von Manfred Dietenberger
Trotz Agenda 2010 und Niedriglöhnen sind die Gewerkschaften auf Kuschelkurs mit den möglichen künftigen Koalitionären und zum «historischen Wahlsieg» von «Deutschlands Margaret Thatcher» gratulierten nicht nur die internationale Presse, sondern auch die deutschen Gewerkschaften. Gewählt ist schon seit Wochen und der Wählerwille hat entschieden. Ist das so? Gilt nicht auch: Nix ist fix? Diese Erkenntnis scheint nur einseitig vorhanden zu sein.
Unternehmerverbände, Großkonzerne und alle anderen nur am Profit Interessierten nehmen ihre Kapitalinteressen vor, während und nach der Wahl aktiv und auch lautstark in der Öffentlichkeit wahr. Ein Beispiel. Die vor Jahren vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall gegründete und von Unternehmerverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanzierte einflussreiche Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) macht mit großem Aufwand Druck auf die Koalitionsgespräche. Rechtzeitig zu den ersten Sondierungsgesprächen zwischen Union, SPD und Grünen ließ sie bundesweit 117 Großplakate kleben und Anzeigen in überregionalen Tageszeitungen schalten, in denen die potenziellen Regierungsparteien zu unternehmensfreundlichen Reformen aufgefordert wurden. Das INSM propagiert «mutige Reformen» und fordert von der künftigen Koalitionsregierung die Umsetzung eines «marktwirtschaftlichen Reformpakets», will heißen: die Absenkung der Staatsquote, das Festhalten an der Rente mit 67 und eine «Fortschreibung» der Agendareformen der rot-grünen Bundesregierung.
Und was tun die Gewerkschaften? Wenn sie doch wenigstens nichts täten. Aber leider sind sie fleißig zugange. Schon vor der Wahl fand DGB-Chef Michael Sommer eine Große Koalition einen großen «politischen Gewinn». Zwischen 2005 und 2009 habe sie in der schwersten Wirtschaftskrise nach dem Krieg gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften «ausgesprochen gute Arbeit geleistet».
Kaum waren die Wahlzettel ausgezählt, zeigten die Vorsitzenden der Gewerkschaften ihre Sympathie für eine Große Koalition. Schon am Tag nach der Wahl stellte Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) öffentlich fest, gerade in der Industrie- und Energiepolitik gebe es «die größten programmatischen Schnittmengen mit Positionen der IG BCE bei Union und SPD»: «Eine schwarz-grüne Koalition wäre aus Gewerkschaftssicht ohne erkennbare Konturen, aber mit erwartbaren Konflikten befrachtet», lies er das Handelsblatt wissen. Ebenso Berthold Huber, der Vorsitzende der IG Metall: Jetzt gehe es darum, «diejenigen Themen stark zu machen, für die die SPD und auch die Union von sehr vielen Menschen gewählt worden sind» – als da sind: eine Neuordnung des Arbeitsmarkts, die Umsetzung der Energiewende und eine Verbesserung der Infrastruktur. Dafür sei eine große Koalition geradezu prädestiniert.
Die Woche nach der Wahl war noch nicht um, da telefonierten donnerstags, laut FAZ, die acht Gewerkschaftsvorsitzenden miteinander. In einer mehr als einstündigen Telefonkonferenz äußerten sie einhellig die Erwartung, dass es zu einer großen Koalition kommen werde. Robert Feiger, der gerade neugewählte Vorsitzende der IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), kommentierte: «Es gibt nicht nur eine Partei-, es gibt auch eine Demokratiedisziplin.» Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung kämen nicht in Frage. Notwendig sei eine handlungsfähige und tatkräftige Regierung. Seinen Vorgänger Klaus Wiesehügel empfahl er gleich als Arbeitsminister. Inzwischen haben die Gewerkschaften zusammen mit der Wirtschaft in einem gemeinsamen Appell an Union und SPD vor einem Scheitern der Energiewende gewarnt. Die gesetzlichen Vorgaben und der politische Streit um Zuständigkeiten hätten zu einem enormen Investitionsstau geführt. «Wird dieser Investitionsstau nicht schnell aufgelöst, dann scheitert die Energiewende und der Industriestandort Deutschland nimmt Schaden», heißt es darin.
Es hätte auch anders laufen können. Für eine Rot-rot-grüne Koalition hätte es eine breite außerparlamentarische Unterstützung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen geben müssen, um dem wirklichen Wählerwillen Geltung zu verschaffen. Denn gewählt wurde ja nicht Mutti, sondern Parteien und ihre Programme. Der Mindestlohn wäre ein möglicher Probelauf für Rot-Rot-Grün gewesen. Blödsinn? «Es ist eine ausgezeichnete Idee, jetzt die Gelegenheit zu nutzen, den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn auf den Weg zu bringen und mit 8,50 Euro einzusteigen, bevor in Koalitionsverhandlungen bindende Festlegungen getroffen werden», war wenigstens kurzzeitig die Meinung von Ver.di-Chef Frank Bsirske. Und der Tagesspiegel schrieb am 26.9.: «Das Wahlversprechen verbindet SPD, Linke und Grüne. Gemeinsam könnten sie es einlösen. Von der Wiege – oder Kinderkrippe auf Staatskosten – über die Bildung über ‹gute› Arbeit für einen flächendeckenden Mindestlohn und eine Krankenversorgung aus einer kollektiven ‹Bürgerversicherung› bis hin zur Mindestrente hätten Sozialdemokraten, Linke und Grüne Punkt für Punkt bloß über das ‹Und wieviel wollt ihr?› miteinander zu verhandeln, nicht aber über ein ‹Ob überhaupt›. Und ich möchte ergänzen, ja sogar Merkel könnte seit Wochen abgewählt sein...»
Ich mach hier Schluss, denn ich hör’ mich selber «Hätte, hätte – Fahrradkette» rufen. Stattdessen ist jetzt zu befürchten, dass wieder zusammen kommt, was informell eh längst zusammengehört. Mit der Großen Koalition werden die vielen Agenda-2010-Anhänger in der SPD sich mit den Agenda-2010-Anhängern in der CDU verbrüdern und gemeinsam eine Agenda 2020 aushecken, damit es dem Merkel-Land künftig noch besser geht.
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