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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2014
... wenn Brasilien nicht gewinnt»

Gespräch mit Christopher Gaffney

Wenn in einer so fußballvernarrten Nation wie Brasilien Planung wie Ablauf der kommenden WM durch anhaltende Massenproteste massiv gestört wird, dann ist dies sicher ein Anzeichen fürgewaltige soziale Gärungsprozesse, vor allem aber ein weltweit sichtbares Zeichen dafür, dass diese Sorte von «Sportereignissen» mehr und mehr zum Sinnbild für die Zerstörungskraft der neoliberalen Weltordnung wird.

er gebürtige US-Amerikaner Christopher Gaffney ist Wissenschafter und Aktivist. Der Geograf und Experte für Stadtentwicklung unterrichtet an der öffentlichen Universität UERJ in Rio de Janeiro. Seit Jahren beschäftigt er sich im Rahmen seiner Forschungen mit der Frage, wie sportliche Großereignisse, wie Fußball-Weltmeisterschaften und Olympische Spiele, eine Stadt verändern. Gleichzeitig engagiert er sich in den Comités Populares, den Bürgerkomitees, die seit Jahren vor den Nebenwirkungen der WM in Brasilien warnen. Er kennt diverse Aktivisten aus den Favelas, wie auch die High Society der Stadt. Für die FIFA ist er Staatsfeind Nummer 1 ins Rio de Janeiro. (www.geostadia.com)

Das Interview führte Ulla Ebner. Es erschien zuerst in Lateinamerika anders, Nr.3, 2014.

Was bedeuten sportliche Megaevents für die Städte, die sie austragen?

Sportliche Großereignisse sind ein Mechanismus, der öffentliche Gelder in private Hände umschichtet. Die Städte selbst profitieren meist kaum davon. In meinen Forschungen beschäftige ich mich mit der Frage, auf welche Art und Weise diese Umschichtung geschieht.

Heißt das, Sie würden keiner Stadt der Welt raten, eine Fußball-WM oder Olympische Spiele auszutragen?

Nein, würde ich nicht. Da wird immer öffentlicher Reichtum privatisiert. IOC und FIFA sind Institutionen, die geschäftliche Interessen zusammenbringen. Da geht es nicht um Sport, sondern um wirtschaftliche und politische Macht. Großereignisse bedeuten immer Akkumulation von Reichtum. In Rio beobachten wir enorme Immobilienspekulationen, zahlreiche Privatisierungen und eine gewaltige Militarisierung. Die Armen werden in zunehmendem Maße von dem Ereignis ausgeschlossen.

In Deutschland war das alles weniger extrem. Denn Deutschland hat eine gute Infrastruktur. Das Land musste nicht so viel Geld ausgeben, damit die Städte den Anforderungen von Weltklasse-Sportevents entsprechen. In Brasilien gab es diese Infrastruktur nicht. Darum sehen wir heute diese enormen Widersprüche: Auf der einen Seite haben wir extrem teure Sportstadien, während die Menschen in diesen Städten nicht einmal das Nötigste haben. Darum gibt es Proteste. Die Leute sagen: Wir haben keine funktionierenden Abwassersysteme, keine Bildung, keine Gesundheitsversorgung. Warum brauchen wir Stadien mit FIFA-Standard?

Inwiefern schließen Megaevents die Armen aus?

In Rio arbeiten 40–50% der Menschen in der informellen Wirtschaft. Doch die dürfen an den Einnahmen nicht teilhaben. Rund um die Fußballstadien werden die informellen Bierverkäufer verboten. Neuerdings ist das auch bei ganz gewöhnlichen Ligaspielen so. Auch die Verkäufer von Raubkopien von Markenwaren werden schon vor der WM eliminiert. Im Stadtzentrum, ganz in der Nähe vom Bahnhof Central do Brasil ist vor einiger Zeit ein Marktstand der fliegenden Händler niedergebrannt – auf mysteriöse Weise. Die Sicherheitsleute der Stadtverwaltung gehen auch gegen die Straßenhändler rund um die Einkaufsstraße Urugaiana vor. Es gibt hohe Strafen für den Verkauf von Raubkopien. Aber für viele Menschen hier ist das die einzige Einkommensquelle. Die Gewinne gehen von den lokalen Firmen zu internationalen Firmen über, die sie dann aus dem Land schaffen.

Wer ist verantwortlich für die Vertreibung der informellen Straßenhändler rund um die Stadien? Die FIFA oder die brasilianische Regierung?

Beide. Bei diesen Großereignissen ist niemand voll verantwortlich für irgendetwas. Die FIFA sagt: Ihr müsst bestimmte Rahmenbedingungen schaffen, damit wir die Fußball-WM hier austragen können. Die Stadt kann dann zustimmen, ablehnen oder verhandeln. Wenn sie ablehnt, bekommt sie die WM nicht. Wenn sie verhandelt, kann es flexiblere Regeln geben. Deutschland hat 2006 sehr viel verhandelt. Doch die Brasilianer haben sich freiwillig und auf übertriebene Art bemüht, der FIFA alles recht zu machen. Das Verbot für Straßenhändler in der Nähe der Stadien hat die FIFA gefordert und die brasilianischen Städte haben zugestimmt. Die FIFA hat ein Interesse daran, dass ihre privaten Sponsoren möglichst hohe Gewinne machen. Die Städte stellen öffentlichen Raum zur Verfügung, damit Unternehmen Gewinne machen. Die Verantwortlichkeiten sind verschachtelt. Wenn Kritik kommt, zeigt einer mit dem Finger auf den anderen.

Im Oktober sind Wahlen in Brasilien. Wird die Fußball-WM Einfluss auf die Wahlen haben?

Ja, ganz sicher. Wenn die brasilianische Mannschaft früh ausscheidet, werden die Menschen mehr auf die Straße gehen. Vor kurzem sagte José Maria Marin, der Präsident des brasilianischen Fußballverbands und ehemalige Gouverneur von São Paulo: Wenn wir nicht gewinnen, landen wir in der Hölle. Ich glaube, er hat recht. Die Städte könnten brennen, wenn Brasilien nicht gewinnt. Fußball ist ein Opium für die Massen. Je mehr Menschen du dazu bringst, vor dem Fernseher zu sitzen, desto weniger gehen auf die Straße. Je weiter Brasilien bei der WM kommt, desto länger sitzen sie vor dem Fernseher.

Aber natürlich gibt es auch andere Faktoren, die die Wiederwahl von Dilma gefährden könnten: der Petrobras-Skandal, die schlechte Wirtschaftslage. Auch, dass vor kurzem die Biersteuer angehoben wurde.

Theoretisch hätten sportliche Großereignisse das Potenzial, die Infrastruktur einer Stadt zu verbessern. Ist das in Brasilien passiert?

Theoretisch können solche Megaevents etwas zurücklassen, das sinnvoll für die Bevölkerung ist, etwa Wohnungen, Schulen, sanitäre Einrichtungen und ein funktionierender öffentlicher Transport. In Brasilien ist leider nichts davon passiert. Mit den gesamten stadtplanerischen Aktivitäten wurde erst extrem spät begonnen. Und es gibt keinen langfristigen Plan. Es ging nur darum, die Städte kurzfristig an die Bedürfnisse der WM anzupassen.

Cuiabá zum Beispiel braucht keine Straßenbahn, keine drei zusätzlichen Schnellbusspuren, keine fünf Autobahnen. Doch all diese Großprojekte wurden an ein- und demselben Tag gestartet. Die Stadt hat plötzlich aufgehört zu funktionieren. Und nichts davon wird fertig bis zur WM. Es gibt auch keine Garantie, dass nach der WM weitergebaut wird.

Mit einem Schlag machen diverse Regierungen von Bundesstaaten und Gemeinden große Summe Geld locker für die WM. Und natürlich profitieren davon ihre Freunde in den Baufirmen. Die Projekte haben nicht unbedingt etwas mit den langfristigen Bedürfnissen der Städte zu tun.

Wie schaut es in den kleineren Städten aus, zum Beispiel Manaus, Curitiba, Cuiabá?

Diese Städte verschulden sich langfristig. Für sämtliche WM-Austragungsstädte gibt es bereits Ausnahmeregeln vom Lei de Responsabilidade Fiscal (Gesetz für haushalterische Verantwortung). Das Gesetz soll brasilianische Gemeinden daran hindern, mehr Geld auszugeben, als sie einnehmen. Aber alle Austragungsstädte betreiben Deficit Spending, um ihre Projekte zu finanzieren.

Kurzfristig bekommen die Städte eine Infrastruktur, die nicht sinnvoll ist für die Bevölkerung. Sie haben gar keine Fußballteams, die so große Stadien brauchen. Doch die Bevölkerung muss sie bezahlen. Hinterher werden alle Weltcup-Stadien an private Firmen übergeben – auch die drei, die derzeit noch nicht privat sind. Das heißt: Die Öffentlichkeit bezahlt die Stadien und ein privates Unternehmen darf den Profit damit machen.

Die Stadien sollen künftig multifunktionale Arenen werden. Es kann dort Konzerte geben, Shopping Malls, Kinos, Parkplätze. Doch immer, wenn ein Bürger diesen Raum benutzen möchte, für den er ja ohnehin schon mit seinem Steuergeld bezahlt hat, muss er noch einmal zahlen. All diese Stadien sind weiße Elefanten. So strahlend weiß, dass man ihren Anblick kaum aushält.

Welche Logik steckt dahinter?

Oh, da steckt sehr viel Logik dahinter. Keine ökonomische, sondern eine politische Logik. Der Gouverneur von Mato Grosso etwa war bis vor einigen Jahren der König des Soja. Er hat nach wie vor enorme politische Macht und großen Einfluss in Brasília. Es war also ein politischer Gefallen, dass der weltgrößte Soja-Produzent sein Weltcup-Stadion bekommt.

Es hat auch mit Nationalstolz zu tun. Mit diesen Stadien wollte Brasilien der Welt zeigen: Wir sind modern. Wir können genauso spektakuläre Dinge bauen wie Deutschland, die Schweiz oder die USA. Wen interessiert da schon, was es kostet?

Vielfach wurde auch kritisiert, dass es im Zuge der WM-Bauten zahlreiche Menschen vertrieben wurden.

Ja. Zwar hat die FIFA wiederholt gesagt: Nicht eine einzige Person wurde wegen eines Stadions umgesiedelt. Streng genommen stimmt das. Es wurden überhaupt nur zwei Stadien neu gebaut: Recife und São Paulo. Und die wurden auf grünen Flächen gebaut, wo vorher nichts war. Die anderen Stadien wurden umgebaut.

Dennoch wurden zehntausende vertrieben, vor allem durch Straßenbau. In Rio wurden für den Bau einer Schnellbusspur von der Ilha do Fundão im Osten zum Olympischen Park in Barra da Tijuca im Westen tausende Menschen zwangsumgesiedelt. Die FIFA hat solche Projekte unterschrieben.

Es wurde sogar die Armee in Favelas geschickt. Was hat das mit der Fußball-WM zu tun?

Megaevents schaffen immer eine gewisse Bedrohung, weil sie selbst Ziel von Anschlägen werden können. Brasilien kannte das Problem «Terrorismus» bisher nicht. Aber jetzt muss etwas bekämpft werden, das noch gar nicht existiert. Plötzlich müssen die Grenzen militarisiert werden, der Luftraum, die Städte. Brasilien tut das mit 1,9 Milliarden Reais. Und der Betrag wird sich noch verdoppeln oder verdreifachen.

Es geht natürlich auch um Aufrüstung. Wir erleben bei allen sportlichen Megaevents, dass der internationale Waffenhandel steigt. Viele internationale Rüstungsunternehmen sind plötzlich in Brasilien präsent. Es geht um israelische Waffen, um US-amerikanische Drohnen. Und auch um österreichische Pistolen. Glock ist die offizielle Pistole der Securities bei den Olympischen Spielen 2016.

Was in Brasilien noch dazukommt: Die Staatsmacht sehen die Bürger als Bedrohung. Die Städte werden von der Militärpolizei kontrolliert, nicht von der zivilen Polizei. Sie behandelt die Bevölkerung, vor allem in den Favelas, als wären sie Aufständische.

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