Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2013
Neue Erzählungen aus dem Leben. Berlin: Verbrecher Verlag, 2013. 272 S., 26 Euro

von Dieter Braeg

In der Wexstraße in Berlin wird viel erzählt und auch an allen anderen ehemaligen Wohnorten von Barbara Kalender und Jörg Schröder war das so. Zu Kalender & Schröder gehört der März-Verlag, der viele von uns in den Nachkriegsjahren, als wir noch jung waren und angepasst werden sollten, mit seinen Büchern von einem ordentlichen Lebensweg abhielt.Im vergangenen Oktober feierte Jörg Schröder seinen 75.Geburtstag, kurz davor hat der feine Verbrecher-Verlag aus Berlin nun eine sehr gute Auswahl Erzähltes herausgegeben, das tut Jörg Schröder seit 1990 in bis heute 60 Folgen und auf 3300 Seiten. Barbara Kalender hört zu, und so wird Ge- und Erlebtes zur Erzählung.

Nicht selbstverständlich ist, dass das Buch in gelbem März-Verlag-Ganzleinen erscheint und ein rotes Lesebändchen die Freude am Lesen fördert. In Zeiten des «Pappdeckelbuchs» mit kostenreduzierender «Just-in-time-Ausstattung» eine Seltenheit!

Gewidmet ist das Buch, mit feinsten Illustrationen von F.W.Bernstein, Albrecht Götz von Olenhausen, der nicht nur ein Spezialist für Urheberrecht ist. O-Ton Schröder & Kalender aus ihrem Taz-Blog:

«Unser Freund Albrecht Götz von Olenhusen aus Freiburg i.Br., seines Zeichens Arbeits- und Medienrechtler, ist auch als Kritiker und Essayist hervorgetreten. Er verfasste Forschungsarbeiten unter anderem zu Walter Benjamin, Johannes Nohl, Siegfried Krakauer, Georg Lukács, Louis Blanc, Proudhon, Balzac und zum Psychoanalytiker Otto Gross, sowie dessen Vater, dem Strafrechtler Hans Gross. Das ist jener Hans Gross, der seinen Sohn Otto Gross entmündigen ließ. Bei Hans Gross studierte Franz Kafka in Prag, und Generationen von Germanisten, Philologen und Kulturwissenschaftlern forschen bis heute über die Einflüsse und Nachwirkungen von Hans Gross auf Kafkas Werke wie ‹Der Process› und ‹In der Strafkolonie›.»

Der Erzählungsbeginn «Es war einmal», den viele von uns aus Kindertagen kennen, spielt in diesem Buch keine Rolle. Hier entsteht, egal wie lange das Ereignis schon zurück liegt, eine gespürte und tatsächlich stattfindende Realität. Es liest sich alles ganz anders. Hier sei als Beispiel das Ende der Geschichte «Verwischte Verhältnisse» nach einem Zahnarztbesuch mit S-Bahn-Fahrt wiedergegeben:

«Der Zahnarzt lachte über die verschwundenen Schmerzen: ‹Das kennen wir. Nun machen Sie mal den Mund auf…› Auf der Heimfahrt schlenderte ein Obdachloser durch den Wagen. Er sah nicht aus wie die anderen U-Bahn-Bettler, eher wie Brad Pitt, nur jünger und mit schwarzem Haar. Mit seinen schwarzen Jeans-Klamotten hätte er perfekt auf eine Anzeige von G-Star Raw Denim gepasst. Aber der Mann war eben kein Modell, sondern durchsuchte die Ringbahn nach Leergut. Er entdeckte einen kleinen Zwölfer-Karton mit Schnapsflaschen, stellte sich damit an die Tür, schraubte ein Fläschchen nach dem anderen auf und schüttelte sich die Tropfen in den Rachen. Kurz vor dem nächsten Halt wandte er sich an mich und meinte gut gelaunt: ‹Man dreht die Dinger instinktiv imma wieda zu, obwohl se doch leer sind. Weeste, man dreht imma den Deckel wieder druff. Dit is’ doch komisch, wa? Und imma is’ noch wat drin!›»

90 brillante Erzähltexte erfreuen Leserin und Leser, damit sollte sparsam umgegangen werden. So schnell wird es nicht wieder ein Buch mit derart beeindruckender Erzählkunst geben. Ein wenig Trost bieten da nur die schon erwähnten 60 Folgen von Schröder erzählt, die seit 1990 von Barbara Kalender und Jörg Schröder veröffentlicht wurden und, so ist zu hoffen, noch recht lange weiter erscheinen werden.

Geschichten zu erzählen ist für Barbara Kalender und Jörg Schröder, sich an eigenes Leben zu erinnern. Ihr Interesse gilt den Menschen, die oft nicht in jene «Geschichtsinterpretationen» passen, die man heute in der verkommenen Medienwelt findet und per Einschaltquotenbenotung für wichtig erachtet. Lothar Baier, ein österreichischer Schriftsteller, der völlig vergessen ist («der sechste sinn») stellte fest: «Ein Freund ist, glaube ich, jemand, mit dem man eine Geschichte teilt.»

Kriemhilds Lache ist ein kleiner Schritt zu einer neuen Freundschaft, die man mit der hohen Erzählkunst des Duos Barbara Kalender und Jörg Schröder beginnen könnte.

Könnte? Nein! Muss!

 

 

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