Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2014
Hrsg. Erich Hackl, Evelyne Polt-Heinzl. Wien: Picus, 2014

von Dieter Braeg

Vier Wochen nach Hitlers Machtergreifung löste der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß am 4.März 1933 nach einer Abstimmungspanne den Nationalrat auf. Pressezensur und die Auflösung des Verfassungsgerichtshofs folgten. Mit Hilfe des Mentors von Dollfuß, Benito Mussolini, wurde auf dem Katholikentag am 12.September verkündet, Österreich werde ein «sozialer, christlicher, deutscher Staat auf ständischer Grundlage mit starker autoritärer Führung».

Das Jahr 1934 begann in Österreich mit Terror. In der ersten Woche des neuen Jahres gab es 140 Sprengstoffanschläge. Die Täter waren die in Deutschland im Jahre 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten, die Österreichs «Anschluss» herbeibomben wollen. Dollfuß wurde von Mussolini, der sich als «Schutzherr» Österreichs aufführte, gedrängt, die österreichische Sozialdemokratie auszuschalten. Im Februar, nach zahlreichen Provokationen, rechnete man im Dollfuß-Lager mit Aufstandsversuchen des Schutzbundes der Sozialdemokratie.

Der Februar 1934 war für viele ein schlimmerer Einschnitt als der spätere «Anschluss». Die Bilanz der Kämpfe: Offiziell bekannt gegeben wurden 300 Tote, darunter 128 auf der Seite der Exekutive. Neun standrechtlich hingerichtete sozialistische Schutzbündler. Andere zählten mehr als 1000 Tote und tausende Verwundete. Der Schutzbundkommandant Karl Münichreiter wurde schwer verletzt zum Tode verurteilt und auf der Bahre zum Galgen getragen. Die sozialdemokratischen Spitzenfunktionäre Otto Bauer und Julius Deutsch flüchteten in die demokratische Tschechoslowakei, etwa weitere 2000 folgten ihnen. Mehr als 10000 Personen wurden verhaftet, 1202 von ihnen wurden zu insgesamt 1410 Jahren Haft verurteilt.

Die Wiener Zeitung schrieb im Leitartikel am 13.2.1934: «In einer der kritischsten Stunden des österreichischen Vaterlandes haben Sozialdemokraten die Fahne des Aufruhrs entrollt, sind bewaffnet der Staatsgewalt entgegengetreten und haben somit ihrer schändlichen Katastrophenpolitik die blutige Krone aufgesetzt... Nun muß ganze Arbeit geleistet werden, nun muß den roten Staatsfeinden überall das Handwerk gründlich gelegt werden.»

Erich Hackl und die Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl haben mit der von ihnen herausgegebenen Anthologie Im Kältefieber in vierzig literarischen Beiträgen sehr deutlich werden lassen, dass in Österreich, noch vor Spanien, die demokratischen Errungenschaften gegen den Faschismus verteidigt wurden. John Gunther aus Chicago, Jahrgang 1901, einer der Beiträger dieser Anthologie, war Korrespondent (er schrieb später den Roman Die verlorene Stadt, der 1964 erschien): «Es war kaum zu glauben. Sie wollten wirklich die unvorstellbare Schande auf sich laden, ihre Mitbürger in deren Wohnungen zu töten – durch Artilleriefeuer!»

In der Anthologie gibt es Texte von Anna Seghers, Jean Améry, Jura Soyfer und als Eröffnung Ilja Ehrenburgs Bericht «Der Bürgerkrieg in Österreich»; dazu viele Beiträge von Unbekannten, über die man sehr viel erfahren kann und die es wert wären, wieder entdeckt zu werden. Dazu Evelyne Polt-Heinzl: «Das hat mit dem lückenhaften Gedächtnis der Germanisten zu tun, dass die demokratischen Spuren aus der Literaturgeschichte nach ’45 weitgehend getilgt oder vergessen wurden. Viele Romane, die in den 40er und frühen 50er Jahren schon erschienen sind, die sich mit Austrofaschismus beschäftigen, kennt heute kein Mensch mehr. Ein Fund ist Franz Höllering, Die Verteidiger, ein Roman über den Februar 1934. Ein anderes Beispiel ist Martha Florian, Die dunklen Jahre. Der Roman fängt 1934 an, ist aber ein Exilroman. Damals wollte das keiner lesen. In den Redaktionen und Verlagen saßen die alten Nazis und Austrofaschisten, die hatten kein Interesse an diesen Büchern. Martha Florian hat sich übrigens am 12.Februar 1956 umgebracht. Sie ist nicht wieder daheim angekommen. Dieses Entsetzen, sofort nach 1945 wieder Normalität zu spielen, steckt auch in ihrem Roman.»

Dollfuß der nicht nur mit Kanonen auf Wohnhäuser der Arbeiter schießen ließ, griff auf das Kriegsrecht von 1914 zurück. Streik- und Versammlungsverbot samt Beschränkung der Meinungsfreiheit waren nur einige der Maßnahmen zur Vernichtung der Demokratie. Das Portrait von Dollfuß hängt heute noch immer im ÖVP-Parlamentsklub und beweist, wie schwer sich Österreich mit seiner Geschichte tut.

Es lohnt sich, mit diesem Buch Geschichte anders zu entdecken. Die 40 Texte sind in sieben Schritten angeordnet. Die damaligen Zustände werden erfahrbar, und man erkennt, warum heute vieles so ist, wie es ist!

 

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