Der Besuch eines türkischen Despoten und die Doppelzüngigkeit deutscher Politik
von Murat Çakir
Wer’s glaubt, wird selig! Als ob in der BRD die «europäischen Werte» nicht längst ausgehöhlt wären und diese in der Türkei je gegolten hätten, bescheinigt Wolfgang Bosbach (CDU) dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, dass «die Türkei sich unter ihm mit Riesenschritten von europäischen Werten» entferne. Aus allen Bundestagsfraktionen sind ähnliche Worte zu hören: Erdogan scheint in Köln nicht willkommen zu sein.
Doch die Bundesregierung ist anderer Auffassung und heißt Erdogan «als Ministerpräsident eines Landes, das uns ein wirklich enger und wichtiger Partner ist», herzlich willkommen. Dennoch scheuen sich weder Regierungssprecher Seibert («Wir erwarten ein sensibles, ein verantwortungsvolles Auftreten»), noch Außenminister Steinmeier («Unsere Demokratie hält es aus, wenn sich Herr Erdogan an seine Landsleute wendet») kleinere Seitenhiebe zu verteilen – immerhin sind am 25.Mai Europawahlen und schließlich will das Wahlvolk «Tacheles» hören.
Der Wahlkampf und innenpolitische Motive sind wohl der Grund für das Erdogan-Bashing der Politiker der neoliberalen Einheitsfront, die den verpesteten Atem der AfD gefährlich nahe an ihrem Rücken spüren. Wahrscheinlich haben gehässige Mäuler doch recht, wenn sie behaupten, dass der eigentliche Erfolg des Rechtspopulismus, der ein Kind des neoliberalen Umbaus ist, nicht an Wahlergebnissen, sondern darin zu messen sei, wie sehr seine Aussagen von der etablierten Politik übernommen werden. Im Zusammenhang mit dem Erdogan-Besuch in Köln rennen alle bürgerlichen Parteien um die Wette, um diese Behauptung zu beweisen.
Dabei wissen alle, dass die deutsch-türkischen Beziehungen viel zu wertvoll, zu strategisch sind, um sie wegen eines dahergelaufenen türkischen Despoten zu opfern. Natürlich ist allen Empörten bekannt, dass das NATO-Mitglied Türkei das offizielle Partnerland der diesjährigen Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA 2014, einer der weltweit wichtigsten Rüstungsmessen, ist. Wahrscheinlich ist ihnen auch bekannt, dass die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen bis in die Zeit des Osmanischen Reiches zurückreichen und seit Paul Rohrbach (1911) die «Unterstützung einer starken Türkei» für das deutsche Kapital und dessen politischen Vertreter eine «strategische Imperative» ist – «egal ob daran Armenier» oder andere Völker «zugrunde gehen oder nicht» (Reichskanzler Bethmann-Hollweg).
Ein kurzer Blick in die regierungsnahe Presse könnte auch für den letzten Begriffsstutzigen sehr informativ sein. So schreibt Gerd Höhler im Handelsblatt folgendes: «Inzwischen beläuft sich das bilaterale Handelsvolumen auf rund 33 Mrd. Euro, womit Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei ist. Auch bei den ausländischen Investitionen liegt Deutschland mit rund 12 Mrd. Dollar seit 1980 an der Spitze. Mitte der 1990er Jahre gab es etwa 500 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei. Heute sind es bereits annähernd 6000 … Für viele ist das Land nicht nur wegen seines großen Binnenmarktes und seiner jungen, konsumfreudigen Bevölkerung interessant, sondern auch als strategisch günstig gelegener Produktionsstandort für Exporte nach Nahost, Asien und Afrika.»
Seit dem ersten Wahlsieg der AKP 2002 wird Erdogan von den Bundesregierungen nach allen Kräften unterstützt und für die «mutigen Reformschritte» gelobt. Immerhin ist die Türkei eines der Länder, die mit westlicher Hilfe Privatisierungen, Deregulierungen und Flexibilisierungen am besten umgesetzt und den autoritär-neoliberalen Umbau am weitesten fortgeführt haben. Kein geringerer als der ehemalige Bundespräsident Wulff pries die Türkei «als Vorbild für die arabische Welt» an, und es war die Merkel-Regierung, die trotz der massiven Polizeigewalt während des Juni-Aufstands 2013 auf der Eröffnung neuer Kapitel im Heranführungsprozess an die EU bestand.
Dass nun der neoliberale Konvertit Erdogan die deutschen Gemüter erhitzt, ist kein Geheimnis. Sein autoritärer Führungsstil mag ein Grund dafür sein. Auch in Berlin musste man inzwischen eingestehen, dass die islamistisch-nationalistisch-neoliberale AKP mit der bürgerlichen Demokratie nicht kompatibel ist. Es sind aber in erster Linie die regionalimperialistischen Ambitionen der AKP, die in Berlin als Risiko für die «Energiesicherheit» und geostrategischen Interessen eingestuft werden. Ein polarisierender und zu starker Erdogan ist der politischen Klasse in Deutschland nicht genehm. Die heuchlerische Kritik an ihm dient dazu, ihn zu züchtigen. Denn für die Interessen des deutschen Kapitals gilt weiterhin: Die Türkei ist an der Kandare zu halten – ob mit oder ohne Erdogan!
Daher bleiben die Forderungen mancher Linker in Deutschland an die Bundesregierung («Deutsche Unterstützung für Erdogan beenden» usw.) nicht mehr als leere Worthülsen. Die beste Unterstützung für die demokratischen Kräfte und die arbeitende Klasse in der Türkei wäre, wenn gesellschaftliche und politische Linke in Deutschland ihre eigenen Hausaufgaben erledigen und sich nicht an der unerträglichen Heuchelei beteiligen würde.
Murat Çakir ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen.
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