von der Redaktion A l’Encontre
Nach der Annahme der Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) «Gegen die Masseneinwanderung» am 9.Februar 2014 haben Experten die Stimmung der Wählerinnen und Wähler in den Gemeinden, Kantonen, auf dem Land und in der Stadt sowie in den verschiedenen Sprachregionen befragt, um die «Gründe» und die Geisteshaltung zu untersuchen, die ihr Abstimmungsverhalten leiteten.Der Tatbestand ist allerdings eindeutig. Die politischen Parteien, die die Schweiz seit Jahrzehnten in der «Konkordanz» regieren – von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) über die Liberalen (FDP) und die Christlich-Demokratische Volkspartei (CVP) zur Sozialdemokratischen Partei (SP) – «laufen der öffentlichen Meinung nicht nach» –, sie formen sie.
Auf ihre Weise hat jede dieser Kräfte einem legendären «Schweizervolk» angeblich «angeborene Eigenschaften» zugewiesen. Diese konstruierte Identität zieht eine Grenze zwischen dem Homo helveticus (mit seinen kantonalen Ausprägungen) und dem «Fremden».
Das schafft ein fruchtbares Terrain für Fremdenfeindlichkeit: Die Lohnabhängigen mit einem Pass mit weißem Kreuz gehören nicht zur selben Klasse wie die migrantischen Lohnabhängigen. Auf diese Weise werden die Lohnabhängigen gespalten, auf weite Teile der Migranten wird ein starker Zwang zur Assimilation ausgeübt (siehe den Film Die Schweizermacher).
Gute und schlechte Ausländer
Dieses Pappmachégebilde verschleiert eine weniger mythische Realität. Konkrete Zahlen werfen ein Schlaglicht auf das trügerische Dilemma: «Soll die Schweiz offen oder geschlossen sein?»
Die Zahl der Lohnabhängigen, die in Unternehmen in der EU arbeiten, die von Schweizer Kapital kontrolliert werden, ist 2012 auf 1126486 gestiegen. Der helvetische Kapitalismus ist also sehr offen für die Ausbeutung von Arbeitskraft, die in Europa und in der Welt zur Verfügung steht. Das ist eine konkrete Folge dessen, was die Schweizer Nationalbank «direkten Kapitalexport» nennt.
Die andere Seite dieses Kapitalexports ist der Import von Arbeitskräften, also von Immigranten. Das helvetische Kapital, aus dem Zweiten Weltkrieg reicher hervorgegangen, hat unaufhörlich um «eingewanderte Arbeitskräfte» ersucht, um seine Investitionen zu sichern und rentabel zu machen. Um die Arbeitsmigranten ökonomisch, sozial und politisch zu kontrollieren, haben die Herrschenden begleitende Maßnahmen eingeführt. Das Credo der «Wirtschaft» war immer die «kontrollierte Einwanderung», mit Zustimmung der Gewerkschaftsführungen. Das ist nichts Neues. Die Vielfalt der Genehmigungen für die verschiedenen Herkunftsländer hat die Segmentierung der Migranten zementiert.
Um die Abstimmung vom 9.Februar in ein richtiges Licht zu rücken, sei an zwei Tatsachen erinnert:
– In nur vier Jahren, von 1991 bis 1994, ist die Zahl der Erwerbslosen von 58000 auf 165000 gestiegen. Seitdem sind die «Unsicherheit der Beschäftigung» und der Arbeitsstress zu einer Belastung geworden, die weitgehend von allen Lohnabhängigen geteilt wird.
– Vor diesem Hintergrund konnte eine Regierungspartei, die SVP, einen Schatz heben, der von den Herrschenden geschaffenen wurde: die angeblich «angeborenen Eigenschaften» des «patriotischen Souveräns»! In den letzten beiden Jahrzehnten hat diese Partei die politische Landschaft der Schweiz umgekrempelt. Die SVP erzeugt und instrumentalisiert die Sorgen, die Zukunftsangst und den Frust über die Arbeitsbedingungen. Das «schwarze Schaf» wird zur helvetischen Formel für den Sündenbock. Die Herrschenden und ihr System bleiben dabei ganz weiß.
Der SVP ist es nach und nach gelungen, den Bundesrat und die große Mehrheit des Parlaments um das Gros ihrer Positionen zu scharen. Der von oben geschmiedete, fremdenfeindliche Diskurs wurde stärker. Die Medien horchen auf die Stimmen «von unten». Parallel dazu wurden das Asylgesetz und das Ausländergesetz verschärft.
Die Osterweiterung der EU
2004 wurden eine neue Etappe eröffnet: Die EU wurde von 15 auf 25 Mitgliedstaaten erweitert. Am 25.September 2005 fand eine Volkabstimmung zu einem Bundesbeschluss über die Genehmigung und Umsetzung des Protokolls über die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens auf die neuen EU-Mitgliedstaaten und über «flankierende Maßnahmen» statt. Darin wurde Artikel 1 der Konvention 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht einmal erwähnt; die Konvention hat zum Ziel, vor Diskriminierungen durch Unternehmer zu schützen, die sich gegen gewerkschaftliche Aktivitäten wenden. Im Jahr 2006 wurde die Schweiz vom ILO-Komitee für Gewerkschaftsfreiheit wegen Nichtrespektierung der Konvention getadelt; sie stammt aus dem Jahr 1949 und die Schweiz hat sie erst 1999 ratifiziert.
Hinter den «flankierende Maßnahmen» verbergen sich Mechanismen zum Lohn- und Sozialdumping. Sie werden möglich, weil die Gesamtheit der Lohnabhängigen vor dem Hintergrund zunehmender Erwerbslosigkeit und zunehmender Angriffe auf die Errungenschaften und die Rechte der abhängig Beschäftigten in Europa gegeneinander in Konkurrenz gebracht wird.
Im Jahr 2005 war der größte Teil der Linken zur Hälfte gelähmt. Sie machte aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Heiligtum – genauer gesagt aus der Freizügigkeit der Mehrheit der Lohnabhängigen, deren soziale und politische Rechte amputiert und die von Erwerbslosigkeit bedroht werden. Sie weigerte sich, das Prinzip der Freizügigkeit auf eine Stufe mit der Garantie der Rechts- und Koalitionsmittel zu stellen, die zur Verteidigung der Lohnabhängigen und zur Schaffung einer Solidarität über die Grenzen der jeweiligen Nationalität hinaus unerlässlich sind. Das wäre der einzige Weg gewesen, Lohn- und Sozialdumping zum Scheitern zu bringen. Kein Jurist würde es gewagt haben, Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Recht auf Freizügigkeit) von Artikel 23 zu trennen, der soziale, gewerkschaftliche u.a. Rechte garantiert. Indem sie akzeptiert, dass diese beiden Prinzipien – genauer gesagt dieser beiden Grundrechte – voneinander getrennt werden, hat die Linke, einschließlich derer, die die SP kritisieren, der SVP das Terrain überlassen und sich de facto in die große Allianz von Unternehmern bis zum Schweizerischen Gewerkschaftsbund eingereiht.
Was tun?
Nach der Abstimmung vom 9.Februar gilt es, vor dem Hintergrund des Aufstiegs der extremen Rechten in Europa, rückhaltlos die eigenen Schwächen aufzudecken und zugleich Einheitsinitiativen zu entfalten.
– Gegenüber der Fremdenfeindlichkeit und dem Zwang zur Assimilation müssen eine interkulturelle Praxis und beispielhafte gemeinsame Kämpfe von Lohnabhängigen aller Nationalitäten in den Mittelpunkt gestellt werden.
– Die Verteidigung des Asylrechts und die Verteidigung der demokratischen und sozialen Rechte für alle müssen miteinander verbunden werden, aber wie?
– Angesichts des Lohndumpings müssen Sinn und Wirkung der Forderung nach einem Mindestlohn von 4000 Franken für 12 (nicht 13) Monate diskutiert werden. Gerade jetzt, wo die Gewerkschaften sich anschicken, den größten Tarifvertrag zu unterzeichnen (er betrifft etwa 250000 Lohnabhängige), der Löhne um die 3000 Franken vorsieht.
– Die Angriffe auf Erasmus+ müssen mit einem Projekt Erasmus++ gekontert werden, das sozial weniger elitär ist (in bezug auf die Höhe des Stipendiums, die Unterkunft usw.).
– Anstelle der «begleitenden Maßnahmen» braucht es einen Maßnahmekatalog zur Verteidigung der Lohnabhängigen und ihrer Vertreter.
– Angesichts der Krise der EU muss eine Debatte initiiert werden, wie ein demokratisches und soziales Europa aussehen kann.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.