglich war? Dann haben wir ein Betreuungsproblem, was oftmals dazu führt, dass Frauen aus ihrem Beruf ganz aussteigen – denn es ist nach wie vor so, dass vorwiegend Frauen die Pflege übernehmen.
Das ist ein ungelöster Sorgekonflikt: Wie gehen wir mit unseren Eltern oder anderen Angehörigen um? Selbst wenn wir ein Jahr bezahlte Elternzeit haben plus zwei Jahre unbezahlte Elternzeit, fehlen auf der Seite des Berufs immer noch die Strukturen, die sie ermöglichen – weil die Arbeitsverträge befristet sind, weil man in einem Betrieb oder einem Kontext arbeitet, wo Auszeiten nicht erwünscht sind, und, und, und. Die Politik hat schon einiges getan, aber zum Teil stimmt das nicht überein mit den Erwerbs- und Arbeitsmarktrealitäten von Frauen und auch von vielen Männern.
Ich verstehe Ihren Aufruf richtig dahingehend, dass für Sie nicht an oberster Stelle die Forderung steht, den Bereich der Betreuung und Sorge in öffentliche Institutionen auszulagern? Sie lassen die Möglichkeit offen, dass Menschen diese Sorgearbeit auch privat verrichten, doch soll sie Anspruchsrechte gegenüber dem Staat und den Unternehmen begründen. Wie stelle ich mir diese Anspruchsrechte vor? Soll private Sorgearbeit vom Staat bezahlt werden?
Wir hatten mal das schöne Modell der Altersteilzeit. Das war staatlich subventioniert und ermöglichte einen vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Da wurde das Recht der Beschäftigten auf vorzeitige Rente akzeptiert. Warum gibt es so etwas nicht in der Mitte des Lebens, wo sich für viele Beschäftigte die Probleme kumulieren: weil sie kleine Kinder haben, weil sie oftmals schon kranke Angehörige zu pflegen haben – und zugleich beruflich am meisten von ihnen verlangt wird? Warum subventioniert man nicht Familienteilzeit? Wir haben jetzt kein konkretes Modell dafür entwickelt, aber dafür gibt es Entwürfe. Der 7.Familienbericht hat sie selbst thematisiert, da wird das Optionszeiten genannt. Solch ein Ansatz erfordert allerdings ein grundsätzliches Umdenken.
Die früher unter Feministinnen verbreitete Kritik an den Strukturen der Kleinfamilie spielt für Sie keine große Rolle mehr?
In welchen familiären oder freundschaftlichen Zusammenhängen die Menschen leben, ist für uns tatsächlich zweitrangig. Uns geht es mehr darum, dass sie die Möglichkeit haben, selbst entscheiden zu können, wie sie leben wollen. Eine Debatte darüber würde wahrscheinlich auch dazu beitragen, patriarchale Strukturen in Kleinfamilien, aber auch in der Arbeitswelt zu überwinden. Uns geht es im «alten» feministischen Sinn darum, Geschlechterhierachien und Geschlechtervorurteile abzubauen und zugleich Gleichstellung und Anerkennung ins Zentrum zu stellen. Dies kann aber nur geschehen, wenn die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Rechte aller Menschen in der Gesellschaft gewährleistet sind.
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