von Christoph Marischka
Ende 2003 nahm der Rat der EU die Europäische Sicherheitsstrategie mit dem Titel «Ein sicheres Europa in einer besseren Welt» an; seitdem operiert sie mehr oder weniger auf dieser Grundlage.
Der Name ist Programm, der Gedanke der Weltinnenpolitik durchzieht das Papier. Eine bessere Welt ist diejenige, welche Europas Sicherheit gewährleistet, sprich: europäischen Interessen dient. Diese Interessen sind gefährdet durch Instabilität und scheiternde Staaten, die die ganze Welt und auch die Menschen vor Ort bedrohen. Ihrem Selbstverständnis nach leistet die EU den Menschen auf der ganzen Welt und zugleich sich selbst also einen Dienst, wenn sie Staaten aufbaut und Regionen stabilisiert. Hierzu hat sich die Europäische Union ein breites Instrumentarium geschaffen, das systematisch die Grenze zwischen zivilen und militärischen Maßnahmen der Außenpolitik verwischt.
Zivil-militärische Instrumente
Während die meisten Mitgliedstaaten jeweils über eigene, klar militärische Programme zur Satellitenaufklärung verfügen, wurden entsprechende Einrichtungen auf Europäischer Ebene primär für «humanitäre Aufgaben» geschaffen bzw. mit diesen begründet, die jedoch zugleich auch gemeinsamen Militäreinsätzen dienen können.
Ähnliches gilt für die teilweise durchaus geheimdienstlich arbeitenden Lagezentren, die eine Mischung aus zivilgesellschaftlichen Frühwarnsystemen und strategischer Aufklärung darstellen. Deren wesentliche Stütze sind die, mittlerweile im Europäischen Auswärtigen Dienst zusammengefassten, EU-Botschaften («Delegationen»), die parallel zu den nationalstaatlichen Botschaften existieren. Sie spielen aber, besonders in Konfliktgebieten, darüberhinaus eine Rolle beim «Staatsaufbau», etwa bei der Polizei- oder Militärausbildung, im Ernstfall auch bei der Planung von Sanktionen oder bei der Anerkennung nicht demokratisch oder innenpolitisch legitimierter Regierungen.
Hierzu wurden mit dem (Finanz-) Instrument für Stabilität, mit den gemeinsamen Verhandlungen mit den Nehmerländern im Rahmen des Cotonou-Abkommens und mit einem immer ausgeklügelteren System EU-weiter Sanktionen Instrumente geschaffen, um «gezielt» einzelne Fraktionen im politischen oder militärischen Apparat von Drittstaaten zu stärken oder zu schwächen.
Auch die «humanitäre Hilfe» und die Entwicklungszusammenarbeit wurden auf europäischer Ebene eng mit militärischen Maßnahmen und ihrer Planung verwoben. So werden aus dem Europäischen Entwicklungsfonds Einsätze der Afrikanischen Union etwa in Somalia, Mali und der Zentralafrikanischen Republik finanziert, die durch kleine europäische Polizei- oder Militärmissionen flankiert werden. Auch diese Militärmissionen, etwa im Kongo, Uganda oder Mali, und auch die EU-Polizei- und Grenzschutzmissionen wie in Afghanistan werden von der EU durchaus als Entwicklungshilfe missverstanden.
Die Nicht-Strategie der EU
Was Europa hilft, hilft der Welt und hilft den Menschen und wird deshalb auch von der «internationalen Gemeinschaft», regionalen Bündnissen und den vielen Partnerstaaten unterstützt – so der Grundgedanke der Europäischen Sicherheitsstrategie, die deshalb den Namen Strategie nicht verdient.
An die Konflikte und Interessenunterschiede nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen Bündnissen, Regional- und Weltmächten verschwendet diese Nicht-Strategie keinen (ausformulierten) Gedanken. Für sie gibt es keine Konkurrenten – Feinde schon gar nicht – und auch keine Zielkonflikte, weder zwischen Staaten, Bündnissen und Blöcken, noch zwischen humanitären und wirtschaftlichen Zielen.
Die Europäische Außenpolitik im Werden ist deshalb nicht fokussiert, sondern ausgreifend. Im Endeffekt ist dadurch die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU überall dabei, aber nirgendwo führend. Das liegt auch daran, dass in der Nicht-Strategie eben keine Prioritäten für genuin militärische Interventionen genannt werden, also solche, die mit hohen Kosten auch im Sinne sterbender Soldaten verbunden wären, und dass es für robuste Kriege und teure militärische Beschaffungsprogramme noch keine Entscheidungsstrukturen gibt, die an den nationalen Parlamenten vorbeiführen.
In der Praxis hat sich jedoch eine Arbeitsteilung herauskristallisiert. Da ist einerseits die Zusammenarbeit mit der NATO, die zunächst auf dem Balkan und später in Afghanistan die EU eher zum Juniorpartner gemacht hat. In Afrika hingegen wurde eine enge Kooperation mit den sog. Friedenstruppen der Vereinten Nationen (Blauhelmen) eingeübt und institutionalisiert – zunächst im Kongo, dann in der Zentralafrikanischen Republik, dem Tschad und der Elfenbeinküste. Zugleich wurden in Afrika regionale Interventionstruppen und entsprechende Entscheidungsgremien aufgebaut und unterstützt, die in Ostafrika weitgehend unter US-amerikanischer, in Westafrika weitgehend unter französischer Führung stehen.
Ein paar tausend afrikanische Soldaten und einige Dutzend europäische Militärausbilder aber reichen noch nicht, um ernsthaft Europäische Interessen, womöglich gar gegen den Widerstand halbwegs «funktionierender» Staaten und Armeen, durchzusetzen.
2011 war es Frankreich, das an der Seite einmal der UN, einmal der NATO, flankiert durch die oben genannten zivil-militärischen Instrumente der EU, militärisch in der Elfenbeinküste und in Libyen intervenierte und de facto einen Regime Change durchsetzte. Das destabilisierte die gesamte Region, die mittlerweile als «Sahara-Gürtel» bezeichnet wird und für die die Europäische Union kurz zuvor eine Regionalstrategie, die Sahel-Strategie, entworfen hatte. Genau diese Destabilisierung hat eine ganze Reihe offener und verdeckter Interventionen Frankreichs in Mali, Niger und der Zentralafrikanischen Republik eingeläutet, die jeweils die EU einbinden (etwa durch die EUCAP-Niger-Mission). Letztlich war es bislang aber Frankreich (in Zusammenarbeit mit den USA) überlassen, vor Ort zu bestimmen, wer künftig das Sagen hat.
Deutscher Positionswechsel
Das war der Stand bis zum Regierungswechsel in Deutschland. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es zwei Möglichkeiten für eine deutsche Europapolitik in Sachen «Verteidigungspolitik»: Entweder man nimmt eine konfrontative Haltung gegenüber Frankreich ein und sabotiert die, insbesondere für die Legitimation wichtige, europäische Unterstützung für Frankreichs Afrikapolitik. Mit dem Verteidigungsabkommen zwischen Frankreich und Großbritannien von 2010, das kurz darauf in Libyen Anwendung fand, zeichnete sich eine Schwächung der gemeinsamen Außenpolitik und damit der EU auch auf dieser Ebene und ein damit einhergehender Schulterschluss zwischen Frankreich und Großbritannien ab.
Die zweite Möglichkeit für eine deutsche europäische Verteidigungspolitik bestand darin, innerhalb der französisch dominierten Afrikapolitik im Rahmen der EU eine aktivere, militärische Rolle einzunehmen. Für diesen Weg hat sich die neue Bundesregierung entschieden, als sie im Vorfeld der Sicherheitskonferenz in München zunächst konkret für Mali und die Zentralafrikanische Republik, später im allgemeinen eine aktivere militärische Rolle Deutschlands ankündigte und sich von der vermeintlichen «Kultur der Zurückhaltung» Westerwelles lossagte.
Zu einer aktiveren militärischen Rolle aber gehört, wie bereits angedeutet, die Formulierung von Interessen, Schwerpunktregionen und konkreten militärischen Szenarien. Genau dies geschah im Umfeld der Sicherheitskonferenz. Der stellvertretende Unionsfraktionschef Schockenhoff etwa formulierte: «[W]ir müssen in Afrika im Rahmen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union Schwerpunkte setzen. Wir müssen nicht nur überlegen, wie wir enger zusammenarbeiten können, sondern wir müssen uns auch fragen, in welchen geografischen Regionen denn die Sicherheit Europas gefährdet ist.»
Eine solche Region sei laut Schockenhoff der «Sahara-Gürtel». Hier gebe es «eine ganze Reihe von scheiternden und gescheiterten Staaten … in denen es praktisch keinerlei staatliche Souveränität, kein Gewaltmonopol mehr gibt, und die Mischung von fundamentalistischem Terror, von Drogen- und Menschenhandel, von organisierter Kriminalität, ist eben eine unmittelbare Bedrohung für die Europäische Union, die sich auf Flucht, Vertreibung auswirkt…»
In dasselbe Horn stieß Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Man müsse «darüber reden, dass wir in Afrika Schwerpunkte bilden» und dürfe dabei «die militärischen Fähigkeiten in Europa nicht jeder für sich betrachten», sondern müsse darauf hinarbeiten, dass «die Länder sich auf bestimmte Aufgaben spezialisieren».
Konkret sollen deutsche Soldaten nach französischer Intervention die Sicherung der Hauptstadt und der Flughäfen übernehmen, afrikanische Stabilisierungskräfte einfliegen und vor Ort Soldaten und Polizisten trainieren.
Auch die Interessen wurden in München u.a. von Schockenhoff auf den Punkt gebracht: «Zur Stabilität gehören natürlich ökonomische Interessen, und dass gerade wir Deutschen, die wie kein anderes Land volkswirtschaftlich vom Export leben, ein wirtschaftliches Interesse an Stabilität haben … Natürlich gehört zur Stabilität eben auch Welthandel, Freihandel.»
Krieg und Hunger
Am Tag der Münchner Sicherheitskonferenz schlugen elf Hilfsorganisationen, von ihr ungehört, Alarm: 800000 Menschen im Mali leiden Hunger, 69% der Bevölkerung leben nach internationalen Standards in Armut, weitere 3 Millionen Menschen sind in allein Mali von Hunger bedroht. Die französische Presseagentur AFP zitierte in der entsprechenden Meldung Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Krise sei durch schwache Ernten und die französisch geführte Intervention ausgelöst worden. Kaum war die Sicherheitskonferenz vorbei, meldete IRIN, der humanitäre Nachrichtendienst der UN, am 3.Februar, dass im «Sahara-Gürtel» 2014 20 Millionen Menschen – und damit 8,7 Millionen mehr als im Vorjahr – auf Lebensmittelhilfen angewiesen sein werden.
Die EU beschloss einen eigenen Einsatz in der Zentralfrikanischen Republik, der in den ersten neun Monaten 26 Millionen Euro kosten wird, und gab bekannt, sie werde 50 Mio. Euro für den Einsatz afrikanischer Soldaten in Zentralafrika aus dem Europäischen Entwicklungsfonds bereitstellen. «Nach Afrika, für Europa» titelte die Süddeutsche Zeitung.
Christoph Marischka ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI) Tübingen.
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