von Klaus Drechsel
Auch im nunmehr vierzehnten Jahr meiner Erwerbstätigkeit als persönlicher Assistent für Menschen mit Behinderungen habe ich mich mehr als einmal gewundert, warum es nicht längst eine Art Pflegeguerilla gibt, die den für die Pflegemisere Verantwortlichen den Fehdehandschuh hinwirft und einen ernsten, langfristigen Kampf eröffnet.
Auch Nichtbetuchte werden alt, manche chronisch krank, behindert oder pflegebedürftig – für viele ein Alptraum.) Die kollektive Verdrängung dieser Ängste ist eine der Quellen für die Unsichtbarkeit der bezahlten wie unbezahlten Pflegearbeit. Nicht nur um die Pflege, um beinahe jede unbezahlte wie bezahlte Sorge- bzw. Care-Arbeit steht es schlecht. Dies, obwohl diese Reproduktionsarbeiten in der BRD im Jahre 2001 die Erwerbsarbeit um das 1,7fache überschritten – laut offiziellen Zahlen des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend und des Statistischen Bundesamts von 2003.
Eine der Grundtatsachen dieser Tätigkeiten ist zwingend: Sie erfordern Zeit und lassen sich nicht beliebig schneller und effizienter gestalten. Die Schere bei der Arbeitsproduktivität zwischen der Carearbeit und der Güterproduktion verteuert erstere gegenüber letzterer und lässt sie zunehmend in den Fokus neoliberaler Sparpolitik geraten. Es ist unter anderem das Verdienst von Gabriele Winker, auf Zusammenhänge dieser Art systematisch hingewiesen zu haben. Ihren hervorragenden Aufsatz «Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive» (Das Argument 292, auch online verfügbar) empfehle ich allen wärmstens zur Lektüre. In diesem Zusammenhang sei auch auf Frigga Haugs «4-in-1»-Perspektive und die Arbeiten von Mascha Madörin bzw. die Arbeiten aus der sog. feministischen Ökonomiekritik hingewiesen.
Breite Basis, starkes Interesse
In den letzten Jahren sind im Feld der Carearbeit angesichts der unerträglichen Zustände viele Basisinitiativen entstanden, in die sich die zentralen politischen Anstrengungen meiner eigenen Kolleginnen und Kollegen umstandslos einfügen: Gründung eines Betriebsrats beim Berliner ambulante dienste e.V. (heute 630 Beschäftigte) 2005, Gründung eines bundesweiten Netzwerks für die Beschäftigten in der Persönlichen Assistenz im Jahre 2008 (UAPA; die SoZ berichtete unregelmäßig seit 2009), «Scheiß-Streik» 2009, Aufbau erster Ver.di-Betriebsgruppen, erste Arbeitskämpfe bis hin zu ersten Warnstreiks, gefolgt von ersten Tarifverträgen bzw. Betriebsvereinbarungen über teils deutliche Lohnerhöhungen seit 2011…
Vom 14. bis 16.März 2014 fand in Berlin nun die erste bundesweite Aktionskonferenz zum Thema Care-Revolution statt (siehe http://care-revolution.site36.net/programm/einladung). Die Liste der 60 Kooperationspartnerinnen der Konferenz kann sich sehen lassen, wiewohl noch zahlreiche wichtige Basisinitiativen, z.B. aus der kritischen Sozialarbeit, fehlen.
Mit etwa 500, mehrheitlich nicht männlichen Teilnehmenden war die Konferenz in den Räumlichkeiten der Rosa-Luxemburg-Stiftung rappelvoll. Geprägt von einer guten Stimmung, menschenfreundlich strukturiert und moderiert, produzierten alle zusammen eine angenehme, solidarische und produktive Atmosphäre. Wir nahmen zu viert teil, einerseits als Aktive der Ver.di-Betriebsgruppe bei den Berliner Assistenzbetrieben, andererseits als Aktive unseres UAPA-Netzwerks. Da die Konferenz auf ihrer Website gut dokumentiert wird, begnüge ich mich hier mit einigen subjektiven Eindrücken.
Der Ansatz
In einem der fünf thematischen Einstiege entwickelte Gabriele Winker ihre These von einer «Krise der sozialen Reproduktion» angesichts des zunehmenden Widerspruchs zwischen dem kapitalistischen Prinzip der Profitmaximierung und den Anforderungen an die individuelle Reproduktion. Hiervon leitete sie die politische Hypothese ab, dass es möglich und nützlich sei, eine neue soziale Bewegung zu gründen. Sie soll den Widerspruch zugunsten der Reproduktionsbedürfnisse aller langfristig und beharrlich thematisieren und zuspitzen. Mithin kann diese Bewegung ihrer Meinung nach nicht anders als antikapitalistisch sein. Das System müsse revolutioniert werden, daher der Begriff einer Care Revolution.
Die gemeinsame Plattform beinhaltet die Forderung nach weltweiter Befriedigung der Grundbedürfnisse mit Existenzsicherheit für alle und einer öffentlichen Daseinsfürsorge in einer care-orientierten Gesellschaft. Care-Löhne und -Arbeitsbedingungen seien entsprechend zu verbessern, die Arbeitszeit radikal zu verkürzen und die Daseinsfürsorge genossenschaftlich, kollektiv bzw. staatlich zu organisieren. Alle Betroffenen in diesem Bereich müssten demokratisch entscheiden, sprechen und gehört werden können. Es müsse auf schmerzhafte Widerstandsaktionen wie Streiks hingearbeitet werden. Dazu gab’s zu Konferenzbeginn eine passende Begleitmusik: Der Arbeitgeber Charité ruft angesichts der Streikbereitschaft der Pflegerinnen und Pfleger in einem pionierhaften Tarifkonflikt mit Ver.di um die Personalbemessung die Schlichtung an!
Weitere thematische Einstiege gab es zur «4-in-1-Perspektive», zu Straßenaktionen zum Sichtbarmachen von Care, zur Ökonomisierung des Sozialen und zu internationalen Care-Kämpfen.
Die Aktiven
Das Eröffnungsplenum bot einigen Basisinitiativen Gelegenheit, sich beispielhaft vorzustellen – z.B. das gewerkschaftlichen Schweizer respect@vpod-Netzwerk, in dem sich endlich 24-Stunden-Pflegerinnen organisieren können; zwei Angehörigen-Initiativen (Nicos Farm e.V. Hamburg, Initiative Armut durch Pflege); die Flüchtlingsfrauen der Gruppe «women in exile» aus Potsdam; eine Sexarbeiterinnen-Bildungsinitiative (move e.V.); Kotti & Co; der Pflege-Kollektivbetrieb «Tagespflege Lossetal» für Menschen mit Demenz; der linke Berliner behindertenpolitische «Arbeitskreis mit ohne Behinderung» (ak moB); aber auch die Ver.di-Betriebsgruppe der Berliner Charité und, last but not least, zwei queerfeministische lokale Arbeitsgruppen der Interventionistischen Linken.
Am Samstag folgten Workshops unter der Rubrik «Umkämpfte Terrains sozialer Reproduktion» (Prekarität; Beziehungen und Lebensweisen; Kinder; Pflege und Assistenz; Wohnen/Stadt; Gesundheit; Bildung). Im Workshop zu «Pflege und Assistenz» führten wir einen streitbaren Austausch, vornehmlich zwischen behinderten Arbeitgebern auf der einen und uns gewerkschaftlich organisierten Assistentinnen und Assistenten andererseits. Hier überwiegen die Interessenkonflikte um das aus unserer Perspektive faktisch ausgeschaltete Arbeitsrecht und fehlende Organisierungsmöglichkeiten in Kleinstbetrieben, prekäre Arbeitsverträge, zu niedrige Löhne und schwierige Arbeitsbedingungen gegenüber dem vitalen Interesse an Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – beides im Kontext neoliberaler Sparpolitik (vgl. hierzu den lesenswerten Text von Gerlef Gleiss, «Selbstbestimmung, Persönliche Assistenz und die Arbeiterrechte» aus dem Jahre 2010, www.zedis.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/gleiss_19042010.pdf). Die Konferenz endete hinsichtlich unserer Teilfragen mit dem Eingeständnis, dass die entsprechende Passage in der Resolution nicht Konsens, sondern umstritten, und demzufolge eine Debatte um Assistenzmodelle und prekäre Arbeitsverhältnisse künftig fortzuführen sei.
Die zweite Workshop-Phase stand unter der Überschrift «Anliegen verknüpfen – Kräfte bündeln» und drehte sich u.a. um Organizing, Grundeinkommen, Gender/Sex-Fragen, Sexualität, und internationale Aspekte. Der Vernetzungsworkshop, an dem ich teilnahm, zeigte einerseits die Breite der Basisinitiativen, aber auch den starken Forschendenanteil; leider kam er nicht zu einem verbindlichen Ergebnis. (Wichtig: Eine stärkere gewerkschaftliche Beteiligung wäre gut!) Der Workshop zur «Funktionalisierung von Moral» führte uns immerhin zum ersten Mal mit der Charité-Betriebsgruppe und ihrem Unterstützungsbündnis «Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus» zusammen.
Anschließend ging es mit etwas dickem Kopf zur etwas szenigen Care-Revolution-Demo nach Friedrichshain – mit guter Stimmung und schönen Liedern von Bernadette La Hengst (u.a. «Wir singen zur Senkung der Arbeitsmoral» sowie unsere schöne Hymne «I do care I love it»).
Die Konferenz wurde von einem informellen Team in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in den letzten anderthalb Jahren initiiert und organisiert. Dafür herzlichen Dank! Erst am Sonntag morgen wurde verabredet, dass eine Gruppe von ca. 15 Menschen vorerst ehrenamtlich weitermachen wird, bis zu einem Nachbereitungstreffen am 23.Mai in Hannover (siehe Termine-Seite). Bis dahin soll überlegt werden, ob ein Verein gegründet und mit politischen Fördermitteln zumindest eine halbe Geschäftsstelle eingerichtet werden kann. In einer leicht anstrengenden Atmosphäre rang sich das Plenum schließlich dazu durch, viele kleinteilige Formulierungsbaustellen in der Resolution zur weiteren Bearbeitung einer hoffentlich gemeinsam zu erstreitenden Zukunft zu überlassen (siehe die nebenstehenden Auszüge).
Wir vier jedenfalls gingen deutlich ermutigt und beschwingt auf einen abschließenden Milchkaffee mit Tiramisu. Und wir haben es bereits unseren Ver.di-Aktiven weitererzählt.
Kontakt: care-revolution@riseup.org; www.care-revolution.site36.net.
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