von Birger Scholz
Anfang des Jahres schlug der Deutsche Städtetag in einem Positionspapier zur Zuwanderung die Alarmglocken. Aus kommunaler Sicht wurde der Handlungsbedarf beschrieben, der sich aus der Einwanderung von bulgarischen und rumänischen Staatsbürgern – vielfach Roma – ohne Sprachkenntnisse, soziale Absicherung und beruflicher Perspektive ergibt. Es gebe Obdachlosigkeit, Bettelei und Verwahrlosung. Das kommunale Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystem sei überfordert. Das Papier plädiert nicht für Abschottung, sondern fordert in erster Linie Unterstützung von Land und Bund bei der Bewältigung der Integration. Ein gutes Papier und eine richtige Forderung, denn in der Tat ballt sich die Zuwanderung in wenigen, überschuldeten Städten, wie beispielsweise in Duisburg oder Offenbach.Statt jedoch zu helfen, schwadronierte CDU-Innenminister Friedrich schon im Bundestagswahlkampf über vermeintliche Sozialbetrüger und drohte mit Ausweisung. Ohne Frage instinktsicher, denn nach einer repräsentativen Emnid-Umfrage plädierten zwei Drittel der Befragten für eine Begrenzung der Zuwanderung innerhalb der EU. Ich vermute, dass der Anteil bei Wählern der LINKEN noch höher sein dürfte.
Die Debatte ist keineswegs vorbei. Erstens genießen Personen aus Bulgarien und Rumänien ab 2014 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, und zweitens urteilte kürzlich das Landessozialgericht NRW, dass aus Gründen der Nichtdiskriminierung von EU-Staatsbürgern einer rumänischen Familie, die bisher vom Verkauf von Obdachlosenzeitungen und vom Kindergeld lebte, Grundsicherungsleistungen zusteht. Der Boulevard tobte und malte die massenhafte Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme an die Wand. Hans-Werner Sinn forderte die Einführung des «Heimatlandprinzips». Bulgaren in Deutschland hätten demnach nur noch Anspruch auf die Grundsicherung ihres Heimatlands. Bei einer vierköpfigen Familie wären dies 104 Euro. Thilo Sarrazin forderte «ein wirksames Grenzregime» und ebenfalls das Heimatlandprinzip, zumindest für die ersten zehn Jahre.
Klarer und offener kann man die Abschaffung der Grundsicherung als universelles Recht aller in Deutschland Wohnenden nicht fordern. Im Ergebnis würden Migranten in die Schwarzarbeit gedrängt und die Slumbildung gefördert. Krankenversicherungsschutz gäbe es auch nicht. Kurzum: Soziale Apartheid wäre die Antwort auf die neuen Flüchtlingsströme im Austeritäts-Europa.
Klar ist, dass die Zuwanderung deutlich steigen wird, aber nicht allein aus Rumänien und Bulgarien, sondern aus ganz Süd- und Osteuropa. Mit der großen Krise, die Südeuropa erfasst hat, drehen sich auch die Migrationsströme, die bisher aus Osteuropa nach Italien und Spanien sowie Großbritannien und Irland flossen. Der Nettowanderungssaldo lag 2012 in Deutschland mit 369000 Personen deutlich höher als im Durchschnitt der vergangenen Dekade (116000). 72000 kamen im Saldo aus den südeuropäischen Krisenstaaten Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, 190000 aus den zehn osteuropäischen EU-Staaten. Alle Prognosen gehen von einem weiteren Anstieg aus.
Doch welche Migration steht Deutschland bevor? Arbeitsmigration oder Armutsmigration? Um diese Frage zu klären, können die Einwanderer aus den acht osteuropäischen Beitrittsstaaten von 2004 (also ohne Bulgarien und Rumänien) als Kontrollgruppe genutzt werden. Schauen wir uns an, wie viele von ihnen Grundsicherungsleistungen beziehen. Im Jahr 2012 lag die Quote mit 10,4% über dem Niveau der Gesamtbevölkerung (7,4%), aber deutlich unter dem Niveau der gesamten Ausländer (15,9%). Bei bisher in Deutschland lebenden Bulgaren und Rumänen liegt der Anteil bei 9,3%, wobei die Unterschiede zwischen armen und reichen Städten extrem sind. In Berlin liegt die Quote bei Bulgaren bei 20,9%, in Stuttgart bei 5,4%.
Alles kein Problem? Bekanntlich benötigt Deutschland aus demografischen Gründen Arbeitsmigration. Diverse Studien sehen überwiegend positive Effekte für den Arbeitsmarkt und den Staatshaushalt. Aber wo es Gewinner gibt, da gibt es meist auch Verlierer. In Großbritannien waren es die Geringqualifizierten, deren Löhne durch das zusätzliche Arbeitsangebot nur noch unterdurchschnittlich stiegen. Wer aus der oberen Mittelschicht hingegen private Dienstleistungen konsumierte, profitierte stark. Aus Sicht des Kapitals und der Eurokraten ist das alles kein Problem. Die massenhafte Wanderung von Arbeitskräften ist im Sinne der Theorie optimaler Währungsräume gewollt, denn wird eine EU-Teilregion von einem externen Schock getroffen (oder besser von der Austeritätspolitik der Bundeskanzlerin), dann wandern die Arbeitslosen eben in prosperierende Regionen. Disparitäten im Währungsraum können so ausgeglichen werden. Die Gefahr der Einwanderung in das Sozialsystem kommt in diesen Modellen hingegen nicht vor. Ebenso wenig steht eine verpflichtende Einführung von existenzsichernden Grundsicherungsmodellen in allen EU-Staaten auf der Agenda.
Letztlich lässt sich das bevorstehende Ausmaß der Migration genauso wenig vorhersagen wie die Konjunkturentwicklung der kommenden Jahre. Vieles spricht dafür, dass die Einwanderung in die Sicherungssysteme die Ausnahme bleiben wird. Vieles spricht aber auch dafür, dass Roma und Sinti eine Ausnahme sein könnten, zu elend ist ihre Lebenssituation in den Herkunftsländern. Für den Gesamtstaat ist das ökonomisch problemlos verkraftbar und eine Mindestkompensation für den Genozid der Nazis. Die politische Linke sollte dies offen benennen und zugleich eine angemessene Finanzausstattung für die betroffenen Kommunen fordern. Ein Leugnen der Probleme vor Ort nützt nur der Reaktion.
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