von Stepan Steiger
Aus der Entfernung betrachtet, bietet die tschechiche Linke das Bild einer zerrütteten Landschaft: mit zwei starken, alten Bäumen und einigen nicht allzu gepflegten Büschen sowie vielen kleinen Kräutern. Die Bäume sind die zwei etablierten Parteien, die Tschechische Sozialdemokratische Partei (CSSD) und die Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren (KSCM).
Beide Parteien sind in der gegebenen Gesellschaftsordnung fest verwurzelt und deshalb eigentlich auch ihre Stützen – sie sind in einem anderen System nicht denkbar. Beide haben nur ein Ziel, und darauf ist auch ihre Politik ausgerichtet: die Beteiligung an der Macht. Die offiziellen sozialdemokratischen Losungen heißen heute: «Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität»; die der KSCM: «Hoffnung für die CR».
Die CSSD verfügt neuesten Angaben zufolge über rund 23000 Mitglieder, die KSCM über 50353 (Stand vom 31.Dezember 2013, eigene Angaben). Bei den letzten Parlamentswahl im Oktober vorigen Jahres haben die Sozialdemokraten im Vergleich dazu 1016829 Stimmen erhalten, die KSCM 741044 (bei einer Wahlbevölkerung von 8,4 Millionen). Die Diskrepanz zwischen Mitgliederzahlen und Wählerschaft hat eine einfache Erklärung: Allzuviele Sympathisanten stimmen zwar für «ihre» Partei, haben keine Lust, ihr auch als (zahlende) Parteimitglieder verbunden zu sein. Das erklärt auch, warum sie nicht immer für «ihre» Partei stimmen.
Parlamentsfixierung
Beide Parteien betrachten ausschließlich das Parlament als ihren Kampfplatz. An den oft großen Demonstrationen der letzten Jahre – zuerst gegen die von den USA geplante Raketenabschussrampe nahe der Hauptstadt Prag, dann gegen die Streichungspläne der rechten Regierung – haben sie «offiziell» ab und zu teilgenommen. Seltener waren die Sozialdemokraten vertreten, öfter und sichtbarer die KSCM – sehr oft durch ihren Jugendverband mit seinen unübersehbaren roten Fahnen. Über Möglichkeiten einer außerparlamentarischen Aktion gibt es in beiden Parteien nicht einmal eine Diskussion.
Wo es außerhalb des Parlaments keinen politischen Kampf gibt, braucht man auch kein «kämpferisches» Vokabular. Den Generationen, die das alte (das «kommunistische») Regime nicht erlebt haben, sind Worte wie Proletariat völlig unbekannt: Man kennt Arbeitnehmer, oder einfach Beschätigte, kaum jedoch Arbeiter. Man liest und hört fast täglich über den Mittelstand (meistens über seine Schwierigkeiten), doch nie über eine Arbeiterklasse. Klassenkampf ist ein seltener Ausdruck (meist nur als Schimpfwort in antikommunistischen Tiraden verwendet), gepriesen werden Arbeitgeber.
Weil die Sozialdemokraten vor fast zwanzig Jahren ihre (einzige) Tageszeitung aufgegeben haben, ebenso wie die Gewerkschaften, die Tageszeitung der KSCM, Haló noviny (Hallo-Zeitung), nur eine kleine Auflage hat und außerhalb der Parteitreuen kaum gelesen wird, steht die Öffentlichkeit völlig unter dem Einfluss der rechtsgerichteten Presse. Öffentliche, im Staatsbesitz befindliche Medien wie Fernsehen und Rundfunk werden vom neoliberalen Gedankengut beherrscht und sind antilinks. Nur eine, fast rühmliche Ausnahme, gibt es: Die Rudé právo (Rotes Recht), vierzig Jahre lang Banner der KP und ihr Hauptorgan, änderte 1989 blitzschnell ihren Besitzer, die Partei, und wurde von einigen Redaktionsmitgliedern privatisiert. Zum simplen Právo (Recht) umbenannt, ist sie heute ein liberales Blatt, das viele ihrer Leser als linkslastig einstufen.
Wie weit links steht die CSSD?
Aus der Nähe betrachtet darf man zweifeln, ob die tschechischen Sozialdemokraten noch als «sozialistische» Partei gelten können, doch «links» sind sie gewiss, auch wenn sie langsam nach rechts driften wie manche ihrer europäischen Schwesterparteien.
Die Politik dieser Partei (und die der KSCM) charakterisierte unlängst ein kommunistischer Freund von mir als «Brosamenpolitik». Es gibt keine «Vision», klagen manchmal auch sozialdemokratische Intellektuelle. Die Ziele beschränken sich auf kurzfristige Wahlsiege. Sie haben keinen Plan, wie man Voraussetzungen für grundlegende Änderungen der Gesellschaft schaffen könnte. Wichtig erscheint ihnen, Gesetze durch das Parlament zu bringen, die akute Probleme – oft soziale, doch auch ökonomische oder sonstige – beseitigen oder lindern. In einem Wort: Sie versuchen, den Staat, die Gesellschaft, zu verwalten («instandzuhalten» oder auszubessern), nicht zu gestalten.
An dieser Politik liegt es wohl auch, dass es der CSSD nicht gelingt, ihre Mitgliederbasis zu erweitern. Dazu trägt wahrscheinlich auch ihr inernes verknöchertes Regime bei. Ähnliche Probleme weist die KSCM auf. Keine der beiden Parteien ist imstande, wichtige soziale Gruppen wie Arbeiter, die Intelligenz oder die Jugend anzusprechen. Bei der KSCM gilt die alte Mitgliedergeneration, die zahlenmäßig sehr stark ist, als Bremse für eine mögliche «Modernisierung», denn ideologisch sind allzuviele der alten Mitglieder «stalinistisch» eingestellt, und die Parteiführung, aus Furcht Wählerstimmen zu verlieren, unternimmt nichts, um ihre Denkmuster zu ändern.
Reibungspunkte
Zwischen den beiden großen Parteien gibt es kaum Unterschiede in der Innenpolitik. Auf den ersten Blick müsste man also denken, eine enge Zusammenarbeit wäre für beide – und noch mehr für ihre Wählerschaft und wahrscheinlich auch für das gesamte Land – von Vorteil. Die sozialdemokratische Parteileitung jedoch beharrt immer noch auf dem Beschluss ihres Parteikongresses aus dem Jahre 1995 (!), der eine Zusammenarbeit mit der KSCM auf Regierungsebene verbietet – wahrscheinlich aus Furcht, Stimmen an sie zu verlieren, wenn sie in die Regierung kommt.
Tiefgreifende Unterschiede gibt es in der Außenpolitik. Einer davon scheint unüberbrückbar: Die KSCM ist gegen die NATO-Mitgliedschaft, für die Sozialdemokraten ist sie geradezu eine Art Prinzip. Auch gegen die heutige Politik der EU hat die KSCM Einwände. Diese Gegensätze könnten in einer künftigen gemeinsamen Regierung – die für viele Bürger nur eine Frage der Zeit ist – viel geschicktes Taktieren erfordern. Im Moment jedoch droht die «Stunde der Wahrheit» noch keineswegs. Günstig für die KSCM ist die derzeitige Neigung des Staatspräsidenten Milos Zeman von der Partei der Bürgerrechte, SPOZ, sie zu seinem «Zirkel» zu rechnen.
Beiden Parteien gemeinsam ist ihre ideologische Schwäche. Karl Marx ist vom ideologischen Bildschirm der CSSD völlig und dem der KSCM zum Teil verschwunden.
Andere Linke
Neben der KSCM gibt es kleine Gruppen (man ist versucht von «Grüppchen» zu sprechen, da die meisten kaum mehr als einige Dutzend Mitglieder haben), einige von ihnen sind Abspaltungen von der einstigen «Mutterpartei». Zu nennen ist in erster Linie diejenige, die den ursprünglichen Namen KSC beibehalten hat und bis zu seinem Tod am 23.März dieses Jahres vom ehemaligen Sekretär der Prager Parteiorganisation, Miroslav Stepan, geführt wurde. Man hat ihn als radikalen Parteifunktionär in Erinnerung, der jede Art von Demonstrationen gegen das Regime mit Polizeigewalt zu unterdrücken versuchte. Ihm werden sehr nahe Beziehungen zu russischen Geheimdiensten nachgesagt.
Ein anderes Grüppchen ist eher bizarr. Aus Prag nach Nordmähren emigriert ist ein ehemaliger Agent der Geheimpolizei, der am 17.November 1989 während der Studentendemonstration, die den Sturz des Regimes einleitete, einen Toten mimen sollte, um die Studenten des Mordes beschuldigen zu können. Die Tat misslang. Auch er gibt sich als Stalin-treuer Kommunist.
Neben diesen zwei gibt es – nur in Prag – die Partei des demokratischen Sozialismus (SDS), die programmatisch der KSCM sehr nahe steht und meistens ihre Politik gutheißt.
Darüber hinaus gibt es allerdings auch andere linke Gruppen. Eine größere stellen die Anarchisten dar, zwei kleinere sind Sozialistische Solidarität (Socialisticka solidarita) sowie Linke Perspektive (Leva perspektiva), beide marxistisch orientiert.
Der tschechische Anarchismus ist organisatorisch jüngeren Datums, denn bald nach dem Ersten Weltkrieg, in den Jahren 1918–1925, sind seine Anhänger zu anderen, damals radikalen Parteien: den tschechischen Nationalen Sozialisten (nicht mit der NSDAP zu verwechseln!) und den Kommunisten übergetreten. Die Tschechoslowakische Anarchistische Vereinigung (CAS) wurde einige Monate vor dem Umbruch 1989 gegründet. Ihr Hauptthema in den 90er Jahren war die Bekämpfung der wachsenden extremen Rechten, die sich durch rassistische Gewalttaten und eine Skinhead-Subkultur auszeichnete.
Die CAS ging bald ein, wurde jedoch 1994 von der Tschechischen Anarchistischen Föderation (CAF) abgelöst, die bis heute tätig ist, ebenso wie die Antifa. Die CAF ist eine militante Gruppierung, inspiriert von der deutschen autonomen Bewegung; sie organisiert erfolgreich Aktionen gegen Neonazidemonstrationen und -angriffe und versteht es, Informationen über die neonazistische Bewegung zu sammeln.
Es ist bezeichnend, dass keine andere, auch keine linke politische Kraft so konsequent gegen die extreme Rechte auftritt wie die Anarchisten. Ein weiteres wichtiges Thema ist für sie das Squatting: In Prag konnten sie einige leere Häuser besetzen und sie in sozial-kulturelle Zentren umwandeln. Überhaupt stellen nur die Anarchisten in der Linken ein im wahrsten Sinne des Wortes aktives Element dar. Sie haben auch als einzige versucht – wenn auch ohne Erfolg – in Fabriken zu agitieren und «rote» Gewerkschaften zu organisieren. Ihre Basis war und ist die subkulturelle Jugend.
Um das Gesamtbild der tschechischen Linken abzurunden sind, noch einige Bürgerinitiativen zu erwähnen. Sie sind ausnahmslos «Früchte des (Volks-)Zorns» gegen die frühere, rechte Regierung, sie halfen Demonstrationen zu organisieren (und initiierten sie manchmal), doch wie die anderen Teile der Linken waren sie nicht fähig, den Zorn in dauerhafte Organisierung umzuformen.
Die zwei großen politischen Parteien der Linken haben wohl kein richtiges Interesse daran, die Bürgerinitiativen einzubeziehen (und die Initiativen wollten nicht als bloße Helfer dieser Parteien erscheinen). Auch die soziale Basis scheint eine verschiedene zu sein: Außer den beiden Parteien agieren alle anderen linken Gruppen überwiegend in Städten – mit kaum nennenswerter Basis auf dem Lande; ihre Mitgliedschaft ist überwiegend jugendlich und intellektuell.
An diesem Zustand hat sich nichts geändert. Die Bürgerinitiativen scheinen derzeit eine Phase der Untätigkeit durchzumachen, als hätten sie nach der Abwahl der rechten Regierung keinen Feind mehr. Den großen Parteien mag dies recht sein. Sollte auch die jetzige Regierung Maßnahmen ergreifen, mit denen linksorientierte Bürger nicht einverstanden sein können, ist es meiner Meinung nach höchst unwahrscheinlich, dass sich ihr Unmut laut zu Wort meldet. Für die tschechische Linke, zersplittert und uneinig wie sie ist, unfähig ein gemeinsames Ziel zu verfolgen und ohne breite soziale Basis, schimmert in dem langen Zeittunnel der Zukunft kein Licht.
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