von Birger Scholz
Nach Auffassung der Ökonomen Daron Acemoglu und James A. Robinson entscheiden letztlich funktionierende Institutionen, insbesondere gesicherte Eigentums- und Vertragsrechte und eine funktionierende Staatsverwaltung, über den wirtschaftlichen Erfolg von Nationen. Solche Institutionen sind weder gottgegeben, noch Resultat spezifischer Kulturen, sondern das Produkt politischer Prozesse.Am Ansatz der beiden Bestsellerautoren mag man kritisieren, dass sie vielleicht der Wechselwirkung mit kulturellen Traditionen zu wenig Raum einräumen. Denn im Fall Griechenlands sind das Fehlen eines Katasters wie auch der Klientelismus eine Spätfolge der osmanischen Fremd- und Feudalherrschaft, die auf Lehen, Tribut- und Pachtzahlungen und nicht auf grundbesitzenden Feudaladel setzte.
Das ist lange her, und auch die Diktatur der Obristen liegt 40 Jahre zurück, und dennoch hat das vormoderne und korrupte klientelistische System, in dem Schutz gegen Loyalität getauscht wird, die Zeiten bis heute überdauert. Gerade deshalb halte ich Griechenland für eine gescheiterte Nation. Und so falsch, ungerecht und prozyklisch die Austeritätspolitik der Troika auch ist, eine Streichung der Schulden und weitere Hilfsmilliarden wären keine hinreichende Lösung.
Für die Oligarchen und Reeder war der Klientelismus stets ein lohnendes Geschäft. Obwohl weitgehend von progressiver Besteuerung befreit, hinterzogen sie jahrzehntelang Steuern und schafften immense Vermögenswerte ohne Verfolgungsdruck ins Ausland.
Aber dieses System konnte nur funktionieren, weil die lohnabhängigen Klassen, das Kleinbürgertum und selbst die Prekären in den Deal eingebunden waren. Auch dort war Steuerhinterziehung und Korruption alltägliches Geschäft. Wer für die nachträgliche Genehmigung eines Schwarzbaus «Fakelaki» zahlte, hielt an anderer Stelle selber die Hand auf. Der Staat wurde so klassenübergreifend zur Beute.
Es überrascht eigentlich nur, wie lange EU-Hilfsgelder nach dem Beitritt im Jahr 1981 und später der günstige EZB-Kredit diese Struktur überdecken konnten.
Steuereintreibung war dagegen nie ein ernsthaftes Projekt. So betrugen im Jahr 2010 die Steuerschulden in Griechenland 89,5% der Jahressteuereinnahmen verglichen mit 13,5% im OECD-Durchschnitt. Welches Ausmaß die Steuerhinterziehung als klassenübergreifendes Phänomen hat, zeigt eine neue Untersuchung (EUROMOD Working Paper 17/13), in der Einkommensteuerdaten mit Paneldaten abgeglichen werden. Für Einkommen aus selbständiger Tätigkeit beträgt die geschätzte Hinterziehungsquote im Jahr 2009 über 43%.
Aufschlussreich ist auch die Verteilung. Am höchsten ist die Hinterziehung im reichsten Dezil (zehnten Teil) mit 58% und im ärmsten Dezil mit 38%, am niedrigsten im 6.Dezil mit 14%. Da die Ärmsten aber kaum Steuern zahlen, fällt deren Hinterziehung kaum ins Gewicht, beim reichsten Dezil hingegen schon.
Die Gesamtverluste aus der hinterzogenen Einkommensteuer belaufen sich 2009 auf 2,6 Milliarden Euro und führen zu einer signifikanten Erhöhung der Ungleichheit. Da aber die Multimillionäre in den Daten gar nicht abgebildet werden, ist die reale Steuerhinterziehung und deren Auswirkung auf die Ungleichheit noch weit höher.
In kaum einem Land ist der Arbeitsmarkt zudem so fragmentiert wie in Griechenland. Hohe Löhne sowie Renten- und Krankenzusatzversorgungssysteme winken im öffentlichen Dienst. Wer es – oft mit Hilfe klientelistischer Netzwerke – geschafft hat, einen Job zu ergattern, hat ausgesorgt. Zwischen 2000 und 2009 stiegen die Löhne bei den staatlichen Versorgern preisbereinigt um abnorme 58%. Steuer- und Gebühreneinnahmen flossen in die überhöhte Entlohnung von Partikulargruppen und nicht etwa in die Qualität der Gesundheitsversorgung oder ins Bildungssystem. Es ist im übrigen kein Wunder, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad nur noch im öffentlichen Dienst von Relevanz ist.
Diese Beispiele sind kein Argument für die ungerechte Austeritätspolitik, die die Ungleichheit seit Ausbruch der Krise deutlich erhöht hat. Aber sie zeigen, dass in Griechenland eine erschreckende Fehlallokation stattfindet. Arbeitslose können sich die Medikamente nicht mehr leisten, während Ärzte in den besten Wohnlagen Athens weiterhin keine Steuern zahlen und die alimentierten Sonderversorgungssysteme für bestimmte Berufsgruppen fortbestehen.
Griechenland ist auch das einzige Land der EU ohne jegliche Grundsicherung. Das Linksbündnis SYRIZA kämpft zwar gegen Kürzungen, aber die Forderung nach Einstieg in ein bedarfsgeprüftes Grundsicherungsmodell sucht man vergeblich. Es gibt auch keinen Bruch mit der Orientierung auf Wohneigentum. Stattdessen fordert SYRIZA, am pauschalen Verbot von Zwangsversteigerungen – ohne Prüfung der Vermögensverhältnisse – fest zu halten.
Die politische Propaganda von SYRIZA lautet: Wenn wir regieren, wird es niemandem schlechter gehen außer den Reedern. Das wird aber selbst bei einem Schuldenschnitt (der nötig ist) und bei einem EU-Marshallplan nicht funktionieren. Denn wer den Klientelismus zerschlagen und den Einstieg in ein Grundsicherungssystem will, der muss sich vielen Nutznießern des alten Systems anlegen. Noch scheint SYRIZA dazu nicht bereit zu sein.
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