Am 8.Februar startete in Tuzla, der wichtigsten Industriestadt der Föderation von Bosnien-Herzegowina, das «Bürgerplenum».
Es tritt allabendlich um 18 Uhr zusammen, offen für jeden.Hier treffen sich Univesitätsprofessoren, Juristen, Arbeiter der privatisierten Betriebe, Vereinsmitglieder, Studierende usw. Die Versammlung stellt in Arbeitsgruppen die Forderungen auf, die der Kantonalversammlung vorgetragen werden sollen, um eine demokratische Lösung zu finden und eine neue Regierung zu bilden. Für jedes Plenum werden die Moderatoren neu bestimmt. Die Entscheidungen fallen per Mehrheitsbeschluss; bei Stimmengleichheit wird ein Konsens gesucht. Jeder hat die gleich, begrenzte Redezeit.
Das Plenum versteht sich als Faktor der Zivilgesellschaft; ihm ist vor allem daran gelegen zu verhindern, dass die Demonstrationen manipuliert werden. Diese Maßnahme richtet sich vor allem gegen Einmischungsversuche der nationalistischen Parteien. Die Teilnehmenden möchten, dass die Politik sich in ihre Versammlungen nicht einmischt; es sollen nur die vorrangigen sozialen und wirtschaftlichen Fragen des Kantons erörtert werden – dabei geht es mittlerweile nicht mehr allein um die Lage der Arbeiter der privatisierten Betriebe, sondern um die Wirtschaft des Kantons überhaupt. Aus diesem Grund weigern sie sich zur Zeit, über die Frage der Auflösung der Kantone in eine Föderation zu beraten.
Das Plenum hat auch gefordert, dass eine Untersuchung über die Rolle der Sicherheitskräfte und der Medien auf den Demonstrationen durchgeführt wird, um der Desinformation darüber entgegenzutreten, und dass die Behörden die Urheber zur Verantwortung ziehen. Das Plenum hat drei Arbeitsgruppen gebildet, die sicherstellen sollen, dass die Demonstrationen unter der Kontrolle ihrer Initiatoren verlaufen.
Das Plenum hat die Unterstützung der Universität Tuzla, verschiedener internationaler Organisationen sowie des britischen Außenministers William Hague. Der Bürgermeister von Tuzla hat moralische und materielle Hilfe in Aussicht gestellt. Das Plenum tagt jetzt im Stadttheater.
Solche Bürgerplena gibt es zunehmend auch in anderen Städten, so auch in Sarajevo.
43 Minister und drei Regierungschefs von Kantonen, darunter dem von Sarajevo und Tuzla, mussten bislang ihren Hut nehmen.
Der kroatische Premierminister, Zoran Milanovic, hat in Mostar versucht, die kroatische Gemeinde gegen diese Demonstranten aufzuwiegeln, sie seien von «Muslimen» angestiftet. Kroaten und Muslime dieser Stadt haben jedoch gemeinsame Demonstrationen «gegen die schlechte Politik und die Korruption des Systems» durchgeführt. Die Revolte hat sich auch auf die Städte Banja Luka und Bijeljina in der serbischen Republik Srpska ausgedehnt. Die Verbände der Kriegsveteranen haben in einer gemeinsamen Erklärung die «Kriminalität, Korruption und Vetternwirtschaft» in dieser Republik angegriffen.
Auch in Serbien selbst streiken Arbeiter mehrerer Unternehmen, die seit Monaten keinen Lohn bekommen haben. Solidaritätsadressen an die Protestbewegung in Bosnien treffen aus Zagreb, Lubljana und Belgrad sowie aus dem nichtjugoslawischen Ausland ein.
Der Hohe Internationale Vertreter in Bosnien-Herzegowina, Valentin Inzko, hat die Ausschreitungen verurteilt und angekündigt, die Streitkräfte der EU, EUFOR, zu verstärken. Hier steht, anders als in der Ukraine, die EU nicht auf der Seite der Opposition.
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