Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2014
Nachruf

vonTheresia Degener

Als am 5.Februar 2014 Gerlef Gleiss starb, verlor die deutsche Behindertenbewegung und die deutsche Linke einen der wichtigsten Querdenker in Sachen Behindertenpolitik und einen wunderbar warmherzigen, aufrichtigen und humorvollen Genossen.Gerlef Gleiss war seit über 30 Jahren Mitstreiter der radikalen Behindertenbewegung, als überzeugter Trotzkist Mitglied der IV.Internationale und zuletzt Mitglied der Linken. Bereits mit 13 Jahren in der linksradikalen Schülerbewegung aktiv, engagierte sich Gerlef nach seinem Unfall mit 17 Jahren in der linken Behindertenbewegung. Er fiel als scharfzüngiger Mitstreiter auf, der kein Blatt vor den Mund nahm und auch nicht davor zurückscheute, sich mit den eigenen Reihen anzulegen.

Dabei hat er sich mit unterschiedlichsten Themen befasst. Neben der Hartz IV-Gesetzgebung und Grundfragen der radikalen Krüppelpolitk (Dürfen Nichtbehinderte in die Krüppelgruppe? Dürfen wir Gelder der Aktion Sorgenkind annehmen?) gehörten dazu bioethische Fragen.

In der Euthanasiediskussion sah er eine «mörderische Dynamik» zur Legitimation von ökonomisch getragenen Sanierungen im Gesundheitssystem, die das «sozialverträgliche Ableben» von kostenintensiven PatientInnen unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung zur Folge haben. Dass der Protest dagegen hauptsächlich von den Kirchen, nicht aber von der deutschen Linken formuliert wurde, empfand er als bitter. Fragen der Biopolitik, so sein Appell, gehörten auf die linke Agenda: «Der Widerstand gegen Stammzellenforschung und ähnliche Weichenstellungen in die ‹schöne neue Welt› darf nicht länger Frauengruppen, Behindertenverbänden und christlichen Moralaposteln überlassen bleiben. Er gehört auf die Tagesordnung jedes Gewerkschafts- und Parteitags, er muss selbstverständlicher Teil des Kampfes gegen Globalisierung und Faschismus werden.»

Gerlef hat sich intensiv und selbstkritisch mit der Linken auseinandergesetzt und festgestellt, dass selbst der verehrte Trotzki in seinen Schriften nicht weit von den eugenischen Utopien moderner Bioethiker entfernt war. In seinen Publikationen brillierte Gerlef mit klaren Analysen, humorvollem Stil und zumeist sachgerechter Auseinandersetzung. Seine scharfen Anklagen waren gefürchtet. Wenn Gerlef gelitten hat, dann an der von ihm als «Kopfstreichelmentalität» genannten Haltung des hegemonialen Mitleids und Bevormundung durch Nichtbehinderte, die er in vielen seiner Aufsätze thematisiert.

Aber Gerlef hat nicht nur gemeckert. Er hat auch aufgebaut. Unter anderem das Autonom Leben e.V. Hamburg, eine Beratungsstelle für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen, und die Hamburger Assistenzgenossenschaft, die dem gleichen Ziel dient. Er hat für sich und viele andere behinderte Menschen ein selbstbestimmtes Leben in Würde außerhalb von Anstalten und anderen Sondereinrichtungen erkämpft. Er hat auch für die gerechte Entlohnung und Absicherung der AssistentInnen gestritten, das gehörte für ihn als überzeugter Marxist einfach dazu. Dabei hat er real existierende Interessengegensätze nie verschleiert. Dass Assistenznehmer als Arbeitgeber und Assistenzgeber als Arbeitnehmer in einem ganz besonderen, unausweichlichen Interessenkonflikt stehen, konnte kaum einer so gut formulieren wie er:

«SELBSTBESTIMMT LEBEN! Das war und bleibt aber auch immer die Aufforderung und Aufmunterung an uns selbst und an andere behinderte Menschen, ein Leben nach den eigenen Wünschen und Fähigkeiten zu leben. Wenn nötig in direkter und harter Auseinandersetzung mit der nichtbehinderten Welt … Es war und bleibt die Aufforderung, dem ständigen Blick der nichtbehinderten Mitmenschen auf unser vermeintliches Defizit unsere Würde als ganzer Mensch entgegenzuhalten. Nichts davon haben wir zurückzunehmen oder mit den Interessen der Nichtbehinderten abzuwägen. Aber: Nur als dieses Gegenüber zur tatsächlichen Fremdbestimmung und als befreiender Akt der Selbstbehauptung ist die Forderung behinderter Menschen nach Selbstbestimmung berechtigt und notwendig. Darüber hinaus findet sie ihre Grenzen selbstverständlich in den Rechten und Interessen der anderen Menschen.»

Gerlef hat die letzten elf Monate seines Lebens leider in verschiedenen Krankenhäusern verbringen müssen. Wie vielen unter uns ist es ihm dort auch furchtbar ergangen. Man weiß nicht, wie man uns Blut abnimmt, Blutdruck misst, dreht und wendet, unsere AssistentInnen werden als Nichtfamilienmitglieder nicht auf die Intensivstation gelassen, die Behandlungen werden oft zur Tortur, behinderungsbedingter Zeitaufwand ist nicht vorgesehen. Gerlef hat all das mit Optimismus und Kampfgeist ertragen und sich jeden Tag seine Selbstbestimmung wieder erkämpft. Er war einer der großen Denker der linken Behindertenbewegung.

Die Autorin ist Professorin für Recht und Disability Studies an der Ev.Fachhochschule Bochum.

 

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