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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2014
Das geplante Transatlantische Freihandelsabkommen kostet Arbeitsplätze und stellt die Koalitionsfreiheit in Frage

vom Netzwerk Seattle to Brussels

Den Weltmarkt nennt Karl Marx in den Grundrissen das «Übergreifen der bürgerlichen Gesellschaft über den Staat». Mit dem Transatlantischen Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) planen die beiden Seiten genau dieses: ein Abkommen, das die jeweiligen Kapitale diesseits und jenseits des Atlantiks von staatlichen Fesseln befreit. Anfang Juli wurde die erste Verhandlungsrunde zu dieser größten Freihandelszone der Welt eingeläutet, 2015 soll es in Kraft treten.

Schon jetzt ist der transatlantische Handel sehr bedeutend: Jeden Tag werden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,8 Mrd. Dollar über den Großen Teich geliefert, das sind 30% des gesamten Welthandels. Es könnte jedoch noch viel mehr sein, behaupten Wirtschaftslobbyisten – von der US-Handelskammer bis zum mächtigen EU-Wirtschaftsverband Business Europe –, wenn erst einmal die Fülle unterschiedlicher Vorschriften und die vielen Auflagen beseitigt seien, die Bürger vor Ausspähung, Betrug, Gesundheitsschäden u.ä. schützen. Viele EU-Länder etwa behalten sich vor, staatliche Aufträge an Bedingungen zu knüpfen, etwa an die Tarifbindung der Löhne. Und dann betreiben sie auch noch allgemeine Daseinsvorsorge – von der Bildung bis zur Gesundheitsversorgung – in staatlicher bzw. nichtprofitorientierter Regie, anstatt sie dem Markt zu überlassen. Dies soll das TTIP ändern und damit einen «Konjunkturschwung in Milliardenhöhe» bringen.

Was von diesen Versprechen zu halten ist, hat das Netzwerk Seattle to Brussels genauer unter die Lupe genommen und im Oktober letzten Jahres eine Broschüre über die sozioökonomischen und ökologischen Konsequenzen des geplanten Abkommens herausgebracht, der sie den schönen Titel A Brave New Transatlantic Partnership gegeben hat. Der Titel erinnert nicht umsonst an Aldous Huxleys antiutopischen Roman Brave New World.

Nadja Rakowitz hat das erste Kapitel der Broschüre übersetzt, in dem es um die «Reform» der Arbeitsrechte geht. (Von der SoZ-Redaktion leicht gekürzt.)

Gespalten, ungeschützt und ohne Streikrecht

In den Mainstreammedien wurde viel Tinte vergossen, um die Rolle zu preisen, die das Transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA bei der Lösung der aktuellen Krise der beiden Ökonomien spielen könnte.

In seiner Ansprache zur Lage der Nation am 13.2.2013 erklärte US-Präsident Barack Obama, dass «wir Gespräche aufnehmen werden über eine umfassende Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft mit der Europäischen Union, denn freier und fairer Handel über den Atlantik unterstützt Millionen von gutbezahlten amerikanischen Jobs».

Die Behauptung fand ein Echo beim EU-Kommissar für Handel, Karel De Gucht: «Für Europa sollten die Einkommenseffekte des Abkommens, das wir gerade zu erreichen versuchen, zwischen 0,5 und 1% des BIP liegen, was hunderttausenden von Jobs entspricht … Es bringt neue Kunden und billigere Bauteile für unsere Produzenten und mehr Wettbewerb, der alle unsere Unternehmen effizienter machen wird.»

Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt jedoch, dass diese Schätzungen reichlich übertrieben sind. Das Arbeitsplatz- und Wohlfahrtsversprechen des TTIP wird vermutlich niemals wahr werden, beim Niederreißen von «Handelsbarrieren» über den Atlantik hinweg könnten jedoch Arbeitnehmerrechte und soziale Leistungen ernsthaft ausgehöhlt werden.

Gestützt auf Berechnungen unternehmensfinanzierter Thinktanks behauptet die Europäische Kommission, das TTIP könne 2 Millionen Arbeitsplätze schaffen und den Handel zwischen der EU und den USA innerhalb von fünf Jahren um mehr als 120 Mrd. US-Dollar steigern. Das Centre for Economic Policy Research, das von den weltweit größten Finanzinstituten, die vom TTIP profitieren werden – darunter Deutsche Bank, BNP Paribas, Citigroup, Santander, Barclays, JP Morgan – bezahlt wird und seinen Sitz in London hat, behauptet, der transatlantische Handelsdeal werde der EU ökonomische Vorteile in Höhe von 119 Mrd. Euro im Jahr bringen.

Indes warnt Clive George, leitender Ökonom und Professor an der Universität Manchester, der bis vor kurzem viele Folgenabschätzungen von Handelsverhandlungen der Europäischen Kommission erstellte, solche Behauptungen mit großer Vorsicht zu behandeln: «Die ‹ökonomischen Modelle›, auf denen solche Schätzungen beruhen … werden von einigen der führenden Modellierer als ‹hochgradig spekulativ› beschrieben.» Viele der enthusiastischen Vorhersagen über die ökonomischen Vorteile des TTIP basieren auf einem erwarteten Wirtschaftswachstum von 0,5%, das selbst die Europäische Kommission als «optimistisch» beschreibt. Das Szenario, das die Folgenabschätzungen für das wahrscheinlichste halten, unterstellt hingegen ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von wenig mehr als 0,1%.

Die Abteilung für Folgenabschätzung des Europäischen Parlaments hat die Methodologie der Studie der EU-Kommission über das geplante transatlantische Handelsabkommen ebenfalls kritisiert: Ihr mangele es an «ausreichend qualitativen Informationen», die für den Leser notwendig seien, um zu verstehen, wie diese Ergebnisse erzielt worden seien.

Der Journalist Jens Berger meint dazu: «Was dort stellenweise unter dem Label ‹Ökonometrie› verbrochen wird, hat mit Wissenschaft ungefähr so viel zu tun wie eine Wettervorhersage aus den Innereien eines geschlachteten Chlorhuhns. Die Flucht in immer komplexer werdende mathematische Modelle ersetzt dabei die simple Logik und täuscht wissenschaftliche Erkenntnisse vor, die weder vorhanden noch wissenschaftlich sind. Mit dem ‹richtigen› Institut an der Hand kann man sich auf Basis solcher Modelle stets das gewünschte Ergebnis errechnen lassen.»

Und Clive George argumentiert, wer die möglichen Auswirkungen der neuen Freihandelsverhandlungen voraussagen wolle, tue gut daran, sich die Erfahrungen mit schon bestehenden Freihandelsabkommen genau anzuschauen. Nimmt man das NAFTA, das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Mexiko, als Indikator dafür, was das TTIP bringen kann, sollte man weder Reichtum noch neue Arbeitsplätze erwarten.

Zunächst kommt der Schock

Trotz der optimistischen Modellbastelei erkennt die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission an, dass «in den am meisten [von den Handelserleichterungen] betroffenen Bereichen zunächst ein Schock zu erwarten ist, der dort zu einer Restrukturierung führen wird». Zum Beispiel werden Bereiche wie die «Fleischproduktion, Düngemittel-, Bioethanol- und Zuckerproduktion» die «Wettbewerbsvorteile der US-Industrie gegenüber ihren europäischen Konkurrenten und deren negative Auswirkungen auf die EU-Industrie zu spüren bekommen».

Die Produktion im Elektromaschinenbau, im Fahrzeugbau und anderen Metallsektoren werde zurückgehen, ebenso die «in anderen Bereichen im primären Sektor» einschließlich «Holz- und Papierproduktion, Unternehmensdienstleistungen, Kommunikation und persönliche Dienstleistungen». Die Studie der Kommission schließt: «Es könnte zu anhaltenden und substanziellen Anpassungskosten kommen. Auch wenn Arbeit in die Sektoren gehen kann, in denen die Nachfrage steigt, wird es Sektoren geben, in denen Arbeitskräfte abgebaut werden, die nicht automatisch in den expandierenden Sektoren wieder eine Stelle finden werden, zumal die Qualifikationen der Beschäftigten möglicherweise nicht passen und Weiterbildungen notwendig sein werden.»

Um solche Auswirkungen abzuschwächen, müsste eine präventive Politik integraler Bestandteil des TTIP sein. Doch die Europäische Kommission hat weder in der Folgenabschätzung noch in ihrem Verhandlungsmandat die Notwendigkeit einer solchen Abschwächungspolitik als Bestandteil der Verhandlungen eingeklagt. Stattdessen geht sie davon aus, dass die Regierungen genügend Mehreinnahmen haben werden, um den Schaden, der durch das Abkommen entstehen wird, auszugleichen.

Es besteht das Risiko, dass bestimmte Regionen in der EU die ganze Last der sozialen Kosten dieses transatlantischen Projekts tragen müssen, was im Ergebnis eine noch größere Spaltung zwischen Europas reichen und armen Mitgliedern bedeuten könnte. Da die Interessen der Exporteure in den USA größtenteils auf diejenigen Sektoren in der europäischen Peripherie zielen, die eher defensive Interessen haben – wie zum Beispiel die Landwirtschaft – bedeutet die Öffnung der EU für die transatlantischen Marktkräfte geradezu eine Verschärfung der Spaltung zwischen den reicheren und ärmeren Mitgliedern der EU.

Abwärtsspirale für Arbeitsstandards

Allein schon die Harmonisierung der Regeln und Vorschriften zwischen den beiden transatlantischen Supermächten kann dazu führen, dass Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt werden. Die USA haben es kategorisch abgelehnt, einige der zentralen Arbeitsstandards und Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu unterzeichnen – darunter das ILO-Abkommen zur Koalitionsfreiheit und Tariffreiheit.

Inzwischen hat der Angriff, den die Europäische Kommission im Zusammenhang mit der Euro-Krise auf die Löhne der abhängig Beschäftigten gestartet hat, die EU schon ein Stückweit in Richtung eines «offenen und flexiblen Umgangs» mit den Arbeitsstandards bewegt. Das TTIP könnte deshalb schlicht dem Zweck dienen, europäische Arbeitnehmerrechte mehr und mehr an US-Standards anzugleichen, einschließlich der berüchtigten Anti-Gewerkschafts-Gesetzgebung, die missverständlich «Recht auf Arbeit» genannt wird [das «Right-to-work»-Gesetz in den Südstaaten der USA ist de jure und de facto ein Gesetz zur Verhinderung von Gewerkschaften].

In den USA wurde die Abwärtsspirale bei den Löhnen und bei den Gesundheits- und Sicherheitsstandards in Gang gesetzt, weil die Bundesstaaten in der Angst um Kapitalflucht miteinander konkurrieren. Wenn nun die Europäische Kommission argumentiert, die EU müsse ihre Arbeitnehmerrechte mit Blick auf eine «Reduktion des Risikos nachlassender US-Investitionen in Europa und ein Ausweichen in andere Teile der Welt» überdenken, gibt es gute Gründe, Angst zu haben, dass die Mitgliedstaaten der EU bald in eine ähnliche Konkurrenz untereinander kommen.

Letzten Endes stehen die europäischen Arbeitnehmerrechte ganz oben auf der Liste der sogenannten «nichttarifären Maßnahmen», die als Hemmschuh des transatlantischen Handelsflusses ausgemacht wurden.

Im Ergebnis werden durch die Absenkung der Zölle in der EU und den USA nicht nur Arbeitsplätze verloren gehen und ganze Wirtschaftssektoren umstrukturiert werden. Das Transatlantische Freihandelsabkommen könnte – über eine Anpassung der Arbeitsstandards – auch die Koalitionsfreiheit der europäischen Lohnbhängigen aushebeln.

Zuerst erschienen in express, Nr.11/2013. Die hier teilweise übersetzte Broschüre lässt sich herunterladen unter: www.s2bnetwork.org.

 

 

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