von Manfred Dietenberger
Die Große Koalition hat nun den Gesetzentwurf zum Mindestlohn beschlossen. Laut DIW betrifft diese «einschneidendste Arbeitsmarktreform der letzten 20 Jahre» 15–20% aller Beschäftigten direkt oder indirekt. Arbeitsministerin Nahles (SPD) zeigte sich ganz euphorisch: Sie sei «sehr froh, denn ich weiß, dass dieses Gesetz unmittelbar die Löhne für vier Millionen Menschen verbessert». Stimmt, auch wenn die Betroffenen damit immer noch beschissen bezahlt sind. Vor allem die Beschäftigten in der Landwirtschaft, zum Beispiel Saisonkräfte, Spargelstecher, Beschäftigte im Gartenbau, in der Gastronomie und im Bewachungsgewerbe können jetzt mit mehr Lohn rechnen. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, könnte man sagen, denn nach Daten des DGB-Tarifarchivs gelten z.B. für einfache Erntearbeiten bisher Tariflöhne zwischen 6,93 und 7,85 Euro je Stunde. Nicht tarifgebundene Betriebe duften bislang diese Löhne unterschreiten. Jetzt gilt für alle Beschäftigten in nicht tarifgebundenen Betrieben ein Mindeststundenlohn von 8,50 Euro.
Richtig ist aber auch, dass Nahles das im Bundestagswahlkampf vollmundig ausposaunte SPD-Wahlversprechen «Jeder soll von seiner Hände Arbeit leben können» dennoch nicht einlöst. Nach einer gerade veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit wird die übergroße Mehrheit der rund 1,3 Millionen Aufstocker – also der Beschäftigten, die bislang neben ihrem Arbeitseinkommen auch noch auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angewiesen waren – auch künftig auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sein, obwohl sie arbeitet. Der geplante Mindestlohn wird nur 60000 von ihnen aus ihrer misslichen Lage befreien. Das ist weniger als jeder Zwanzigste, zusammen entspricht es immerhin der Einwohnerzahl einer Kleinstadt. Das ist positiv, müssen doch die aufstockenden Leistungen aus Steuern finanziert werden, von denen Otto Normalverbrauer die meisten aufbringt und damit indirekt die Unternehmer per Lohnkostenzuschuss in Milliardenhöhe subventioniert.
Das IAB hat errechnet, dass die Niedriglohnschwelle in Deutschland aktuell bei 9,54 Euro anzusetzen ist. Wer eine Familie zu versorgen hat, muss jedoch, selbst wenn er Vollzeit arbeitet, mindestens 12 oder 13 Euro verdienen, um sich den Weg zum Sozialamt sparen zu können. Über die Niedriglohnschwelle hilft der Mindestlohn von 8,50 Euro noch nicht.
Vor der Bundestagswahl tönte Nahles, sie und die SPD stünden für einen flächendeckenden und ausnahmslosen Mindestlohn. Nach der Wahl und den Koalitionsverhandlungen zeigt sich, dass Ausnahmen durchaus vorgesehen sind: für Jugendliche unter 18 Jahren, für Ehrenamtliche und Langzeitarbeitslose. Das SPD-Wahlversprechen entpuppt sich als das, wonach es von Anfang an roch: als ansprechend verpackter Wahlspeck, der auch nach der Wahl den eigenen Mitgliedern vor die Nase gehalten wurde. Um an den Speck zu kommen, schluckten diese die GroKo-Kröte, nicht ahnend, dass der Köder neu verpackt und umetikettiert würde.
In einem Rechtsstaat sind falsche Versprechen unter Strafe gestellt. Andrea Nahles wird dennoch nicht mit einer Klage rechnen müssen. Aber ist es kein Betrug, wenn jetzt der gesetzliche Mindestlohn erst ab 2017 für alle Branchen, und nicht ohne Ausnahmen, gilt? Die späte Allgemeingültigkeit führt unter anderem dazu, dass ausgerechnet jene, die gewerkschaftlich organisiert sind, den Mindestlohn von 8,50 Euro erst ab 2017 bekommen, weil Tarifverträge, in denen ein Lohn unterhalb dieser Grenze vereinbart wurde, bis 2017 gelten werden. Konkret bedeutet das: Die ungelernte Verkäuferin im Fleischerhandwerk in Sachsen-Anhalt erhält bis dahin weiter ihre tariflichen 5,53 Euro und auch der Tariflohn von 7,38 Euro im Gaststättengewerbe im Saarland gilt weiter.
Jugendliche sind bis zum 18.Lebensjahr – also bis zum Ende der Schulpflicht – ganz ausgenommen. Nahles’ Begründung: «Wir müssen verhindern, dass junge Menschen lieber einen besser bezahlten Aushilfsjob annehmen, statt eine Ausbildung anzufangen». Sie schiebt damit den jungen Leuten die Schuld in die Schuhe, dass sie sich von einem Aushilfsjob zum nächsten hangeln müssen. Tatsächlich aber fehlen genügen Ausbildungsplätze mit einer Ausbildungsvergütung, von der sich auch auskömmlich leben ließe. Reiner Hoffmann vom DGB-Vorstand hat recht, wenn er sagt, prekäre Arbeitsverträge für Jugendliche seien ein «eigentümliches Verständnis von Generationengerechtigkeit»: «Die Altersgrenze wird dazu führen, dass einfache Hilfstätigkeiten wie das Auffüllen der Regale im Supermarkt künftig nur noch von unter 18jährigen gemacht und alle anderen Beschäftigten verdrängt werden.»
Auch Langzeitarbeitslose, immerhin über eine Million Menschen, sollen künftig im ersten halben Jahr einer Beschäftigung keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben. Darin sieht Ver.di-Chef Bsirske eine nicht nachvollziehbare Diskriminierung: «Es ist eine Schwachstelle in einer an sich sehr vernünftigen Entscheidung.»
Der Bundestag soll das Gesetz am 4.Juli beschließen. Aber wie sagte doch der menschgewordene Finanzierungsvorbehalt Schäuble dereinst: Kein Gesetz kommt so aus dem Bundestag raus, wie es in ihn hineingegangen ist. Am 19.September soll es dann durch den Bundesrat – und wird danach wohl noch zur Endabnahme vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe kommen. Dort wird zu prüfen sein, ob die gesetzlich vorgesehene Erwerbslosen- und Jugenddiskriminierung grundgesetzkonform ist.
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