Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2013
Tanker oder Schnellboot im DGB

von J.H.Wassermann

Der 5.ordentliche Gewerkschaftstag der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie vom 14. bis 18.Oktober in Hannover ging in großer Einmütigkeit und ohne Überraschungen zu Ende. Dennoch ist die IGBCE eine Gewerkschaft im Umbruch.Eine Woche lang fassten 400 gewählte Delegierte aus 44 Bezirken im Auftrag von rund 665000 Mitgliedern Beschlüsse über die künftige Ausrichtung ihrer Organisation und wählten einen neuen Vorstand.

Die nach IG Metall und Ver.di drittgrößte Gewerkschaft im DGB zog auch deutsche Politprominenz an. Am 16.Oktober sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel zu den rund 1000 Delegierten und Gästen. Der Parteivorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, kam zwei Tage später zu Wort und unterschrieb bei dieser Gelegenheit gleich ein Eintrittsformular für die IGBCE.

Merkel nannte die Rettung des Euro und den Erhalt der Europäischen Union, die Energiewende, die Neugestaltung des Länderfinanzausgleichs und die Zukunft der Sozialversicherungssysteme als zentrale Herausforderungen für die nächste Bundesregierung. Gabriel war es wichtig, die Nähe der Postionen von SPD und Gewerkschaft hervorzuheben: Da ging es um eine Energiewende, die selbstverständlich nicht ohne (Braun-)Kohleverstromung auskommen könne – was die Funktionäre der Bergbaugewerkschaft mit großem Beifall aufnahmen. Des weiteren nannte er Anpassung und Sicherung der Sozialstaatsfunktionen, Investitionen in Infrastruktur und Bildung zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschlands und eine Neuordnung auf dem Arbeitsmarkt durch Korrekturen bei Leiharbeit und Werksverträgen und und den Ausbau der Mitbestimmung von Betriebsräten hierbei sowie einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.

Zur Eröffnungsveranstaltung war der Präsident des Europaparlaments, der Sozialdemokrat Martin Schulz eingeladen worden. Ganz der ideelle Gesamteuropäer warnte er vor dem Verlust der Bindungskraft der europäischen Idee, wenn immer mehr Menschen in den sog. Krisenstaaten Südeuropas durch Arbeitslosigkeit und Sparpolitik in die Hoffnungslosigkeit getrieben würden und gleichzeitig antieuropäische Strömungen in Form rechtspopulistischer und nationalistischer Strömungen zunähmen. Schulz zeigte kein Verständnis für eine einseitig  auf «Haushaltskonsolidierung» ausgerichtete Sparpolitik, so kämen die Krisenstaaten nicht wieder auf die Füße. Natürlich müsse Konsolidierung sein – schon wegen der Generationengerechtigkeit dürften wir unseren Kindern und Enkelkindern nicht mehr Schulden hinterlassen, als wir vorgefunden hätten. Dass die Milliarden des «Rettungsschirms» für Griechenland zu über 80% direkt auf die Konten der Gläubigerbanken und der Staatsanleihen haltenden Finanzspekulanten in Westeuropa und Nordamerika geflossen sind – und dass dies die Hauptursache für das Elend ist und erst nachgeordnet die jeweilige inländische Steuerhinterziehung ist, erwähnte er nicht. Da schimmerte denn doch eine andere Art von Populismus durch, die mit der moralischen Keule der verschuldeten Enkelkinder den Abbau des Sozialstaats hier und die Verelendung in Südeuropa zu rechtfertigen sucht.

Standortsicherung

Die IGBCE hatte als Kongreßmotto gewählt: «Zeit, weiter zu denken.» Dass sie dazu Europa als Schwerpunkt wählte, hat sicher mit der sozialdemokratischen Sorge um den «Standort Deutschland» zu tun. Unter diesem Motto fördern die beiden großen Industriegewerkschaften in Deutschland seit beinahe zwei Jahrzehnten die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in Deutschland gegenüber den europäischen Konkurrenten – durch Lohnzurückhaltung in den Tarifrunden und allerlei andere flankierende Maßnahmen für «ihre» Industrien.

Jetzt, wo die Konkurrenz zum Teil schon fast am Boden liegt, wie etwa die französischen und italienischen Autohersteller, geht die Angst um, dass der wichtigste Exportmarkt für deutsche Industrieprodukte, nämlich die EU, bald mangels Kaufkraft kein Absatzmarkt mehr ist. Die Mitglieder der IGBCE arbeiten vielfach in exportintensiven Branchen, und im Rahmen der «besonderen Sozialpartnerschaft», auf die die IGBCE sehr stolz ist, kümmert sich die Gewerkschaft wie selbstverständlich um die Exportmöglichkeiten «ihrer» Industrien.

Politische Differenzierungen oder abweichende Auffassungen in Bezug auf einzelne gewerkschaftliche Handlungsfelder gab es nicht. Die Wahlen zum geschäftsführenden Hauptvorstand erbrachten Ergebnisse, die von den Kollegen aus den ostdeutschen Bundesländern mit dem Kommentar begleitet wurden: «Bei uns hatten sie damals auch mal 110% der Stimmen.» Der alte und neue Vorsitzende Michael Vassiliadis erhielt 99%. Gegenkandidaten gab es für keine Position.

Junge und Frauen nach vorn

Trotz der scheinbaren Konstanz und Kontinuität auf allen Führungsebenen, trotz der mangelnden Diskussion um grundlegende Fragen der gewerkschaftlichen Ausrichtung ist die IGBCE heute eine Gewerkschaft im Umbruch. Die Riege der stramm rechtssozialdemokratischen betrieblichen und hauptamtlichen Funktionäre ist auf natürlichem Wege verschwunden. Mehr als die Hälfte der Delegierten wurde zum ersten Mal gewählt, fast 30% aller Delegierten sind mittlerweile weiblich, das Durchschnittsalter lag bei 49 Jahren. Diese Generation ist unberührt von den Debatten um Sozialpartnerschaft versus gewerkschaftliche Gegenmacht aus früheren Jahrzehnten. Die Kolleginnen und Kollegen kommen in der Regel aus der Betriebsratsarbeit mit der damit einhergehenden Beschränkung der Sichtweise auf das, was in «meinem» Betrieb wichtig, umsetzbar, realistisch scheint.  Der «Service», den der hauptamtliche Apparat diesen Aktiven zur Verfügung stellt, wird im allgemeinen gut und gerne und zustimmend angenommen.

Die gesellschaftspolitische Dimension gewerkschaftlicher Politik wird alle vier Jahre auf dem Kongress diskutiert, spielt aber in der Tagesarbeit und auch in der Tarifpolitik und der Bildungsarbeit nur eine randständige Rolle. Und wenn es keine Diskussionen gibt, gibt es natürlich auch keine personellen Differenzierungen, die auf solchen Debatten beruhen. Langjährige Kongressteilnehmer sahen eine gewisse Zunahme organisierter Einflussnahme aus dem Frauen- und Jugendbereich. Inhaltlich gehen aber beide Gruppen im Moment nicht über ein energischeres Vertreten ihrer spezifischen Interessenlagen hinaus.

Wer die IGBCE, ihre Führung und ihre Ausrichtung kritisieren will, wird bei den Mitgliedern und Funktionären kaum Ansatzpunkte finden. Kritik an verschenkten und verpassten Möglichkeiten wird bei der Generation der selbsterklärten «Pragmatiker» und «Realisten» erst dann auf fruchtbaren Boden fallen, wenn sie sich «blutige Nasen» holen und gezwungen sind, sich mit der Frage zu beschäftigen: «Was hätten wir anders machen sollen?»

Energiewende und weitere Themen

Die Diskussion um die «Energiewende» war noch am lebhaftesten. Das Ende der Steinkohleförderung haben die Kumpels zähneknirschend akzeptiert. Die IGBCE ist auch dafür, dass Atomkraftwerke abgeschaltet werden bzw. abgeschaltet bleiben, und dass die regenerativen Energien immer bedeutender werden. Gleichzeitig fordert sie, dass die Braunkohle als «Brückentechnologie» noch viele Jahre der wichtigste inländische Energieträger bleibt. Das bedeutet den Erhalt bestehender und die Erschließung neuer Braunkohleabbaureviere und neue Kohlekraftwerke. Auch an den Ausnahmeregelungen für energieintensive Betriebe und Industrien beim EEG darf nicht gerüttelt werden, sonst – ja sonst sind die Arbeitsplätze in Gefahr. Da war auch Energiekommissar Oettinger von der Europäischen Kommission ganz der Liebling der Kongressteilnehmer.

Die IGBCE fordert wirkliche Mitbestimmung, nicht nur Informationsrechte, für die Betriebsräte bei Leiharbeit und Werksverträgen. Nach Jahren der Zurückhaltung beim gesetzlichen Mindestlohn ist die IGBCE inzwischen auf die Linie anderer DGB-Gewerkschaften eingeschwenkt. Allerdings geht es ihr nicht um die Vereinbarung von Mindeststandards als eine  gesellschaftliche Perspektive, sondern um eine ergänzende Maßnahmen und nur dort, wo Gewerkschaften keine Regelungsmacht haben. Die Tarifautonomie soll das bestimmende Element bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen bleiben.

Einen großen Stellenwert räumt die IGBCE der besonderen Belastung älterer Arbeitnehmer und vor allem der Schichtarbeiter ein. Gegen die zunehmenden Belastungen im Erwerbsleben fordert sie eine «neue Begrenzung der Arbeit», was sie unter dem Slogan «Gute Arbeit» bündelt:

– «gute Arbeit» ist Arbeit nach Tarifvertrag;

– dessen Umsetzung und Einhaltung von IGBCE-Betriebsräten kontrolliert wird;

– gute Arbeit ist unbefristet und weder Leiharbeit noch Werkvertrag;

– gute Arbeit folgt nach qualifizierter betrieblicher Ausbildung;

– gute Arbeit kennt lebensphasenorientierte Arbeitszeiten, die die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie fördern;

– gute Arbeit gibt es in wettbewerbsfähigen und zukunftsorientierten Industriebranchen.

Neue Gefilde

Wie alle Gewerkschaften hatte die IGBCE in den letzten Jahren unter massivem Mitgliederverlust zu leiden. Die Trendwende scheint zwar erreicht, aber die Konsolidierung erfordert erhebliche Anstrengungen. Deshalb will die Gewerkschaft in bisher nicht organisierte Bereiche vorstoßen. Dabei tun sich ihr unerwartete Hindernisse auf.

Anders als in den Großbetrieben der Energiewirtschaft, der Chemie und der Pharmaindustrie, wo sozusagen eine «Ultrasozialpartnerschaft» existiert, gibt es in den Klein- und Mittelbetrieben der Kunststoffindustrie u.a. Betriebe, in denen Unternehmer eine Sozialpartnerschaft ausdrücklich ablehnen, die Bildung von Betriebsräten bekämpfen und Tarifverträge fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

Wie in einem Brennglas hat die IGBCE das beim Verpackungshersteller Neupack in Hamburg erfahren müssen. Er bescherte ihr den längsten Arbeitskampf ihrer Geschichte – zwei Monate Vollstreik und mehr als vier Monate «Flexistreik» – und dennoch am Ende nicht den Tarifvertrag, der eigentlich erkämpft werden sollte. Der Vorstand hat zugesagt, hier Lehren zu ziehen.

 

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