Großer Raubzug in Afrika
Erst holten sich die Weißen die Sklaven, dann Genussmittel und Rohstoffe, jetzt das Land
von Angela Klein
Afrika ist der begehrteste Kontinent für Landräuber. Seine großen Flächen angeblich ungenutzten Landes, seine Aufspaltung in 54 oft schwache Staaten (zum Vergleich: Südamerika ist mit etwas mehr als halb soviel Fläche in elf größere Staaten aufgeteilt), von denen etliche von autoritären und korrupten Diktatoren geführt werden, machen es wieder einmal zur leichten Beute. Dabei kommt die Gefahr nicht nur von außen, das unselige Erbe des Kolonialismus setzt sich auch von innen in neuem Gewand fort.
Seit dem Ende der weißen Herrschaft über Südafrika brechen burische Farmer wieder nach Norden auf. Die meisten führte es bislang in Nachbarländer wie Mosambik, Botswana oder Zambia – als Verwalter von Plantagen, Leiter von Bergwerken oder touristischen Einrichtungen. Doch jetzt schwärmen sie über den ganzen afrikanischen Kontinent aus – mit Billigung und Unterstützung der Regierungen beider Seiten. Sie nennen das den zweiten Großen Treck, in Anlehnung an die Zeit vor zweihundert Jahren, als Nachkommen niederländischer Siedler in der britischen Kolonie am Kap der Guten Hoffnung die Ochsen vor ihre Wagen spannten und sich ins Landesinnere aufmachten.
Diesen Weißen werden Millionen Hektar Land angeboten, zum Teil «jungfräulicher Busch», zum Teil aber auch Land, das von Kleinbauern und Arbeitern auf Staatsfarmen kultiviert oder von Hirten als Weiden genutzt und nun als «herrenlos» oder «leer» deklariert wird, weil der Besitz in keinem Grundbuch eingetragen ist.
Agri South Afrika nennt sich der Verein, der diese Migration organisiert, er ist eine Nachfolgeorganisation des 1904 gegründeten Verbands der weißen Landwirte (South African Agricultural Union). Er zählt derzeit um die 70000 Mitglieder, darunter auch einige schwarze Farmer. Verbandspräsident Theo de Jaeger sagt, er habe von 22 Staaten aus allen Teilen des afrikanischen Kontinents Land für seine Mitglieder angeboten bekommen. Mitte 2011 gab es bereits offizielle Verträge mit den Regierungen der Republik Kongo und mit Mosambik. Weitere sollen folgen.
Den Farmern wird kostenloses Land, befristete Steuerbefreiungen, der Bau von neuen Straßen und Stromtrassen sowie das Recht angeboten, ihre Erzeugnisse und Gewinne uneingeschränkt zu exportieren. Die einheimischen Bauern bekommen solche Geschenke nicht. Die südafrikanische Regierung fördert die Auswanderung der Landwirte ebenfalls mit finanziellen Beihilfen in Millionenhöhe. Sie kann damit innenpolitischen Druck ablassen, denn etwa 30% der landwirtschaftlichen Nutzflächen im Besitz von Weißen müssen bis 2014 an schwarze Landarbeiter verteilt sein. Fred Pearce, der in seinem Buch «Landgrabbing. Der globale Kampf um Grund und Boden» diese Geschichte erzählt, zitiert Südafrikas Landwirtschaftsministerin: «Wenn wir den weißen, südafrikanischen Farmern in unserem Land keine Chancen mehr bieten können, müssen wir das anderswo auf diesem Kontinent tun.»
Die Farmer
Das größte Angebot stammt bislang von der Republik Kongo, auch Kongo-Brazzaville genannt. Die ehemalige französische Kolonie, reich an Holz, Öl und Korruption, wird von Denis Sassou Nguesso regiert, der über lukrativen Immobilienbesitz an der französischen Riviera verfügt. Er will, dass die Südafrikaner bis zu 10 Millionen Hektar Land (100000 Quadratkilometer) übernehmen, das ist ein Drittel der Gesamtfläche des Landes, größer als Portugal.
Im fruchtbaren Niari-Tal im dicht besiedelten Südwesten des Landes, nahe einer Eisenbahnlinie, die in die Hauptstadt führt, liegt eine riesige einst staatliche Farm, die vor zehn Jahren aufgegeben wurde. Ein Großteil des Anwesens ist in gutem Zustand und die Weißen möchten in die Häuser einziehen, die auf dem Gelände stehen. Doch die früheren Bewohner des Landes sind inzwischen zurückgekehrt und bauen dort Maniok und Erdnüsse an. Sie werden jetzt nach Strich und Faden übers Ohr gehauen. Während die Weißen auf dem Land bereits ihre Claims abstecken, suchen die Bewohner umsonst Hilfe bei der Regierung; mindestens fünf Dörfer sollen geräumt werden.
Die Regierung erwartet von den Kolonisten «Nahrungsmittel im Überfluss». Doch die haben ihre eigenen Pläne: Den Schwarzen erzählen sie, dass sie Mais als Grundnahrungsmittel anbauen und den Bauern im Kongo beibringen wollen, wie sie gute Farmer werden können. Zu Hause dann macht der Verein seinen Mitgliedern die Ansiedlung mit dem Argument schmackhaft, sie könnten Agrospritpflanzen für den Export nach Europa anbauen. Die Verträge mit der Regierung gäben ihnen das Recht, anzubauen was sie wollten.
Zambia bietet dem Verein 300000 Hektar für den Maisanbau an. Der Sudan stellt Land und Wasserrechte in Aussicht, um an den Nilufern Zuckerrohr zu erzeugen. Das weitgehend trockene Namibia, das sich 1988 von den südafrikanischen Besatzern befreien konnte, ruft nach den burischen Farmern, damit sie Felder bewässern. Angola hat zwei Plantagen von insgesamt 140000 Hektar angeboten, Uganda 170000 Hektar. Libyen bietet 35000 Hektar für den Anbau von Oliven und Wein.
Die Barone
Der afrikanische Boden lockt jedoch nicht nur auswanderungswillige Farmer, sondern auch riesige Agrarkonzerne. Vor allem Zuckerbarone. Denn Zucker verspricht hohe Renditen. Die Nachfrage ist stark gestiegen und der Zuckerpreis lag 2011 auf Rekordniveau.
Einer dieser Barone ist Associated British Foods (ABF), seit der Übernahme von British Sugar der zweitgrößte Zuckererzeuger der Welt und im Besitz der kanadischen Familie Weston. ABF hat eine Mehrheitsbeteiligung am südafrikanischen Zuckerriesen Illovo Sugar erworben und ist damit zu einem der größten Landnehmer in Afrika aufgestiegen. Seitdem hat Illovo einen besseren Zugang zu den Märkten der Europäischen Union, denen es ein Drittel des Importzuckers liefert.
Illovo hat in Zambia an den Ufern des Kafue, eines der großen Nebenflüsse des Sambesi, eine eine 15000 Hektar große Zuckerrohrplantage, Nakambala Estate, gekauft. Es ist inzwischen die größte Zuckerrohrplantage Afrikas und, zusammen mit einer Rinderfarm, der größte Agrarbetrieb Zambias.
Vor langer Zeit hatten weiße Siedler den ortsansässigen Bauern und Hirten das Land geraubt und ihnen den weiteren Zugang zu ihren früheren Weiden versperrt. Nakambala Estate war nach Zambias Unabhängigkeit verstaatlicht worden. Dann wurde es wieder privatisiert und kam erneut in die Hände der Kolonialisten. Für die Bewässerung der Plantage und die Erzeugung von Wasserkraft wurden Stauseen gebaut, die die Heimat tausender Menschen unter Wasser gesetzt und den Lebensraum von Millionen Vögeln und Antilopen zerstört haben. Die stete Ausdehnung der Plantage an den Flussauen und der große Wasserverbrauch haben das Ökosystem geschädigt und Kleinbauern und Viehzüchtern die Lebensgrundlage zerstört. Es gab Proteste und Festnahmen, gelegentlich wurden Zuckerrohrfelder in Brand gesetzt.
Wasserräuber Zucker
Zuckerrohr verschlingt außerordentliche Mengen Wasser, es verbraucht doppelt soviel wie etwa Reis oder Baumwolle. Die Felder müssen einmal im Jahr mehr als zwei Meter hoch geflutet werden. «Weltweit leeren Zuckerrohrfelder unsere Flüsse und plündern unsere unterirdischen Wasservorräte», schreibt Pearce.
Auf der Suche nach guten Anbaubedingungen strebt Illovo inzwischen nach Mali an das Ufer des Niger. Mit dessen Wasser will der Konzern 14000 Hektar Zuckerrohrfelder bewässern – ein halber Kubikkilometer Wasser pro Jahr muss dem Fluss dafür entnommen werden, 1600 Menschen sollen vertrieben werden.
Mali liegt am Rande der Sahara und ist ein trockenes Land. Was das Land ernährt, sind seine Flüsse, vor allem der Niger, der im Landesinneren ein großes, äußerst fischreiches Delta bildet. Hier bauen die Bewohner seit Jahrhunderten Hirse, Reis und Bananen an – Grundnahrungsmittel in Mali. Das geht aber nur, weil das Delta in Abständen vom wasserreichen Niger überflutet wird.
Dieser ökologische Kreislauf ist nun bedroht. Bereits die ehemaligen französischen Kolonisten hatten in den 30er Jahren angefangen, einen Staudamm (den Markala-Staudamm) und Bewässerungskanäle zu bauen. Auf 100000 Hektar wird nun seit den 40er Jahren Baumwolle, Reis und Zuckerrohr angebaut, alles wasserhungrige Pflanzen. Jetzt träumt die Regierung davon, eine Million Hektar Ackerland zu bewässern – für den Anbau von Zucker und Reis für den Export.
Der größte Teil des Landes geht in ausländische Hände: Den bislang größten Brocken hatte sich Libyen noch zu Zeiten Gaddafis geschnappt: 100000 Hektar für den Reisanbau für die libysche Bevölkerung. Aber auch China und die USA sind mit von der Partei. Und der südafrikanische Zuckerriese Illovo: er hat 14000 Hektar erworben, mit Option auf weitere 17000 Hektar. Illovo darf laut Vertrag dem Fluss 35 Kubikmeter Wasser pro Sekunde entnehmen, das macht im Jahr 1 Milliarde Kubikmeter.
Die Regierung von Mali will, dass die ausländischen Investoren das alte Bewässerungssystem sanieren und ausbauen, d.h. vor allem riesige Kanäle bauen, die so groß sind, dass sie in manchen Jahreszeiten dem Niger 70% seines Wassers abnehmen. Das Ökosystem einer Überschwemmungslandschaft wird damit zerstört. Und produziert wird letzten Ende Hunger und Migration: Die Regierung brüstet sich, die neue Landwirtschaft habe 280000 Menschen Arbeit gegeben. «Das Problem ist nur, dass auf jeden Gewinner in den Reisfeldern vier Verlierer im Delta stromabwärts kommen», schreibt Fred Pearce dazu.
Rechte Regierung will Abtreibung wieder verbieten
Empörung in Spanien
von Sandra Ezquerra
Am 20.Dezember 2013 veröffentlichte die von der rechten Volkspartei (PP) getragene spanische Regierung den Entwurf für das neue «Gesetz für den Schutz des ungeborenen Lebens und für die Rechte der schwangeren Frau». Eine Verabschiedung dieses Entwurfs wäre die dritte Änderung des Abtreibungsrechts in den letzten dreißig Jahren und der wichtigste Angriff auf dem Gebiet der sexuellen und Reproduktionsrechte seit der Franco-Diktatur.
Zuerst reformierte die sozialdemokratischen PSOE-Regierung das Abtreibungsrecht der Franco-Diktatur, das war 1985. Abtreibung blieb dabei ein Straftatbestand und war nur unter drei Bedingungen und innerhalb gewisser Fristen erlaubt: bei Vergewaltigung innerhalb einer Frist von 12 Wochen, bei Missbildungen des Fötus innerhalb einer Frist von 22 Wochen und bei Gefahr für die physische und mentale Gesundheit der Schwangeren unbefristet.
Obwohl dieses Gesetz eine Verbesserung gegenüber dem vorhergehenden Zustand war, setzte sich die Frauenbewegung in Spanien weiter für eine vollständige Freigabe der Abtreibung ein, d.h. für ihre völlige Entkriminalisierung und für die ausnahmslose Durchführung der Eingriffe im Rahmen des öffentlichen Gesundheitssystems.
Erst 25 Jahre später reagierte die PSOE auf diese Forderungen, und auch nicht auf alle. Im Jahr 2010 verabschiedete sie ein (bis heute gültiges) Gesetz, das Frauen erlaubte, eine Schwangerschaft innerhalb der ersten 14 Wochen zu beenden, ohne einen Grund dafür angeben zu müssen. Bei einer Missbildung des Fötus oder bei Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren kann diese die Schwangerschaft auch noch in der 22.Woche beenden. Schwangere unter 18 haben jedoch nach wie vor keinen Zugang zu einem Abbruch, ohne dass ihre Eltern davon in Kenntnis gesetzt werden, neben anderen Hindernissen wird ihnen zudem eine dreitägige Bedenkzeit zwischen der Kontaktaufnahme mit einem Arzt und dem Abbruch auferlegt.
Gegen dieses Gesetz hat die PP Klage beim Verfassungsgericht angestrengt, die Verhandlung hierüber steht noch aus.
Rolle rückwärts
Als die PP im Jahr 2011 an die Regierung kam, kündigte ihr Justizminister Alberto Ruiz Gallardón an, das Gesetz noch in der ersten Hälfte der Legislaturperiode ändern zu wollen. In zahlreichen Stellungnahmen hat er immer wieder behauptet, dass «Mutterschaft Frauen erst zu wirklichen Frauen macht». Sozialleistungen und Hilfen für Schwangere wurden bereits gestrichen.
Das neue Gesetz will nun die Frist von 14 Monaten für eine «legale Abtreibung» abschaffen und den Abbruch nur in zwei Fällen erlauben: Erstens wenn die Frau vergewaltigt wurde – der Abbruch ist dann nur in den ersten 12 Schwangerschaftswochen zulässig und setzt außerdem voraus, dass ein Polizeiprotokoll erstellt wurde. Es scheint, dass die Schwangere auch beweisen muss, dass das Kind, das aus der Vergewaltigung hervorgegangen ist, eine Gefahr für ihre physische oder mentale Gesundheit bedeutet.
Zweitens ist ein Schwangerschaftsabbruch dann legal, wenn eine Gefahr für die psychische und physische Gesundheit der Frau besteht. In diesem Fall ist die Frist auf 22 Wochen festgesetzt. Eine Missbildung des Fötus entfällt als Grund für einen Abbruch und kann nur geltend gemacht werden, wenn die Anomalien von der Schwangeren psychisch nicht ertragen werden können. Zwei verschiedene Spezialisten müssen dies feststellen: einer für die Missbildung des Fötus und einer für die psychologische Analyse der Schwangeren.
In beiden Fällen wird der Frau eine siebentägige Periode der «Besinnung» auferlegt, nachdem sie über «ihre Rechte, Hilfsoptionen, klinische Informationen und Alternativen zur Abtreibung» informiert wurde. Eltern werden an der Entscheidung Minderjähriger beteiligt.
Sturm der Entrüstung
Gegen den Gesetzentwurf hat sich ein Sturm der Entrüstung erhoben, er reicht von der feministischen Bewegung und den Beschäftigten im Gesundheitssektor bis zu zahlreichen Teilen der Linken. Sogar in der PP selbst gibt es Dissens. Die vorgeschlagene Reform ist zweifellos der ernsteste Angriff auf die Rechte der Frauen seit der Franco-Diktatur, und sie stützt sich nicht auf einen breiten sozialen Konsens, sondern ist vor allem bestrebt, die konservativsten Kreise der spanischen katholischen Kirche glücklich zu machen.
Die Volkspartei kann das Gesetz mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament zwar durchsetzen, wie sie es mit anderen Reformen und Sozialkürzungen auch getan hat. Anderserseits wird zunehmend deutlich, dass er über den rechten Flügel der PP hinaus keine Unterstützung hat. Es bleibt abzuwarten, ob der liberale Teil der Partei die Disziplin bricht und in welchem Ausmaß die Regierung selber der Kritik aus dem ganzen Land und sogar aus dem Ausland standhält.
Es ist derzeit daher entscheidend, eine breite Bewegung gegen das Gesetz aufzubauen, um es zu stoppen. Dabei gibt es in Einzelfragen auch unter den Gegnern der «Reform» unterschiedliche Ansichten. Von allen Änderungen, die das Gesetz einführt, hat die Beseitigung der medizinischen Indikation (Fötusmissbildung) in den letzten Wochen die meisten Schlagzeilen gemacht. Sicher erweist sich die Regierung an dieser Stelle als besonders heuchlerisch, lässt sie doch die verwundbarsten Teile unserer Gesellschaft damit allein und grenzt sie noch mehr aus. Es ist jedoch zweifelhaft, ob dieser Punkt im Mittelpunkt eines radikalen und antikapitalistischen Feminismus stehen muss. Der Zwang, ein Kind mit schweren Missbildungen austragen zu müssen, ist nicht schlimmer als ein anderer Austragungszwang, nicht grausamer, als lesbischen oder alleinlebenden Frauen den Zugang zu künstlicher Befruchtung zu versperren, was die PP im vergangenen Sommer ebenfalls per Gesetz durchgesetzt hat.
Viele Dinge, die der Staat (oder die Kirche) durch Verbote zu regulieren suchen, regulieren sich am besten von allein, durch Übereinkunft. Frauen entscheiden sich nicht aus einer Laune heraus für einen Schwangerschaftsabbruch.
Sandra Ezquerra lehrt Soziologie an der Universitat de Vic (Barcelona) und ist als Feministin aktiv in der 15M-Bewegung. Der Gesetzentwurf ist Gegenstand massiver Mobilisierungen, die nach den Europawahlen am 22.Mai in einen großen landesweiten Marsch mit anschließender Belagerung des Parlaments münden sollen. Eine internationale Beteiligung ist erwünscht.
Deutsche Konzerne in Griechenland unter Korruptionsverdacht
Waffengeschäfte laufen wie geschmiert
von Paul Michel
Deutsche Unternehmen sollen Millionen Bestechungsgelder für milliardenschwere Waffengeschäfte mit Griechenland gezahlt haben.
Antonis Kantas, im griechischen Verteidigungsministerium von 1992 bis 2002 Leiter des Direktorats Rüstung, hat ein Geständnis ablegt: Mehr als 10 Millionen Dollar Bestechungsgeld hat er für Waffengeschäfte mit U-Booten, Panzern, Kampfflugzeugen und Raketen gezahlt. Das waren Geschäfte mit Firmen aus Deutschland, Frankreich, Russland, Brasilien und Schweden. «Ich habe so viele Schmiergeldzahlungen angenommen, dass ich mich gar nicht mehr an alle erinnere» (Frankfurter Rundschau, 7.1.2014).
Unter Schmiergeldverdacht stehen laut Süddeutsche Zeitung auch mehrere deutsche Firmen. So ging es u.a. um die Modernisierung älterer U-Boote der Poseidonklasse durch die Unternehmen Rheinmetall und Atlas, um Rheinmetalls Flugabwehrsystem Asrad und um die Lieferung von 170 Leopard-Panzern durch Krauss-Maffei-Wegmann (KMW). Allein das Panzergeschäft mit KMW belief sich auf rund 1,7 Mrd. Euro. Bei diesem Deal wurden laut Kantas Schmiergelder in Millionenhöhe gezahlt. Der Konzern bestreitet die Anschuldigungen und erklärte in einer Stellungnahme, KMW habe weder Bestechungsgelder gezahlt noch zahlen lassen. Alle Mitarbeiter und Geschäftspartner seien verpflichtet, sich strikt nach Recht und Gesetz zu verhalten.
Bei der Modernisierung von Poseidon-U-Booten hat die Firma Atlas nach Angaben der Süddeutschen Zeitung vom 4.1.2014 etwa 18 Mio. Euro Schmiergeld an griechische Amtsträger gezahlt, um den Zuschlag zu erhalten. Atlas gehört heute mehrheitlich zum ThyssenKrupp-Konzern, bis 2006 war das Unternehmen Teil des englischen Rüstungskonzerns BAE. Die Boote wurden im Joint Venture mit der Kieler Werft HDW gebaut und mit Hilfe des Essener Konzerns Ferrostaal verkauft. In diesem Zusammenhang wurden Ex-Manager von Ferrostaal bereits zu Geldbußen und Bewährungsstrafen verurteilt.
Im Fadenkreuz der Ermittler steht auch das Unternehmen Rheinmetall. Es soll den Verkauf von 24 Panzerhaubitzen mit Bakschisch angebahnt haben. Auch im Vorfeld des Kaufs des Flugabwehrsystems Asrad soll Kantas von Rheinmetall Schmiergeld in Höhe von 1,5 Mio. Euro erhalten haben. Die Untersuchungen der Bremer Staatsanwaltschaft laufen.
Bei der Abwicklung der Deals scheint die Schweiz wieder einmal als Schwarzgelddrehscheibe gedient zu haben. Nach Aussagen von Kantas und einem weiteren Geständigen landeten große Bestechungssummen in der Schweiz – zum Teil auf verschlungenen Pfaden. Um die Herkunft des Geldes zu verschleiern, bediente man sich solcher Offshore-Konstrukte wie Trusts und verwendete Tarnnamen. Nach Erkenntnissen der Ermittler lagen oder liegen bis zu mehreren Millionen Euro, die in diesem Zusammenhang geflossen sind, auf Konten in der Schweiz: bei der Dresdner Bank in Genf (sie gehört heute der Liechtensteiner Privatbank LGT), bei der Bank Hofmann in Zürich (heute Credit Suisse), bei BNP Paribas in Genf und bei der UBS.
Jahrzehntelang war es ein offenes Geheimnis in Griechenland, dass beim staatlichen Einkauf von Militärgütern reichlich Schmiergelder flossen. Deutsche Medien schimpfen gern und häufig scheinheilig über die griechische «Korruptionskultur», unterschlagen dabei aber, dass zur Korruption immer zwei gehören: derjenige, der sich bestechen lässt, und derjenige, der besticht. Schon im Falle Siemens hat sich gezeigt, dass deutsche Konzerne in Netz der «großen» Korruption eine wichtige Rolle spielten. Die jüngsten Enthüllungen sind weitere Beispiele für die tiefe Verstrickung deutscher Konzerne.
Man darf davon ausgehen, dass alsbald weitere Details bekannt werden. Die Süddeutsche Zeitung spricht von sechs deutschen Geschäftsleuten, die ihr namentlich bekannt sind, die sie im derzeitigen Stadium der Ermittlungen aber noch nicht nennen will. Das kann für deutsche Unternehmen und die deutsche Politik noch unangenehm werden. Die Solidaritätsbewegung mit Griechenland sollte sich dieses Themas annehmen und dahingehend Druck machen, dass die Ermittlungen gegen die deutschen Hintermänner in den Rüstungsunternehmen nicht hintertrieben und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Ukraine zwischen russischer Fuchtel und EU-Armenhaus
von Alexander Busgalin
Im November 2013 besetzten tausende Ukrainer den Maidan-Platz (Unabhängigkeitsplatz) in Kiew. Sie protestierten gegen eine Entscheidung ihres Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch, die Beitrittsverhandlungen mit der EU auszusetzen und stattdessen, wie andere ehemalige Sowjetrepubliken, einer Zollunion mit Russland beizutreten.
Die Ukraine ist stark verschuldet, die Regierung hatte deshalb von der EU einen Kredit in Höhe von 27 Mrd. Dollar als Gegenleistung für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens erbeten. Die EU hatte daraufhin harte neoliberale Reformen im Stil der Schocktherapie für Griechenland im Verlauf der Eurokrise oder der für Russland 1992 unter Jelzin verlangt. Teil dieser «Reformen» sollte ein Abbau der Schwerindustrie in der Ostukraine sein – mit drastischen Folgen wie Arbeitslosigkeit und ein Abbau der Sozialleistungen.
Zum zweitenmal in zehn Jahren ist Kiew zum Schauplatz von Massenprotesten und Zusammenstößen mit den Behörden geworden. Aber die Ereignisse vom Spätherbst 2013 ähneln nur oberflächlich denen von 2004. Die Lage ist weitaus komplexer geworden.
Im Jahr 2004 waren die Hauptkraft auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, Menschen, die die Willkür und Verachtung der herrschenden politisch-ökonomischen Eliten satt hatten. Nationalistische Gruppen waren 2004 vielleicht nicht weniger stark als 2013, aber in erster Linie brachte die Bevölkerung ihre Empörung zum Ausdruck. Außerdem ging es 2004 nicht nur um eine geopolitische, sondern auch um eine sozialpolitische Alternative – die zwischen uns, den Bürgern, und ihnen, den Parasiten.
Die Lage auf dem Maidan ist jetzt in vieler Hinsicht eine andere. Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Parasitenverhalten der Behörden ist nach wie vor vorhanden, die zentrale Rolle spielt jetzt aber eine sorgfältig orchestrierte Kampagne prowestlicher politischer und ökonomischer Eliten. 2004 haben diese noch hinter den Kulissen operiert, nun haben sie sich an die Spitze der Proteste gestellt. Und es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt: 2013 sind nationalistische und profaschistische Organisationen die gut organisierte Hauptkraft der Proteste.
Die Widersprüche, die die Ukraine zerreißen, sollten jedoch nicht unter geopolitischen Aspekten betrachtet werden, wie es jetzt en vogue ist, sondern vor dem Hintergrund ihrer sozialökonomischen, politisch-ideologischen und kulturell-historischen Dimension.
Die Bevölkerung der Ukraine besteht aus Stahlarbeitern und Beamten, aus Lehrern und Bauern, aus Dienstleistungsunternehmern und Oligarchen, wobei letztere in verschiedene «Klans» gespalten sind… Das Land hat prowestliche, prorussische und «unabhängige» Gewerkschaften und Verbände. Letztere sind zumeist Parlamentsparteien, pragmatisch bis zum Zynismus, die die Frage der Integration in die EU vor allem durch eine wahltaktische Brille betrachten.
Die Ukraine weist sowohl eine ukrainischsprachige als auch eine russischsprachige Bevölkerung auf. Schließlich hat die Ukraine jahrhundertelange Kriege mit Polen und Litauen, 450 Jahre Einheit mit Russland und Jahrhunderte der Unterdrückung durch das Russische Reich hinter sich. Sie hat aber auch den Heroismus antifaschistischer Partisanen und die Verbrechen faschistischer Kollaborateure gekannt.
Die Ukraine und Russland
Das heutige Russland birgt nach wie vor ein gewaltiges historisches Potenzial hinsichtlich Kultur, Wissenschaft und Bildung. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien verweisen darauf, dass sich die Mehrheit der Bürger Russlands immer noch zu den Werten soziale Gerechtigkeit und Demokratie bekennt. Bis jetzt strebt die Bevölkerung Russlands trotz tiefer innerer Widersprüche und eines wachsenden Nationalismus immer noch mehrheitlich nach Freundschaft und gleichberechtigten Beziehungen zu den Bevölkerungen anderer Länder. Das gilt besonders für solche Länder wie der Ukraine. Unsere Eltern kämpften gemeinsam gegen den Faschismus, unsere Völker bauten jahrhundertelang an einem vereinigten soziokulturellen Raum, in dem sich niemand darum kümmerte, ob bspw. der Schriftsteller Nikolai Gogol als Ukrainer oder Russe zu betrachten sei.
Daher rührt der starke Trend zur Integration der Völker Russlands und der Ukraine – nicht bloß der Ukrainer und der Russen; diese Länder sind multinational, und dies zu begreifen ist von grundlegender Bedeutung.
Aber das heutige Russland steht auch für einen Großmachtchauvinismus, der vom barbarischen Kapitalismus und den herrschenden Eliten genährt wird. Für Russlands Oligarchen ist die Ukraine vor allem ein neues Territorium, in dem sie dieselbe Politik der parasitären Plünderung natürlicher Reichtümer und billiger Arbeitskraft einführen können wie in Russland. Für die Bevölkerung der Ukraine bedeutet dies dasselbe wie für die Bevölkerung Russlands: eine Mixtur aus brutaler kapitalistischer Ausbeutung und halbfeudaler Diktatur.
Das macht die derzeit in Russland herrschende Elite zu einem extrem problematischen Partner für eine Integration, um es milde auszudrücken. Eine ökonomische und politische Integration mit diesem Russland würde nur die prorussischen Oligarchen und prorussischen politischen Eliten in der Ukraine stärken. Die Bevölkerung der Ukraine käme zwar einerseits in den Genuss relativ billiger Ressourcen für sich selbst und für die Produktion, und die Schwerindustrie und das Industrieproletariat würden erhalten werden (und vielleicht sogar wachsen). Doch im Gegenzug würde sie sich auch die Bewahrung und Stärkung primitiv-kapitalistischer Formen der Ausbeutung und einen paternalistisch-bürokratischen Staatsapparat sowie die Gefahr der geopolitischen Dominanz der russischen Bürokratie einhandeln. Im Endergebnis würde sich für die meisten Menschen in der Ukraine wenig ändern.
Die Europäische Union
Die Errungenschaften in der EU sind real und allen vertraut, wenigstens wenn wir von den Ländern im «Zentrum» der EU sprechen. Hier bleiben trotz der aktuellen Schwierigkeiten viele positive Aspekte übrig. Das «skandinavische» Modell in Nordeuropa weist reale Vorzüge auf im Vergleich zu Systemen, wie sie in Russland und der Ukraine herrschen: Es gibt dort eine progressive Einkommensteuer, soziale Sicherungssysteme, einen weitgehend freien Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge und Kultur und starke, unabhängige Gewerkschaften. Diese Länder haben einen geringen Grad an sozialer Differenzierung (mit einem sechs- bis siebenfachen Abstand zwischen den reichsten und ärmsten Schichten der Bevölkerung – halb so viel wie in Russland oder der Ukraine) und die Zivilgesellschaft hat reale Rechte. In diesem Fass voll sozialdemokratischen Honigs steckt jedoch auch ein Löffel voll Teer. Auch mehr als nur ein Löffel. Die beeindruckenden sozialen Errungenschaften in diesen Ländern wurden vor Jahrzehnten erreicht, danach stoppte der Prozess.
Wie in Russland müssen wir auch in unserer Analyse der EU unterscheiden zwischen den Errungenschaften der Bürger und der Politik der transnationalen Konzerne und der Regierungen der NATO-Länder. Bei den Errungenschaften denken wir vor allem an die Errungenschaften der Werktätigen, ihrer Gewerkschaften, der linken Parteien und der sozialen Bewegungen, deren aktiver Kampf über mehr als ein Jahrhundert für soziale und Bürgerrechte unleugbare Resultate gebracht hat.
Eine Integration der Ukraine in die EU würde jedoch nicht bedeuten, dass die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine in einer voraussehbaren Zukunft auf dieselbe Weise leben können werden wie die Bürger Deutschlands oder Österreichs. Wie die Welt insgesamt ist auch die EU in reiche und arme Regionen gespalten. Auf der einen Seite gibt es die «Kernländer» der europäischen Multis, in denen sich die Masse des Kapitals und die innovativsten Technologien konzentrieren. Auf der anderen Seite finden sich die Länder mit der billigen Arbeitskraft, der rohstoffausbeutenden Industrie, den umweltverpestenden Dreckschleudern, den Montagefabriken und einer Bevölkerung, die bereit ist, 12–14 Stunden am Tag zu arbeiten. Die soziale Differenzierung innerhalb der EU ist nahezu so groß wie die in Russland und der Ukraine. Wenn die Ukraine also den Weg der Integration in die EU geht, wird sie zur armen Peripherie gehören.
Genau genommen stellt dies auch niemand in Frage. Es ist nur so, dass die proeuropäischen Kreise in der Ukraine dies «vergessen» oder, genauer gesagt, sich weigern, das zu diskutieren. Eine Integration in die EU würde für die Ukrainer eine extrem widersprüchliche Situation schaffen, in der gleichen Weise wie wenn sie in Richtung Russland marschieren würden. Sie könnten eine gewisse Stärkung des Parlamentarismus und der Rechte verschiedener Minderheiten erwarten (wohl kaum der Rechte für Gewerkschaften oder Linke). Die ukrainische Elite könnte in einen leichteren Dialog mit dem Westen treten und sich in das EU-Establishment integrieren. Vor allem aber würden die prowestlich orientierten Fraktionen der ukrainischen Oligarchen im Wettbewerb um Märkte und staatliche Ressourcen den Sieg davontragen. Der Prozess der Deindustrialisierung würde intensiviert und der ukrainische Nationalismus gestärkt, was substanzielle soziokulturelle Probleme für die russischsprachige Bevölkerung zur Folge hätte.
Auf eigenen Füßen stehen
Was ist nun das beste für die Ukraine? Soll sie eine weitere Randregion der EU werden, sich an Russland orientieren oder ein unabhängiges Land der Dritten Welt sein?
Zweitens sind unterschiedliche Schichten der ukrainischen Gesellschaft an unterschiedlichen Lösungen interessiert. Für die meisten Bauern und für das Industrieproletariat in der östlichen Ukraine verspricht eine Zusammenarbeit mit Russland (wir sprechen hier nicht von einem Anschluss der Ukraine an Russland!) mehr Stabilität und würde keine neuen kulturellen und Sprachprobleme schaffen. Dasselbe gilt für Lehrer und andere hochqualifiziert Beschäftigte in staatlichen Institutionen. All diese Personen würden eine relative Stabilität erhalten im Austausch gegen eine paternalistische Bevormundung seitens der ukrainischen Bürokratie sowie weitere Einschränkungen ihrer sozialen und Bürgerrechte.
Das alles ist extrem ambivalent. Ein eindeutiges und wichtiges Plus wäre jedoch die Wiederbelebung und Intensivierung des soziokulturellen Dialogs zwischen den beiden Ländern.
Für die meisten «Freiberufler», für die kleine und mittlere Handelsbourgeoisie, für diejenigen Oligarchen, deren Aktivitäten mit den westlichen transnationalen Konzernen verflochten sind, und für die prowestlichen politischen Kräfte wäre eine EU-Orientierung kurzfristig vorteilhafter.
Paradoxerweise könnten unabhängige Gewerkschaften und verschiedene Nichtregierungsorganisationen (besonders solche, die weitab von den drängenden sozialen Problemen tätig sind und sich z.B. für die Rechte von Homosexuellen engagieren) aus einer Integration in die EU vorübergehend Vorteile ziehen. Diese demokratischen Fortschritte wären jedoch kaum von Dauer, falls sie überhaupt eintreffen: In den Ländern der EU-Peripherie werden die Normen der sozialen und Bürgerrechte auffallend leicht verletzt und die Brüssler Bürokratie zeigt sich erstaunliche blind gegenüber solchen Verstößen, solange sie nicht die Interessen europäischer Konzerne oder der NATO berühren.
Anders als bei den Ereignissen von 2004 waren 2013 auf dem Maidan Nationalisten und Faschisten die größte und bestorganisierte Kraft. Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Die wachsende Stärke der rechten nationalistischen und profaschistischen Organisationen, in der Ukraine wie auch in den baltischen Staaten, haben unmittelbar nicht nur die staatlichen Instanzen dieser Länder zu verantworten, sondern auch die tonangebenden Kreise in der EU. Die liberalen Demokraten Europas haben schon mehrfach, und mit monströsen Resultaten, versucht, die faschistische Karte zu spielen (erinnert sei nur an das Münchner Abkommen 1938). Wenn sie sich nun bei den Maidan-Protesten auf Nationalisten und Faschisten stützen, ist das im Kern ein solches Verbrechen (wenngleich von unvergleichlich geringerer Größenordnung).
Drittens zeigt eine Analyse der Lage in der Ukraine aus marxistischer Sicht, dass wir uns davon frei machen müssen, zwischen zwei gleichermaßen falschen Alternativen das vermeintlich kleinere Übel zu wählen. Wir müssen eine geradlinige Antwort geben, d.h. in erster Linie müssen die sozioökonomischen, politischen und kulturellen Probleme gelöst werden. Die Antwort liegt nicht auf der Ebene pragmatischer Geopolitik, nach dem heute gängigen Motto: «An wen sollen wir uns verkaufen?», sondern auf der Ebene radikaler ökonomischer und politischer Reformen innerhalb der Ukraine selbst.
Alexander Busgalin lehrt an der Staatlichen Universität Moskau Politische Ökonomie und gibt die Zeitschrift Alternatives Russia heraus.
Ist Syrien noch zu retten?
In Aachen trafen sich Vertreter der syrischen Opposition
von Leo Gabriel
Unter diesem provokanten Titel trafen sich am 17.Januar im Bürgerzentrum der katholischen Kirchengemeinde in Aachen verschiedene Vertreter der wichtigsten Organisationen der syrischen Opposition, um über die Perspektiven der «Genfer Staatenkonferenz» (Genf II) zu diskutieren, die ab dem 22.Januar in Montreux über Krieg und Frieden in diesem leidgeprüften Land beraten sollte.
Vor einem Publikum von über 100 Interessierten, das vor allem aus türkischen und syrischen Kurden bestand, machte gleich zu Beginn Zuhat Kobani, der Sprecher der der PKK nahestehenden kurdischen PYD (Partei der demokratischen Einheit), einen interessanten Vorschlag: Wenn die Kämpfer tatsächlich die Demokratie umsetzen wollten, mögen sie sich an den 59 kurdischen Selbstverwaltungsgemeinden im Nordosten Syriens ein Beispiel nehmen, die – dem syrischen «Mosaik an Ethnien und Religionen» Rechnung tragend – einen dritten Weg eingeschlagen hätten.
Die Kurden bedauerten zutiefst, dass sie, ebenso wie der National Body for Democratic Change (NBC, auch Nationales Koordinationskomitee genannt), dem sie angehören, nicht nach Genf eingeladen wären, was das NBC so sehr verstimmt hat, dass es am Vortag der Aachener Tagung seinen Rückzug aus der Genfer Konferenz ankündigte.
Für eine Teilnahme an Genf sprach sich hingegen Samir Abu Laban vom Politischen Büro der Muslimbruderschaft aus. Er bedauerte jedoch zutiefst, dass das Regime Bashar al-Assads bisher noch kein einziges Zeichen des guten Willens zur Lösung des Konflikts gesetzt hätte, sondern die «Terrorismusbekämpfung» als seine oberste Priorität bei den Genfer Verhandlungen bezeichnet hat.
Abu Laban führte sechs Punkte an, die aus seiner Sicht Voraussetzung für einen Erfolg der Genfer Verhandlungen sind:
– Die Rebellen müssen in die Verhandlungen einbezogen werden.
– Menschenrechtsverbrechen wie die Bombardierung der eigenen Zivilbevölkerung müssen unverzüglich gestoppt werden.
– Sofortige Freilassung der politischen Gefangenen.
– Freier Zugang der notleidenden, zum Teil eingeschlossenen Bevölkerung zu den Hilfslieferungen.
– Garantien der Internationalen Staatengemeinschaft für die Bildung einer Übergangsregierung.
– Ausländische Kämpfer wie die Angehörigen der schiitischen Hezbollah, aber auch der sunnitischen, hauptsächlich aus irakischen Kämpfern bestehenden Organisation für einen islamischen Staat (ISIS) müssen unverzüglich das Land verlassen.
Äußerst skeptisch in bezug auf die Erfolgsperspektiven der Genfer Konferenz zeigte sich auch die syrische Soziologin von der Universität Köln, Huda Sein. Sie meinte, Lösungen für den Konflikt müssten hauptsächlich im Landesinneren gefunden werden: «Wenn man Syrien auf den Krieg reduziert, erreicht man nur noch mehr Krieg.» Es gäbe aber auch einen revolutionären Widerstand, über den in der Öffentlichkeit allerdings immer weniger diskutiert würde.
Dass von Genf II wenig zu erwarten ist, meinte auch Samir Aita, der Mitbegründer des «Demokratischen Forums», ein in Paris lebender Intellektueller aus Damaskus, der von 2005 bis 2013 Herausgeber der arabischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique war. Den zu erwartenden Misserfolg führte Aita zum einen darauf zurück, dass sich wichtige Länder wie der Iran, Saudi-Arabien und Qatar dem Genfer Prozess gegenüber eher ablehnend verhalten; zum andere gebe es aber auch innerhalb der Koalition, die den syrischen Widerstand bei den Genfern Verhandlungen vertreten soll, eine große Uneinigkeit. «Wenn die Koalition nach Genf geht, wird sie das nur geschwächt tun oder sich über diese Frage überhaupt spalten», meinte er. Zentrale Fragen wie der Platz der Religion in der zukünftigen Verfassung, die Kurdenproblematik und die Frage, ob ein zukünftiges Syrien eine parlamentarische oder eine Präsidentschaftsrepublik sein solle, seien im Vorfeld von Genf überhaupt nicht diskutiert worden.
Angesichts der durch den Krieg hervorgerufenen, tiefen Spaltung innerhalb der syrischen Gesellschaft, die sich bei der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mitgesponserten Veranstaltung in Aachen auch in zahlreichen Wortmeldungen niederschlugen, tauchte die Frage auf: Wie soll es weitergehen, wenn die geplanten Genfer Verhandlungen scheitern?
So wie bisher jedenfalls nicht. «Denn je länger der Krieg weitergeht, desto mehr wird der Konflikt von Konfessionalismus und Sektierertum beherrscht», sagte der österreichische Nahostexperte Wilhelm Langthaler von der Initiative «Peace in Syria». «Syrien ist ja jetzt schon zu einer Terroristenfabrik geworden, die dazu geführt hat, dass die legitimen Interessen der Volksbewegung immer mehr verdrängt werden.»
Das sei auch der Grund, warum der im Anschluss an die Genfer Konferenz geplanten zivilgesellschaftlichen Friedenskonferenz in Wien (siehe www.peaceinsyria.org), an der Vertreter des gesamten sozialen, regionalen und konfessionellen Spektrums der syrischen Gesellschaft teilnehmen werden, eine besondere Bedeutung zukäme. Dabei könnten die in Aachen erörterten Vorschläge der Kurden, der Muslimbruderschaft und anderer Teilnehmer viel mehr zum Tragen kommen, als das vermutlich in Genf der Fall sein wird.
Leo Gabriel ist Journalist und Sozialanthropologe und Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums. Er hatte in Aachen die Moderation übernommen.
Die Bundeswehr in Afghanistan
Ein Comic über den verschleierten Krieg
von Manuel Kellner
David Schraven hat tausende Seiten offizieller Dokumente gesichtet und mit einer Reihe von deutschen Soldaten gesprochen. Die gewonnenen Erkenntnisse verarbeitete er nicht zu einer klassischen Reportage, sondern machte daraus zusammen mit dem Zeichner Vincent Burmeister einen Comic.*
«Soldaten sind keine Brunnenbauer. Soldaten sind Soldaten. Sie tragen Waffen. Sie töten, wenn es sein muss. Und sie nehmen zivile Opfer in Kauf, wenn es nicht anders geht.» Das stellt David Schraven in einer Nachschrift zu seiner grafischen Reportage «Kriegszeiten» klar.
Er wendet sich gegen die offiziellen Verniedlichungen, die über viele Jahre hinweg dazu geführt haben, dass Deutschland in fernen Ländern Krieg führt, obwohl die meisten Deutschen sich nicht als Teil einer kriegführenden Nation empfinden. Von «Friedensmissionen» war immer die Rede, von Aufbauhilfe und Sanitäterdiensten. Die Wirklichkeit sah und sieht anders aus.
Schravens und Burmeisters Buch ist in düsteren Farben gehalten, fast grau in grau mit ockerfarbenen und rostroten Tönen, irritierend nüchtern, ohne aufdringliche Schreckensbilder – es ist eher sperrig als eingängig, und der größte Teil des Textes besteht aus wörtlichen Zitaten von deutschen Kriegsteilnehmern.
Aufmarsch
Im ersten Teil des Buches, der den Titel «Aufmarsch» trägt, präsentiert sich der Autor nicht als Gegner des Afghanistankriegs von Anfang an – im Gegenteil. Den Auftakt macht der Anschlag auf das World Trade Center in New York: «Tausende sind in den Türmen verbrannt. Man fand nur wenige Leichen. Die meisten wurden zu Staub. Ich habe den Staub geatmet…» Die Kriegserklärung des US-Präsidenten erscheint als dessen logische Folge: «Jeder, der in New York dabei war, wusste, dass der Krieg begonnen hatte. Der Feind saß in Afghanistan.» Doch dieser Krieg wurde dann über zehn Jahre lang geführt und «Frieden ist nicht wirklich in Sicht».
Deutschland ist mit dabei, zusammen mit seinen Bündnispartnern von der Nato: «Aus einer Bürgerarmee zur Verteidigung Deutschlands wurde eine Berufsarmee – weltweit einsatzbereit. Mit modernen Waffen.» Lange Zeit beschäftigte sich David Schraven nicht mit dem Krieg in Afghanistan, er nahm ihn nur als «Hintergrundrauschen im täglichen Fernsehprogramm» wahr. Aber irgendwann wollte er genauer wissen, wie die Sicherheit der Deutschen am Hindukusch verteidigt wird und wofür schon über 50 Bundeswehrsoldaten gefallen waren, im «Kampf um die Freiheit».
Anfangs, im zerstörten Kabul, sieht Hauptfeldwebel Gerd Thomas Elend, obdachlose Kinder, «viele verlorene Seelen», und besorgt sich bei Händlern das Material, um das große Camp Warehouse aufzubauen. Die Deutschen sollen für Sicherheit sorgen. Noch passiert nicht viel, noch sieht es so aus, als werde nur «Krieg gespielt».
«Die einzige echte Gefahr» geht vom Kommando Spezialkräfte aus. Diese «schweren Jungs» vom KSK sind bis an die Zähne bewaffnet, «Hilfskräfte der amerikanischen Militärmaschine» ohne klare Funktion, und sie bringen ihre schweren Waffen und ihre Granaten in die Unterkunft mit: «Ich hatte vor allem Angst, die sprengen sich selbst in die Luft, und uns gleich mit.»
Viele sind sehr arm in Afghanistan, aber einige sind sehr reich und werden durch den Krieg immer reicher. Kofferweise wird Bargeld verschoben. Drogenbarone organisieren und Warlords sichern den Opiumschmuggel. Die Regierung von Hamid Karzai bekommt laut dem damaligen Außenminister Westerwelle von Deutschland rund 430 Millionen Euro im Jahr. «Muhammed Atta und andere Warlords erhalten von uns für Polizei und Hilfstruppen Millionenbeträge.» Entwicklungshilfe fließt, unter Korruptionsverdacht stehenden Firmen werden lukrative Aufträge zugeschanzt. Insgesamt schaufelt der Westen jedes Jahr rund 3 Milliarden Euro nach Afghanistan.
Der Infanterist Dirk Koszinski erzählt, wie er mit seinem Zug Aufbauarbeiten sichert. Albanische Subunternehmen bohren Brunnen, die oft von den Taliban gleich wieder zerstört werden. Hauptmann Siegmann erklärt das «Peacebuilding», den «Friedensaufbau» bei dem Schulen eingerichtet und Polizisten ausgebildet werden. «Alles, was brisant war, wurde geheim gehalten. Das Erstarken der Aufständischen, die Selbstmorde … das Parlament war außen vor.» Das «Klein-klein» lief «eigentlich gut», aber «niemand dachte darüber nach, mit wem wir zusammenarbeiteten. Wir haben einfach irgendwelche Banditen zu legitimen Herrschern gemacht. Ich habe Massengräber in der Wüste gesehen. Mit den Mördern wollten wir einen Staat machen.»
Festgefahren
Im zweiten Teil, «Festgefahren», ist «der Einsatz im Sumpf stecken geblieben». Es wird bekannt, dass die Familie des Präsidenten Karzai im Drogenhandel mitmischt. Die Korruption hat sich verallgemeinert. Jeder schmiert jeden. Die Wahlen werden gefälscht: «Alles gedeckt vom Westen, auch von uns Deutschen.»
Die deutsche Regierung hält das Bild vom «Entwicklungshelfer in Uniform» aufrecht. Aber es wird gestorben und getötet. Hauptmann Paul Gromzky erklärt, dass die Kämpfe mit den Taliban manchmal tagelang andauern. Der von Oberst Klein ausgelöste Luftangriff am 4.September 2009, durch den fast hundert Zivilisten umgebracht werden, ändert die öffentliche Wahrnehmung des Krieges in Deutschland. Aber der tadschikische Kommandeur Mohammed Atta wird weiter von den Deutschen «unterstützt mit allem, was sie haben.» Dabei soll er hinter den Todeslisten gegen seine alten paschtunischen Feinde stecken, die mit Hilfe der NATO «abgearbeitet werden».
Krise
Die Situation wird immer unhaltbarer. «Krise» heißt der dritte und letzte Teil der grafischen Reportage. Er beginnt mit der Londoner Konferenz 2009. Da ging es den westlichen Staatenlenkern um die Formulierung einer «Strategie» oder um die Frage, «wie man sich möglichst bald ohne Gesichtsverlust aus dem Staub machen kann»: Aufbau von Infrastruktur in Teilen des Landes, Bau von Schulen und Zählen der Mädchen, die da eingeschult werden, Ausbau der Stromversorgung, Werbung von «Abakis», von feindlichen Kämpfern für den Aufbau einer «Art gekaufter Polizeimiliz».
Es geht aber auch um einen «Kampfplan für neue Offensiven der ISAF-Truppen». Ganze Distrikte sollen erobert werden. Die Afghanistan-Karten, die im Comic gezeigt werden, verdeutlichen, dass es eigentlich nur um «Orte entlang der afghanischen Ringstraße» geht, die das Landesinnere einschließt. Nur da kommen die schweren Versorgungstrupps der Westmächte voran. «Niemand bezweifelt, dass die mächtigsten Armeen der Welt eine Straße erobern können. Aber schon wenige Kilometer… entfernt können die Aufständischen das Land übernehmen, die ISAF wird ihnen kaum folgen.»
In diesem letzten Teil wird von Schlachten berichtet, die die Bundeswehr im Rahmen einer viele Monate andauernden Offensive führte, mit Feuergefechten und Panzerangriffen. Sechzehnmal wird eine Panzerhaubitze abgefeuert: «Das Treffergebiet sieht aus wie eine Wüste. Danach ist Ruhe.» Zu den Opfern gibt es keine Angaben. Dafür entkorkt Verteidigungsminister Guttenberg einen neuen Begriff: «kriegsähnliche Zustände». Niemand weiß, wieviele Taliban gefallen sind und wieviele Gefangene der afghanische Geheimdienst gemacht hat. Man weiß aber, dass «Leute wie Dostum», ein mit dem Westen verbündeter Kriegsverbrecher, «Gefangene von Panzern überrollen und Tausende Taliban in Containern in der Wüste verrecken» ließ.
Der Comic endet mit den Worten: «Afghanistan ist nur der Auftakt für die neuen Kriegszeiten.» In seiner Nachschrift kommt David Schraven zu dem Schluss: «Der Krieg in Afghanistan ist verloren.» Dieser Krieg ist aber nicht vorbei. Mitte Januar 2014 wird offiziell vermeldet, dass die Gewalt im Bundeswehrgebiet eskaliert: 2013 wurden bis November im bewährten Verschleierungsdeutsch 1660 «sicherheitsrelevante Zwischenfälle» registriert – 35% mehr als im Jahr davor.
*David Schraven, Vincent Burmeister: Kriegszeiten. Eine grafische Reportage über Soldaten, Politiker und Opfer in Afghanistan. Hamburg: Carlsen, 2012.
Bruce Springsteen: High hopes
Columbia Records, 2014
von Dieter Braeg
In Zeit-online wird die neueste CD von Bruce Springsteen, High hopes, von Jan Kühnemund nicht gerade in den siebten Musikhimmel gelobt: «Wann nimmt dieses Genöle denn ein Ende?» Es ist Springsteens 18.Studioalbum. Ja, es gab Alben, die Springsteen als kritischen Rock-/Popmusiker Geist und Ohr näher bringen: Born to run, Darkness on the edge of town oder Nebraska, und ich erinnere mich gerne an die kämpferische Brüllvorlage Born in the USA.
High hopes allerdings, das ist kein Aufwecker wie das 2012 erschienene Album Wrecking ball, das ich High hopes vorziehe. Springsteen wollte mit diesem 18.Album zwar seinen bisherigen Gefühlsduseleipathosrock verlassen, aber es blieb dann doch alles so, wie man es von ihm schon immer gewohnt ist. Er ist und bleibt ein Arbeitstier Rock Star.
High hopes klingt trotzdem etwas anders. Die E-Street-Band ist umbesetzt und der Gastgitarrist Tom Morello (aus der Metal-Band Rage Against the Machine) sorgt für einen Klang, den andere Springsteen-Alben nicht bieten.
High Hopes ist ein wenig ein Resterampenalbum. Alle zwölf Stücke sind nicht neu. Viele gehören zum seit Jahren bekannten Springsteen-Konzertprogramm der Jahre 2002–2008. Der beste Song ist die Ballade «The wall». Da erinnert er sich an Cichon. Der war eine musikalische Lokalgröße in New Jersey und verschwand spurlos im Vietnamkrieg. Gospel, Ballade, treibender Rock, Banalitäten.
Das Album ist sicher kein sensationelles Meisterwerk, aber das, was das Zeit-Schandmaul verkündet, ist schwer daneben. Es ist ein, trotz oder gerade wegen der Restverwertung, gutes Album!
Ein Blick auf Armut in Deutschland
Versuch einer Rückgewinnung des Politischen im Bild
von Hans-Dieter Hey
Eine Fotoausstellung des Kollektivs R-mediabase versucht, dem bildlichen Exhibitionismus der Armut etwas entgegenzusetzen.
Die Wirtschaft brummt, die Kassen klingeln, Deutschland steht vor der Vollbeschäftigung. Den meisten Menschen geht es gut in einem der reichsten Länder der Welt. So jedenfalls der Mainstream der bürgerlichen Presse. Doch das positive Bild bröckelt. Inzwischen ist von einer dramatischen Zunahme der Kluft zwischen arm und reich die Rede, den Tafeln fällt es schwer, die wachsende Kundschaft zu versorgen. Immer mehr Menschen holen sich Nahrungsmittel aus den Mülleimern. Die Obdachlosigkeit steigt drastisch.
Nun soll an dieser Stelle nichts weiter über Armut ausgeführt werden, die dem kritischen Betrachter ohnehin bekannt ist. Wohl aber darüber, wie mit diesem Skandal bildmedial umgegangen wird. Denn die «stark zunehmende Armut wird von Publizisten wie Politikern weiterhin verharmlost und verdrängt» (Christoph Butterwegge). Dabei wissen wir, dass die Medien eine große Verantwortung tragen, weil es ihr gesetzlicher Auftrag ist, mit den Möglichkeiten der Bebilderung uns eine immer kompliziertere Welt anschaulich zu vermitteln. Und ich schiebe sofort ein, dass sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden, ja, sogar die der Presse eingeräumte Freiheit missbraucht wird.
Infotainment statt gesellschaftliche Relevanz
Regelmäßig finden wir daher bildliche Armutsdarstellungen in Einzelschicksalen und Katastrophenbildern veranschaulicht wie «Florida-Rolf» und seine trügerischen Idylle, einen Obdachlosen, oder wenn umstrittene Meinungsäußerungen prominenter Politiker öffentliches Aufsehen erregen wie im Falle von Franz Müntefering, Guido Westerwelle, Thilo Sarrazin oder aktuell Horst Seehofer. Damit wird die Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Themen «unter der Perspektive des ‹Infotainments› in der Tendenz verstärkt boulevardisiert», schreibt eine Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Doch die bildliche Darstellung einer Suppenküche sagt noch nichts über den Suppenküchenstaat aus, ein Flaschensammler nichts über Altersarmut, Kinder ohne Markenkleidung nichts über Kinderarmut und ein Obdachloser nichts über Obdachlosigkeit. Die gesellschaftliche Relevanz und die Ursachen bleiben vor der Tür. Dazu meinte Berthold Brecht einst provokatorisch, dass es «nicht gestattet sein sollte, Fotos zu veröffentlichen, damit sie gerührt angeglotzt werden». So «ist es gelungen, selbst tiefste Armut auf eine modische, technisch perfekte Weise zu einem Gegenstand der Genusses zu machen», äußerte Walter Benjamin schon 1934. Armutsbilder werden auf diese Weise konsumierbar. Dabei ginge es darum, die gesellschaftlichen Zusammenhänge hervorzuheben, Bilder müssen Partei ergreifen und zum Handeln auffordern.
Die Herausforderung ist hoch, denn wir leben in einer Welt unendlich vieler vor Belanglosigkeit strotzender Bilder, gemacht von Bildbesessenen. Durch die Digitalisierung ist das Bild zum billigen Massenartikel der Kultur- und Freizeitindustrie geworden, deren Ergebnis schließlich auf der Müllhalde der Kulturvergessenheit landet. Wie im Film oder in einer Diaschau folgt ein Bild dem nächsten und macht das vorherige bedeutungslos. In den Social Media wird der Exhibitionismus sozial Verarmter auf die Spitze getrieben. Und zwar ohne die notwendige Bindung an eine bedeutungsstützende kollektive Wirklichkeit. Denn der Konsum gehört dem Individuum, die Deutung der Bilder aber dem Kollektiv. Wahrscheinlich gelingt die Erschütterung der bürgerlichen Sehnsuchtsbilderwelt, gar die Zertrümmerung ihrer Scheinaura, nicht. Aber es muss der Bildkunst um die Rückgewinnung der Politisierung gehen, wie schon Walter Benjamin forderte.
Die Evolution des Sozialen in Bildern
Der Evolution des Bildes muss endlich eine Evolution des Sozialen erfolgen. Vielleicht gelingt das, wenn sich die digitale Bilderwelt mit der analogen arrangiert. Digitale Bilderwelten erhalten erst ihren Wert, «wenn sie mobil durch Netze jagen, sich nicht isolieren, sondern sich dialogisch mit im Hypertext des Internets vernetzen», meint Andreas Schelske. Inhaltlich verbunden mit analogen Fotografien, erhalten sie nicht nur einen kommunikativen Wert, sondern auch den angemessenen Platz für die historische Erinnerung.
Analoge Bilder enthalten die notwendige «wohltemperierte Ruhe» (Schelske) für den Betrachter. Die bekommt man nicht im Internet, sondern in der direkten Kommunikation an sozialen Orten wie Ausstellungen und Veranstaltungen. Denn «herausgehoben durch die Kamera bleibt die Not der Zeit vor uns stehen, sieht uns an und verlangt ein Zwiegespräch», so Berthold Beiler in seinem epochalen Fotowerk Die Gewalt des Augenblicks. Ausstellungen zwingen den interessierten Betrachter, gedanklich zu verweilen und Auge in Auge zu kommunizieren.
In dem Projekt «Armut in Deutschland» des Fotoverbandes R-mediabase wird versucht, ein solches Konzept zu verwirklichen. Lange vor der Ausstellungseröffnung in der Bergischen Universität Wuppertal im November 2013 wurde die Entwicklung des Projekts im Netz begleitet, in Form von Fotografien und Filmen veröffentlicht und so zur Diskussion angeboten.
Dabei war den Fotoaktivisten wichtig, die Fotoausstellung zu Beginn in den intellektuellen Rahmen der Universität und der Veranstaltung «Die nützliche Armut» der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW zu setzen. Der Kontakt zur Basis über die DGB-Bildungseinrichtung in Hattingen war nicht weniger wichtig.
Das Konzept der Ausstellung fordert den weitestgehenden Verzicht auf Klischeevorstellungen, ohne auf den appellativen Charakter zu verzichten und das inzwischen permanent Unerträgliche zu zeigen. Die Bilder sollen dabei die Würde der Betroffenen nicht verletzen. Auf eine ästhetische Überhöhung wurde verzichtet, um die Politik nicht zu entlasten.
Die Ausstellung ist zur Zeit im städtischen Treff «Kick» in Hattingen zu sehen (www.kick-unruhe.de). Weitere Orte folgen.
Weitere Informationen auf: http://r-mediabase.eu/?view=category&catid=209, http://r-mediabase.eu/infos-aktuelles/156-armut-in-deutschland-ausstellungseroeffnung-in-wuppertal.
Reform oder Revolution? Die ewige Streitfrage
Reform und Revolution. (Hrsg. M.Kellner, E.Lieberam, R.Steigerwald.) Hamburg: Laika, 2013. 144 S., 12,80 Euro
von Thies Gleiss
Viermal trafen sich bislang Mitglieder der DKP, der Internationalen Sozialistischen Linken (ISL) und vom linken Rand der Partei Die LINKE in der Parteischule der DKP in Leverkusen, um Grundsatzfragen revolutionärer Strategie zu diskutieren. Dieses strömungsübergreifende Treffen ist angesichts der früheren Anfeindungen schon fast ein Selbstwert, der geeignet ist, unnötige Mauern innerhalb der Linken einzureißen. Die Einführungsreferate des letzten Treffens wurden jetzt vom Laika-Verlag als kleine Broschüre veröffentlich.
Das diesjährige Oberthema «Reform oder Revolution» wurde von den ISL-Führungsmitgliedern Angela Klein und Manuel Kellner; den DKP-Theoretikern Robert Steigerwald und Hans Peter Brenner; den bekannten Mitgliedern der LINKEN Edeltraut Felfe und Ekkehard Lieberam sowie von Karl Hermann Tjaden mit Referaten bearbeitet.
Die Frage ist wahrlich nicht neu in der Geschichte der Arbeiterbewegung: Wie geht der gesellschaftliche Wandel von einer krisengeschüttelten und unmenschlichen kapitalistischen Produktionsweise in Richtung einer humanitären, egalitären und Mensch wie Natur gleichermaßen schützenden und weiterentwickelnden sozialistischen Gesellschaft über die Bühne?
Für Marx und Engels war die Sache noch einigermaßen klar: Die politische Bewusstwerdung der Arbeiterklasse als Klasse ist in ihrer Gesamtheit die Herausbildung einer revolutionären Partei, des subjektiven Faktors einer revolutionären Umwälzung aller gesellschaftlichen Macht- und Besitzverhältnisse, die unvermeidlich auf die Tagesordnung kommt, wenn die objektiven Bedingungen in den Produktionsverhältnisse selbst reif für eine solche Revolution sind.
Der reale Gang der Geschichte hat die Sache dann doch erheblich komplizierter gemacht: Revolutionäre Aufbrüche entstanden nicht in den entwickelten Zentren des Kapitalismus, sondern vor allem in den am meisten ausgebeuteten, sowohl «unter»entwickelten als auch in ihrer Entwicklung von den reichen Zentren abhängigen Ländern. Gleichzeitig setzten die enormen Erfolge einer wachsenden Arbeiterbewegung: ihre Verbände, Gewerkschaften, ihre erstrittenen Rechte und ihre Vertretungen in Parlamenten bis hin zur Regierungsteilhabe – ab 1917 sogar ein eigener, mächtiger Staat – eine Dialektik der partiellen Errungenschaften in Gang, die immer wieder zu Spaltungen der Bewegung, zur Verselbständigung der Funktionärsschichten und zu Bürokratisierung mit den damit verbundenen Demokratieverletzungen und ideologisierenden Theorieverzerrungen führte. Die sich daraus ergebenen Debatten haben seit 150 Jahren zu einem «Marxismus des subjektiven Faktors» geführt, in dessen Spuren auch die Leverkusener Dialoge wandeln.
Ein weithin geachteter Großmeister des Marxismus des subjektiven Faktors war Ernest Mandel, dem Manuel Kellner sein Eingangsreferat widmete. Für ihn, wie für seine Koreferenten Steigerwald, Klein, Lieberam, Felfe und Tjaden, ist die unabhängige Klassenaktivität in Form von Streiks und anderer Formen der Gegenmacht, die Selbstermächtigung und Selbstorganisation in Räten die Basis für die Herausbildung eines neuen Trägers für den gesellschaftlichen Wandel. Ganz im Sinne von Marx ist die Revolution immer aus zwei Gründen erforderlich: Ohne sie sind die alten herrschenden Klassen und Eliten nicht zu stürzen und die unterdrückte Klasse nicht in der Lage, die «ganze alte Scheiße», wie Marx es nannte, oder, mit Lenin, die Muttermale der alten Gesellschaft abzustreifen.
So waren sich alle Teilnehmenden an der Konferenz einig, dass die Überwindung des Kapitalismus einen Bruch erfordert. Die naive Vorstellung, die in der reformistischen und reformerischen Linken vorherrscht, der Kapitalismus könne durch einzelne Reformen in den Sozialismus «hinüberwachsen», ist heute irrealer als noch zu Lenins, Luxemburgs und Trotzkis Zeiten.
Die großen inhaltlichen Pflöcke einer revolutionären Bewegung von heute bilden die Frage der Demokratie und der ökologischen Nachhaltigkeit einer neuen Produktionsweise. Gerade diese Fragen unterstreichen, dass eine solche Revolution nur international zu denken ist, doch mit Ausnahme eines Hinweises von Angela Klein auf die notwendige europäische Perspektive blieb dies seltsam unausgesprochen. Selbst die sich mit der skandinavischen Linken und der neuen lateinamerikanischen Linken befassenden Beiträge von Felfe und Lieberam beschränken sich jeweils auf diese Region.
Insgesamt ein lesenswertes Bändchen, bei dem allein der Beitrag von Hans-Peter Brenner herausfällt, der doch sehr in alter DKP-Tradition verharrt und die Geschichte weniger als Resultat konkreter Kämpfe denn als Bestätigung von Parteidideologien betrachtet.
Blau ist eine warme Farbe
Frankreich 2013, Regie: Abdellatif Kechiche. Länge: 175 Minuten
von Ilona Herrmann
Seit dem 19.Dezember ist in den Kinos der Film Blau ist eine warme Farbe (Originaltitel: La vie d’Adèle – Chapitres 1&2) des französischen Regisseurs Abdellatif Kechiche zu sehen, der gemeinsam mit den beiden Hauptdarstellerinnen bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes 2013 die Goldene Palme gewann.
Ein filmisches Meisterwerk, das wie kein anderes zuvor den Beginn und das Ende einer langjährigen Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen beschreibt, oder anders ausgedrückt: Eine dreistündige außergewöhnliche Filmstudie, die die intensive Romanze zwischen der siebzehnjährigen Schülerin Adèle (Adèle Exarchopoulos) aus dem Arbeitermilieu und der lesbischen Kunststudentin Emma (Léa Seydoux) darstellt. Adèles Leben ändert sich gravierend, als sie Emma, der Frau mit den blauen Haaren, zum erstenmal auf der Straße begegnet, während sie ungezwungen und ausgelassen Arm in Arm mit einer anderen Frau an ihr vorübergeht.
Am meisten hat mich an dem Film fasziniert, dass er von einer lesbischen Liebesbeziehung handelt und doch kein «klassischer Lesbenfilm» ist, sondern eine Geschichte zweier Liebenden par excellence, über die Höhen und Tiefen einer Leidenschaft und die Suche nach der sexuellen Identität. Die intensive Beziehung zwischen den beiden Frauen kann die soziale Auswirkung der extrem unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassenzugehörigkeit nicht überwinden, die letztendlich zur Trennung führt. Durch die Großaufnahmen erleben die Zuschauer hautnah und ungeschminkt die handelnden Personen, im emotionalen wie im physischen Sinne, wie es kein anderer Film bisher darstellen konnte.
Die internationale Filmkritik hat sich aber darauf gar nicht so sehr eingelassen, sondern sich vielmehr auf die Darstellung der leidenschaftlichen Sexszenen konzentriert, die etwa 9 von 175 Minuten des Films ausmachen. In einer versteckten Sozialdebatte wurde dem Regisseur Kechiche ein männlicher Blick und Pornografie vorgeworfen – völlig zu Unrecht. Die Darstellung der Leidenschaft enthält keinerlei Bloßstellung. Abdellatif Kechiche beantwortet im Film den gesellschaftlichen Umgang mit Neuem mit der treffenden Frage, die Adèle in einer Diskussion ihren Mitschülerinnen stellt: «Seid ihr etwa die Sexpolizei, oder was?»
Die Idee des Films basiert auf der freien Adaptation des Grafik-Romans Le bleu est une couleur chaude (Blau ist eine warme Farbe) der lesbischen Autorin Julie Maroh, für den sie 2010 ausgezeichnet wurde.
Abdellatif Kechiche ist ein herausragendes und berührendes Drei-Stunden-Epos gelungen, bei dem keine Minute zu viel ist. Die Schauspielerinnen Léa Seydoux und die Neuentdeckung Adèle Exarchopoulos bereichern mit ihrer authentischen Natürlichkeit und ausdrucksstarken Schauspielkunst.
Blau ist eine warme Farbe ist der fünfte Spielfilm des unabhängigen Filmemachers und Schauspielers Kechiche, der in Tunesien geboren wurde und mit sechs Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich kam. In seinen bisherigen Arbeiten hat er sich vor allem mit dem Leben von Migranten nordafrikanischer Herkunft auseinandergesetzt sowie mit den Lebensverhältnissen von Migranten in Frankreich. Nicht alle seine Filme sind bis jetzt in Deutschland bekannt, geschweige denn synchronisiert.
Seine bisherigen Werke: Voltaire ist schuld (La faute à Voltaire), 2000; L’esquive, 2003; 2007: Couscous mit Fisch (La graine et le mulet), 2007; Vénus noire, 2010.
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