Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2013

In dieser Rubrik nehmen GERD BOSBACH und DANIEL KREUTZ monatlich Falschbehauptungen aufs Korn, die nur deshalb für wahr gehalten werden, weil sie ständig kolportiert, aber kaum hinterfragt werden.

Die Behauptung

«2.849.000 Arbeitslose im September 2013.» Das meldete die Bundesagentur für Arbeit (BA) am 1.Oktober. BA-Vorstand Heinrich Alt kommentierte: «Insgesamt zeigt sich der deutsche Arbeitsmarkt in einer guten Grundverfassung.»

2,85 Millionen Erwerbslose sind viel – zu viel. Aber doch weit entfernt von den Jahren 1997 bis 2006, als meist deutlich über 4 Millionen Erwerbslose gezählt wurden. Den deutschen Michel beschleicht das wohlige Gefühl, es sei wohl doch was dran gewesen an Agenda 2010 und Hartz IV, vielleicht gar auch an der Kanzlerin Spruch über «die erfolgreichste Regierung seit der Wiedervereinigung».

 

 

 

 

 

 

Die Tricks

Die 2.849.000 Arbeitslosen wurden korrekt ermittelt, nämlich nach den geltenden gesetzlichen Kriterien der deutschen Arbeitslosenstatistik. Die haben allerdings zwischen 1986 und 2009 achtzehn Änderungen erfahren. Nicht ganz zufällig ließen sechzehn davon die statistisch erfasste Erwerbslosigkeit sinken. Recht zahlreich sind mittlerweile die Umstände, unter denen mensch zwar erwerbslos ist, aber dennoch nicht als arbeitslos gezählt wird.

Da werden Asylsuchende seit 1989 nicht mehr mitgezählt, weil sie Kraft gesetzlichen Verbots gar nicht arbeiten dürfen. Das mag unter Gesichtspunkten amtlicher Statistik vielleicht noch plausibel erscheinen, wenngleich ihre Erwerbslosigkeit eine erzwungene ist und das elende Asylbewerberleistungsgesetz sie zu Freiwild macht für kriminelle Ausbeuter.

Nach willkürlicher Statistikbereinigung riecht es schon, wenn Arbeitslose dann nicht mehr als solche gelten und gezählt werden, wenn die Arbeitsverwaltung sie gerade entweder durch irgendwelche «Maßnahmen» schleust, in entrechtete «Ein-Euro-Jobs» oder in «Bürgerarbeit» steckt (seit 2004, Rot-Grün) oder sie an «Dritte» – etwa private Vermittler – weiterreicht (seit 2009, Große Koalition). Oder wenn sie schlicht mal vorübergehend krank sind. Migranten verlieren den Arbeitslosenstatus auch, wenn sie an einem «Integrationskurs» teilnehmen.

Allerdings veröffentlicht die BA in der «Unterbeschäftigungsstatistik» auch noch die Zahlen der nicht mehr Gezählten. In die Schlagzeilen schaffen es diese Daten aber nie. Demnach wären den 2,85 Millionen registrierten Arbeitslosen im September weitere 944.384 Personen hinzuzufügen (ohne Kurzarbeit). Eine knappe Million rauf oder runter macht im öffentlichen Eindruck schon einen Unterschied.

 

Andere Indikatoren

Der Unterschied zur amtlichen «Arbeitslosenzahl» wird noch erheblich krasser, wenn man auf die Zahl der Menschen schaut, die Arbeitslosengeld I oder II bekommen: Das waren im September 5,122 Millionen! Das erinnert dann doch stark an frühere Spitzenwerte. Ja, da sind auch die AufstockerInnen mit dabei, vor allem die Mini-Jobberinnen mit mehr als 15 Wochenstunden. Überschreitet der Job diese Stundenzahl – bis 1998 waren es noch 18 Stunden –, gilt man als «beschäftigt». Bloß: Was sind minijobbende Aufstocker anderes als Erwerbslose, die mit dem Erwerbstätigen-Freibetrag ihr zu karges ALG I aufbessern – und beim Zahlbetrag des ALG II den Staat entlasten?

Die «Unterbeschäftigungsstatistik» der Bundesagentur für Arbeit erfasst auch nicht die stille Reserve derer, die zwar erwerbslos sind, sich aber – oft unter Verzicht auf Leistungsansprüche – nicht arbeitslos melden. Ebensowenig erfasst sie Beschäftigte, die sich «mehr Arbeit» wünschen – etwa statt Minijobs oder Teilzeit eine Vollzeitstelle.

Das Statistische Bundesamt errechnete für das Jahr 2012 geschätzte 562.000 Menschen in der Stillen Reserve (die Bundesagentur für Arbeit kommt hier auf 743.000) und 3,3 Millionen unfreiwillig «unterbeschäftigter» Arbeitnehmer. Es kommt damit auf ein «ungenutztes Arbeitskräftepotenzial» von 6,7 Millionen Menschen. Wünsche nach «weniger Arbeit» sind dabei gegengerechnet. (Diese Zahlen wurden ebenfalls im September 2013 veröffentlicht.)

 

Der Kommentar

6,7 Millionen ungenutzte Arbeitskräfte? Oder 5,1 Millionen, die Arbeitslosengeld beziehen? Oder rund 4,5 Millionen faktisch Arbeitslose (die registrierten Arbeitslosen plus die in Maßnahmen plus die Stille Reserve im engeren Sinne)? Oder 3,8 Millionen registrierte Arbeitslose (einschließlich derer, die vorübergehend in Maßnahmen stecken)? Oder doch «nur» 2,8 Millionen amtliche Arbeitslose?

Die Wahl der Zahl macht einen gewaltigen Unterschied in der öffentlichen Wirkung. Dabei hat die jeweils herrschende Politik nicht nur das Wahlrecht über die Zahl, sondern auch die Gestaltungsmacht über die Zählkriterien. Beides nutzt sie, um möglichst einen «Arbeitsmarkt in guter Verfassung» vorzuführen – wen wundert’s? Sie könnte die amtliche Arbeitslosigkeit sogar noch weiter senken, indem sie die Zahl der Teilnehmer an «Maßnahmen» oder Leistungen, die zum Verlust des «offiziellen» Arbeitslosenstatus führen, ausweitet.

Billig ist das allerdings nicht – sicher ein Grund, warum Spar-Regierungen eher darauf verzichten. Von der bei der Hartz-Reform beschworenen «ehrlichen» Arbeitslosenstatistik kann jedenfalls keine Rede sein. Ein gehörig’ Maß an Skepsis gegenüber den «amtlichen» Zahlen und ihren Botschaften bleibt ratsam. Auch wenn die Zeit für Gegenrecherchen fehlt.

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