von Gaston Kirsche
Mit zwei Dok-Filmen: Viva Portugal!, Portugal/BRD 1975, von Malte Rauch, Christiane Gerhards und Samuel Schirmbeck, 115 Min.; Scenes from the Class Struggle in Portugal, Portugal/USA 1977, von Robert Kramer, 85 Min. Portugiesisch mit deutschen Untertiteln«Grândola, Vila Morena», du bräunliche Stadt der Brüderlichkeit. Bei dem Lied geht portugiesischen Linken auch heute noch das Herz auf. Und mir auch. Elf war ich, als der Freund meiner ältesten Schwester am 25.April 1974 mit leuchtenden Augen bei uns ins Wohnzimmer kam, so aufgeregt, dass er vergaß, seinen Motorradhelm abzulegen: In Portugal ist Revolution!
Das Signal zur Revolution kam am 25.April 1974 kurz nach Mitternacht über Rádio Renascença: «Grândola, Vila Morena», das verbotene antifaschistische Lied des Musikers José Afonso, wurde innerhalb von Stunden zur Hymne des Aufstands. Für die Soldaten der «Bewegung der Streitkräfte» (MFA), war es das klandestin verabredete Signal zum Sturz der Diktatur.
Der US-Bürger Robert Kramer reiste wie viele, die neugierig waren auf das Phänomen einer Revolution im scheinbar so festgefügten Westeuropa, 1975 nach Portugal. Und drehte dort in den kommenden zwei Jahren. War dabei bei Demonstrationen, Diskussionen auf der Straße, Versammlungen in besetzten Betrieben, Festen. Hat interviewt, beobachtet. Gespräche geführt mit revolutionären Soldaten, Kleinbauern, Studierenden, Arbeitern, Bewohnern von Barackensiedlungen. Mit denen, die die Nelkenrevolution an der Basis vorantreiben wollten.
Scenes from the Class Struggle in Portugal und der zweite Film auf der DVD zum Mediabook 25.April 1974 – Die Nelkenrevolution, Viva Portugal! sind bewegende Dokumente der zwei Revolutionsjahre, in denen so viel an Befreiung, an Vergemeinschaftung und Demokratisierung von Politik und Produktion möglich schien. Sozialismus war in aller Munde – entweder als anzustrebendes Ziel, oder als mit allen Mitteln zu verhindernde Schreckensvorstellung. Bis zur Nelkenrevolution herrschte in Portugal die 1926 von Antonio de Oliveira Salazar begründete Diktatur. Mit einer brutalen Geheimpolizei, mit außergerichtlichen Erschießungen, mit Folterzentren. Die Profiteure der Diktatur und ihre Schergen hatten viel zu verlieren, destabilisierten deshalb das Land mit Kapitalflucht und -boykott oder gründeten faschistische Untergrundgruppen, die landwirtschaftliche Kooperativen und linke Parteibüros in Brand setzten, besetzte Betriebe überfielen.
Wo Kramer nicht selbst dabei war, hat er Archivmaterial des staatlichen RTVP nutzen können. Am überzeugendsten ist der Film, wenn einfache Leute auf der Straße vor der Kamera über ihre Hoffnungen und Forderungen sprechen. Und über die Armut in den Elendsvierteln. Hier kommt es ans Licht, nichts wird wegdiskutiert. Gewöhnungsbedürftig für an heutigen Dokfilmstandards geschulte Zuschauende ist die Präsenz des Kommentars. Lieder werden nur kurz angespielt, Interviewsequenzen kurz gehalten – dominiert wird die Tonspur von einem analytischen, Zusammenhänge erklärenden Kommentar. Das entspricht dem Ton der Zeit und bewirkt, dass angesprochen wird, was im modernen Dokfilm oft im Diffusen bleibt: Bezugnahmen, Hintergründe, eine marxistische Analyse. Wo Scenes from the Class Struggle in Portugal durch seine parteiliche, aber nüchterne, ernüchterte Analyse auf den 1977 bereits weitgehend ausgebremsten revolutionären, emanzipatorischen Ausbruch aus den elenden Verhältnissen besticht, ist der andere Film Viva Portugal! ganz von der Euphorie des ersten Jahres getragen, in der nach dem Sturz der Diktatur eine radikale soziale Befreiung von den die Diktatur tragenden herrschenden Klassen möglich schien. Viva Portugal! zeigt eindrücklich das vor der portugiesischen Revolution herrschende Elend, insbesondere der Landarbeiterfamilien. Der seinerzeit mächtige, mit der Diktatur eng verwobene hohe Klerus stellt sich den notwendigen Umwälzungen entgegen.
Viva Portugal! ist ein engagierter Film, mitten aus dem Geschehen heraus entstanden. In seiner Unmittelbarkeit ein einmaliges Dokument, ein Film, bei dem einem das Herz aufgeht. Für das Mediabook wurde der nicht mehr zugängliche Film rekonstruiert – ihm ist viel Resonanz zu wünschen. Wer ihn sieht, wird die Faszination verstehen, die Mitte der 70er Jahre von der Nelkenrevolution ausging.
Wer sich selbst in Ruhe Gedanken zur Nelkenrevolution machen will, dem sei das Buch zum Film mit seinen Hintergrundtexten empfohlen, das auch die DVD mit dem Film enthält: 25. April 1974 – Die Nelkenrevolution, erschienen im Laika-Verlag. Dort lässt sich etwa nachlesen, warum die traditionelle KP eher eine bremsende Rolle in der sozialen Revolution spielte, aus Angst vor der Rückkehr der Diktatur, und deshalb gegen Streiks und Besetzungen war. Und wie es neben ihr mit der vielfältigen revolutionären Linken eine in der Bewegung verankerte Alternative gab.
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