von Nicola Cianferoni
Eine unmittelbare Konsequenze der Volksabstimmung «Gegen die Masseneinwanderung» ist der Ausschluss der Schweiz aus dem Erasmus+-Programm. Darauf reagierte jungen Leute empört und brachten das auf spontanen Demonstrationen gegen das Abstimmungsergebnis in Zürich, Bern und Genf zum Ausdruck.Vor allem die Studierenden in Bern und in Genf mobilisierten gegen die Aufhebung des Erasmus+-Programms. Sie wird zurecht als Angriff auf ein fortschrittliches Prinzip verstanden: die Möglichkeit des internationalen Austauschs zwischen Universitäten. Das Programm, das 1987 eingeführt wurde, bezweckt ausdrücklich, «die Kompetenzen und die Arbeitsmarkttauglichkeit zu erhöhen sowie Erziehung, Ausbildung und Arbeit junger Menschen zu modernisieren». Es hat die internationale Mobilität deutlich erhöht – zum Schaden der Mobilität innerhalb der jeweiligen Länder. Am Inhalt des Programms gibt es allerdings weder von Studenten noch von Professoren Kritik.
Vorspiel dieser Modernisierung ist der sog. Bologna-Prozess, den die Europäische Kommission entworfen hat. Ihr geht es darum, ein universitäres System zu schaffen, das auf den ETCS-Credits beruht, die Mobilität fördert und den Typus des Konsum-Studenten zu schaffen, der selbständig «frei» und «natürlich» und auf der Basis des Preis-Leistungsverhältnisses entscheidet, wo er einen Kurs belegen will. Die Einführung von Studiengebühren, in der Schweiz wie auch anderswo, war die letzte Stufe in dem Prozess, in der gesamten EU einen Wissensmarkt zu etablieren. Heute, 15 Jahre nach den ersten Stufen der Bologna-Reform, sind die sozialen Folgen wohl bekannt.
Die «Stärkung der Kompetenzen und der Arbeitsmarkttauglichkeit» mündete in eine allgemeine Verschlechterung des Unterrichts – mit Ausnahme einer Handvoll sehr spezialisierter Master-Studiengänge. Die Verschulung der Seminare hat das Studium so intensiviert, dass es oftmals unmöglich ist, parallel dazu einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Aus Angst vor Arbeitslosigkeit venachlässigen die Studierenden mehr und mehr solche Studiengänge, die weniger Erfolg am Arbeitsmarkt versprechen und wenden sich solchen zu, die ihnen bessere Chancen versprechen.
Die Mobilisierungen der Studierenden bieten Anlass, ein «Erasmus++» zu fordern: Mobilität für die größtmögliche Anzahl von Studierenden ohne Einschränkungen; vor allem die Abschaffung der Studiengebühren, die Anhebung der Stipendien (die Stipendien für Mobilität schwanken zwischen 250 und 350 Euro im Monat), preiswertere Unterkünfte usw. Das müsste Bestandteil einer Politik der demokratischen Mobilität für alle Ebenen der Ausbildung nach der Pflichtschulzeit sein. Nur Maßnahmen, die wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse unabhängig von der sozialen Herkunft absichern, ermöglichen ein Recht auf Erziehung, das auch das Recht auf freien Verkehr zwischen Bildungseinrichtungen unterschiedlicher Länder umfasst.
Diese Forderungen müssten im Mittelpunkt der Kämpfe gegen das neue Hochschulgesetz in Fribourg, gegen die Revision des Gesetzes über die Stipendien im Kanton Waadt, gegen die Sparmaßnahmen an den Universitäten und gegen die Anhebung der Studiengebühren stehen.
Heutzutage, wo die Jugend von der scharfen wirtschaftlichen und sozialen Krise besonders betroffen ist, beruht die Ausbildungspolitik der EU-Länder auf den folgenden Elementen: Praktika, die wenig oder gar nicht bezahlt werden, «lebenslanges Lernen», Förderung von Arbeitskraftunternehmern und Selbständigkeit, um die Arbeitsmarkttauglichkeit der jungen Menschen zu steigern und ihnen die Arbeitsuche zu erleichtern. Damit wird den jungen Menschen, den Arbeitslosen und Prekären, die volle Verantwortung für ihre notleidende Situation aufgebürdet. «Erasmus++» ist deshalb nicht zu trennen von einer anderen Politik, die die Jugend als den gegenüber Erwerbslosigkeit und ungeschützter Beschäftigung am verletzlichsten Teil der Bevölkerung zu schützen sucht.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.