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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2014
von Alexander Busgalin

Im November 2013 besetzten tausende Ukrainer den Maidan-Platz (Unabhängigkeitsplatz) in Kiew. Sie protestierten gegen eine Entscheidung ihres Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch, die Beitrittsverhandlungen mit der EU auszusetzen und stattdessen, wie andere ehemalige Sowjetrepubliken, einer Zollunion mit Russland beizutreten.

Die Ukraine ist stark verschuldet, die Regierung hatte deshalb von der EU einen Kredit in Höhe von 27 Mrd. Dollar als Gegenleistung für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens erbeten. Die EU hatte daraufhin harte neoliberale Reformen im Stil der Schocktherapie für Griechenland im Verlauf der Eurokrise oder der für Russland 1992 unter Jelzin verlangt. Teil dieser «Reformen» sollte ein Abbau der Schwerindustrie in der Ostukraine sein – mit drastischen Folgen wie Arbeitslosigkeit und ein Abbau der Sozialleistungen.

Zum zweitenmal in zehn Jahren ist Kiew zum Schauplatz von Massenprotesten und Zusammenstößen mit den Behörden geworden. Aber die Ereignisse vom Spätherbst 2013 ähneln nur oberflächlich denen von 2004. Die Lage ist weitaus komplexer geworden.

Im Jahr 2004 waren die Hauptkraft auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, Menschen, die die Willkür und Verachtung der herrschenden politisch-ökonomischen Eliten satt hatten. Nationalistische Gruppen waren 2004 vielleicht nicht weniger stark als 2013, aber in erster Linie brachte die Bevölkerung ihre Empörung zum Ausdruck. Außerdem ging es 2004 nicht nur um eine geopolitische, sondern auch um eine sozialpolitische Alternative – die zwischen uns, den Bürgern, und ihnen, den Parasiten.

Die Lage auf dem Maidan ist jetzt in vieler Hinsicht eine andere. Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Parasitenverhalten der Behörden ist nach wie vor vorhanden, die zentrale Rolle spielt jetzt aber eine sorgfältig orchestrierte Kampagne prowestlicher politischer und ökonomischer Eliten. 2004 haben diese noch hinter den Kulissen operiert, nun haben sie sich an die Spitze der Proteste gestellt. Und es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt: 2013 sind nationalistische und profaschistische Organisationen die gut organisierte Hauptkraft der Proteste.

Die Widersprüche, die die Ukraine zerreißen, sollten jedoch nicht unter geopolitischen Aspekten betrachtet werden, wie es jetzt en vogue ist, sondern vor dem Hintergrund ihrer sozialökonomischen, politisch-ideologischen und kulturell-historischen Dimension.

Die Bevölkerung der Ukraine besteht aus Stahlarbeitern und Beamten, aus Lehrern und Bauern, aus Dienstleistungsunternehmern und Oligarchen, wobei letztere in verschiedene «Klans» gespalten sind… Das Land hat prowestliche, prorussische und «unabhängige» Gewerkschaften und Verbände. Letztere sind zumeist Parlamentsparteien, pragmatisch bis zum Zynismus, die die Frage der Integration in die EU vor allem durch eine wahltaktische Brille betrachten.

Die Ukraine weist sowohl eine ukrainischsprachige als auch eine russischsprachige Bevölkerung auf. Schließlich hat die Ukraine jahrhundertelange Kriege mit Polen und Litauen, 450 Jahre Einheit mit Russland und Jahrhunderte der Unterdrückung durch das Russische Reich hinter sich. Sie hat aber auch den Heroismus antifaschistischer Partisanen und die Verbrechen faschistischer Kollaborateure gekannt.

Die Ukraine und Russland

Das heutige Russland birgt nach wie vor ein gewaltiges historisches Potenzial hinsichtlich Kultur, Wissenschaft und Bildung. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien verweisen darauf, dass sich die Mehrheit der Bürger Russlands immer noch zu den Werten soziale Gerechtigkeit und Demokratie bekennt. Bis jetzt strebt die Bevölkerung Russlands trotz tiefer innerer Widersprüche und eines wachsenden Nationalismus immer noch mehrheitlich nach Freundschaft und gleichberechtigten Beziehungen zu den Bevölkerungen anderer Länder. Das gilt besonders für solche Länder wie der Ukraine. Unsere Eltern kämpften gemeinsam gegen den Faschismus, unsere Völker bauten jahrhundertelang an einem vereinigten soziokulturellen Raum, in dem sich niemand darum kümmerte, ob bspw. der Schriftsteller Nikolai Gogol als Ukrainer oder Russe zu betrachten sei.

Daher rührt der starke Trend zur Integration der Völker Russlands und der Ukraine – nicht bloß der Ukrainer und der Russen; diese Länder sind multinational, und dies zu begreifen ist von grundlegender Bedeutung.

Aber das heutige Russland steht auch für einen Großmachtchauvinismus, der vom barbarischen Kapitalismus und den herrschenden Eliten genährt wird. Für Russlands Oligarchen ist die Ukraine vor allem ein neues Territorium, in dem sie dieselbe Politik der parasitären Plünderung natürlicher Reichtümer und billiger Arbeitskraft einführen können wie in Russland. Für die Bevölkerung der Ukraine bedeutet dies dasselbe wie für die Bevölkerung Russlands: eine Mixtur aus brutaler kapitalistischer Ausbeutung und halbfeudaler Diktatur.

Das macht die derzeit in Russland herrschende Elite zu einem extrem problematischen Partner für eine Integration, um es milde auszudrücken. Eine ökonomische und politische Integration mit diesem Russland würde nur die prorussischen Oligarchen und prorussischen politischen Eliten in der Ukraine stärken. Die Bevölkerung der Ukraine käme zwar einerseits in den Genuss relativ billiger Ressourcen für sich selbst und für die Produktion, und die Schwerindustrie und das Industrieproletariat würden erhalten werden (und vielleicht sogar wachsen). Doch im Gegenzug würde sie sich auch die Bewahrung und Stärkung primitiv-kapitalistischer Formen der Ausbeutung und einen paternalistisch-bürokratischen Staatsapparat sowie die Gefahr der geopolitischen Dominanz der russischen Bürokratie einhandeln. Im Endergebnis würde sich für die meisten Menschen in der Ukraine wenig ändern.

Die Europäische Union

Die Errungenschaften in der EU sind real und allen vertraut, wenigstens wenn wir von den Ländern im «Zentrum» der EU sprechen. Hier bleiben trotz der aktuellen Schwierigkeiten viele positive Aspekte übrig. Das «skandinavische» Modell in Nordeuropa weist reale Vorzüge auf im Vergleich zu Systemen, wie sie in Russland und der Ukraine herrschen: Es gibt dort eine progressive Einkommensteuer, soziale Sicherungssysteme, einen weitgehend freien Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge und Kultur und starke, unabhängige Gewerkschaften. Diese Länder haben einen geringen Grad an sozialer Differenzierung (mit einem sechs- bis siebenfachen Abstand zwischen den reichsten und ärmsten Schichten der Bevölkerung – halb so viel wie in Russland oder der Ukraine) und die Zivilgesellschaft hat reale Rechte. In diesem Fass voll sozialdemokratischen Honigs steckt jedoch auch ein Löffel voll Teer. Auch mehr als nur ein Löffel. Die beeindruckenden sozialen Errungenschaften in diesen Ländern wurden vor Jahrzehnten erreicht, danach stoppte der Prozess.

Wie in Russland müssen wir auch in unserer Analyse der EU unterscheiden zwischen den Errungenschaften der Bürger und der Politik der transnationalen Konzerne und der Regierungen der NATO-Länder. Bei den Errungenschaften denken wir vor allem an die Errungenschaften der Werktätigen, ihrer Gewerkschaften, der linken Parteien und der sozialen Bewegungen, deren aktiver Kampf über mehr als ein Jahrhundert für soziale und Bürgerrechte unleugbare Resultate gebracht hat.

Eine Integration der Ukraine in die EU würde jedoch nicht bedeuten, dass die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine in einer voraussehbaren Zukunft auf dieselbe Weise leben können werden wie die Bürger Deutschlands oder Österreichs. Wie die Welt insgesamt ist auch die EU in reiche und arme Regionen gespalten. Auf der einen Seite gibt es die «Kernländer» der europäischen Multis, in denen sich die Masse des Kapitals und die innovativsten Technologien konzentrieren. Auf der anderen Seite finden sich die Länder mit der billigen Arbeitskraft, der rohstoffausbeutenden Industrie, den umweltverpestenden Dreckschleudern, den Montagefabriken und einer Bevölkerung, die bereit ist, 12–14 Stunden am Tag zu arbeiten. Die soziale Differenzierung innerhalb der EU ist nahezu so groß wie die in Russland und der Ukraine. Wenn die Ukraine also den Weg der Integration in die EU geht, wird sie zur armen Peripherie gehören.

Genau genommen stellt dies auch niemand in Frage. Es ist nur so, dass die proeuropäischen Kreise in der Ukraine dies «vergessen» oder, genauer gesagt, sich weigern, das zu diskutieren. Eine Integration in die EU würde für die Ukrainer eine extrem widersprüchliche Situation schaffen, in der gleichen Weise wie wenn sie in Richtung Russland marschieren würden. Sie könnten eine gewisse Stärkung des Parlamentarismus und der Rechte verschiedener Minderheiten erwarten (wohl kaum der Rechte für Gewerkschaften oder Linke). Die ukrainische Elite könnte in einen leichteren Dialog mit dem Westen treten und sich in das EU-Establishment integrieren. Vor allem aber würden die prowestlich orientierten Fraktionen der ukrainischen Oligarchen im Wettbewerb um Märkte und staatliche Ressourcen den Sieg davontragen. Der Prozess der Deindustrialisierung würde intensiviert und der ukrainische Nationalismus gestärkt, was substanzielle soziokulturelle Probleme für die russischsprachige Bevölkerung zur Folge hätte.

Auf eigenen Füßen stehen

Was ist nun das beste für die Ukraine? Soll sie eine weitere Randregion der EU werden, sich an Russland orientieren oder ein unabhängiges Land der Dritten Welt sein?

Zweitens sind unterschiedliche Schichten der ukrainischen Gesellschaft an unterschiedlichen Lösungen interessiert. Für die meisten Bauern und für das Industrieproletariat in der östlichen Ukraine verspricht eine Zusammenarbeit mit Russland (wir sprechen hier nicht von einem Anschluss der Ukraine an Russland!) mehr Stabilität und würde keine neuen kulturellen und Sprachprobleme schaffen. Dasselbe gilt für Lehrer und andere hochqualifiziert Beschäftigte in staatlichen Institutionen. All diese Personen würden eine relative Stabilität erhalten im Austausch gegen eine paternalistische Bevormundung seitens der ukrainischen Bürokratie sowie weitere Einschränkungen ihrer sozialen und Bürgerrechte.

Das alles ist extrem ambivalent. Ein eindeutiges und wichtiges Plus wäre jedoch die Wiederbelebung und Intensivierung des soziokulturellen Dialogs zwischen den beiden Ländern.

Für die meisten «Freiberufler», für die kleine und mittlere Handelsbourgeoisie, für diejenigen Oligarchen, deren Aktivitäten mit den westlichen transnationalen Konzernen verflochten sind, und für die prowestlichen politischen Kräfte wäre eine EU-Orientierung kurzfristig vorteilhafter.

Paradoxerweise könnten unabhängige Gewerkschaften und verschiedene Nichtregierungsorganisationen (besonders solche, die weitab von den drängenden sozialen Problemen tätig sind und sich z.B. für die Rechte von Homosexuellen engagieren) aus einer Integration in die EU vorübergehend Vorteile ziehen. Diese demokratischen Fortschritte wären jedoch kaum von Dauer, falls sie überhaupt eintreffen: In den Ländern der EU-Peripherie werden die Normen der sozialen und Bürgerrechte auffallend leicht verletzt und die Brüssler Bürokratie zeigt sich erstaunliche blind gegenüber solchen Verstößen, solange sie nicht die Interessen europäischer Konzerne oder der NATO berühren.

Anders als bei den Ereignissen von 2004 waren 2013 auf dem Maidan Nationalisten und Faschisten die größte und bestorganisierte Kraft. Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Die wachsende Stärke der rechten nationalistischen und profaschistischen Organisationen, in der Ukraine wie auch in den baltischen Staaten, haben unmittelbar nicht nur die staatlichen Instanzen dieser Länder zu verantworten, sondern auch die tonangebenden Kreise in der EU. Die liberalen Demokraten Europas haben schon mehrfach, und mit monströsen Resultaten, versucht, die faschistische Karte zu spielen (erinnert sei nur an das Münchner Abkommen 1938). Wenn sie sich nun bei den Maidan-Protesten auf Nationalisten und Faschisten stützen, ist das im Kern ein solches Verbrechen (wenngleich von unvergleichlich geringerer Größenordnung).

Drittens zeigt eine Analyse der Lage in der Ukraine aus marxistischer Sicht, dass wir uns davon frei machen müssen, zwischen zwei gleichermaßen falschen Alternativen das vermeintlich kleinere Übel zu wählen. Wir müssen eine geradlinige Antwort geben, d.h. in erster Linie müssen die sozioökonomischen, politischen und kulturellen Probleme gelöst werden. Die Antwort liegt nicht auf der Ebene pragmatischer Geopolitik, nach dem heute gängigen Motto: «An wen sollen wir uns verkaufen?», sondern auf der Ebene radikaler ökonomischer und politischer Reformen innerhalb der Ukraine selbst.

Alexander Busgalin lehrt an der Staatlichen Universität Moskau Politische Ökonomie und gibt die Zeitschrift Alternatives Russia heraus.

 

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