von Angela Klein
Immer offener und raubeiniger reklamiert die Europäische Union für sich eine Führungsrolle unter den Weltmächten. Ihre lange zu beobachtende relative Zurückhaltung als militärischer Akteur in der Weltpolitik war nicht einer Aversion gegenüber harter Machtpolitik geschuldet, sondern der Konstellation des Kalten Krieges, der die USA als einziger, der Sowjetunion mindestens gleichrangiger Atommacht, zwangsläufig zur unbestrittenen Hegemonialmacht bestimmte. Militärstrategische Fragen spielten auf EU-Ebene deshalb lange keine Rolle, sie waren Sache der NATO und damit der USA.Mit dem Untergang der Sowjetunion haben sich diese Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Der gleichzeitige schrittweise Machtverlust der USA (siehe S.13) hat scheinbar günstige Bedingungen für den Aufstieg der EU zum Global Player unter deutscher Führung geschaffen – scheinbar, weil die EU selber ökonomisch einen Niedergang erfährt und intern mehrfach gespalten ist. Das mildert allerdings ihren Appetit keineswegs. So schrieb der ehemalige Leiter der EU-Verteidigungsagentur, Nick Witney, in einem Beitrag für den Europäischen Rat für Auswärtige Angelegenheiten im Jahr 2011: «Der Wert der bewaffneten europäischen Streitkräfte besteht nicht so sehr darin, speziellen ‹Gefahren› zu begegnen, sondern weil sie ein notwendiges Instrument von Macht und Einfluss in einer sich schnell verändernden Welt darstellen, in der Armeen immer noch wichtig sind.»
Neben diesen politischen Entwicklungen sind Veränderungen in der Außenwirtschafts- und Handelspolitik eine weitere, wesentliche Triebfeder für die neuen europäischen Weltmachtambitionen. Bestimmend für die strategischen Leitideen der EU-Politik seit den 90er Jahren sind die globalen Absatz- und Investitionsstrategien europäischer Transnationaler Konzerne, die infolge von Fusions- und Konzentrationsprozessen enorm an Bedeutung und Einfluss gewonnen haben. Insbesondere die Verfügbarkeit über Rohstoffe und die Durchsetzung «ungehinderter» Märkte haben die Verantwortlichen in der EU dazu bewogen, regelrechte Großraumpläne zu entwickeln, die denen des Naziregimes nichts zu neiden haben.
Rohstoffe und Freihandel
Früher schossen Kolonialtruppen mit Gewehren und Artillerie. Heute schießen Bürokraten in Anzug und Krawatte mit den Paragrafen der Freihandelsabkommen. Mit einer regelrechten Verschuldungspolitik erschließen sie transnationalen Konzernen damit neue Absatz- und Rohstoffmärkte. Und das gilt keinesfalls nur oder vorwiegend für Erdöl und Erdgas – die Schmiermittel der kapitalistischen Wirtschaft. «Verglichen mit Öl und Gas stellen die nichtenergetischen Industrierohstoffe in unserer Importstatistik keine großen Posten dar», erklärte Jürgen Thumann in einer Rede vor dem Rohstoffkongress des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) 2007. «Aber wenn sie fehlen, dann stehen bei uns die Räder still!» Und der derzeitige BDI-Präsident Ulrich Grillo ergänzte: «Wenn wir kein Benzin mehr bekommen, fahren unsere Autos nicht mehr. Aber wenn wir keine Metalle mehr bekommen, brauchen wir kein Benzin mehr, dann haben wir keine Autos mehr!»
Dabei steht gar nicht die Erwartung im Vordergrund, die fraglichen Rohstoffe könnten bald physisch knapp werden oder sich gar erschöpfen: «Aus globaler Sicht ist für die meisten auf der Welt verwendeten Rohstoffe kurzfristig keine Verknappung zu befürchten», schreibt die EU-Kommission in einer Mitteilung vom Jahr 2011. «Einzige Ausnahme dürfte in absehbarer Zeit der Rohstoff Erdöl sein.»
Ein Expertengutachten der EU hat im Jahr 2008 untersucht, inwieweit die Verfügbarkeit einiger Industrierohstoffe als kritisch einzuschätzen sei. Es kommt zum Ergebnis, dass es bei 14 von 41 untersuchten Rohstoffen ein hohes Risiko von Versorgungsengpässen gibt*, jedoch weniger wegen der physischen Knappheit, als aus wirtschaftspolitischen Umständen: weil sich die Vorkommen dieser Rohstoffe auf wenige Länder konzentrieren und einige dieser Länder wirtschaftlich und politisch instabil seien. Deutschland und die EU kritisieren dabei vor allem «Beschränkungen des Rohstoffzugangs, die politischen Ursprungs sind», «Maßnahmen bestimmter Länder, die der Inlandsindustrie, u.a. durch Exportbeschränkungen, einen privilegierten Zugang zu Rohstoffen sichern». Die EU-Kommission spricht von über «450 Exportbeschränkungen für mehr als 400 verschiedene Rohstoffe». Zu den «handelsverzerrenden Maßnahmen» zählt sie insbesondere Exportzölle, Exportquoten und Importvergünstigungen.
Mit dem Abschluss von Freihandelsabkommen soll dieser Umstand abgestellt werden. «Die Versorgung Deutschlands und Europas mit Rohstoffen zu wettbewerbsfähigen Bedingungen ist von strategischer Bedeutung und liegt im nationalen und europäischen Interesse», fuhr Grillo in der erwähnten Rede vor der Rohstoffkonferenz fort. Die Bundesregierung kündigte im Jahr 2010 an, dass sie den «Verzerrungen im internationalen Rohstoffhandel noch konsequenter als bisher begegnen [wird]. Dazu werden sämtliche Möglichkeiten auf multilateraler (WTO-Beitrittsverhandlungen, Streitschlichtungsverfahren) und auf bilateraler Ebene (Freihandelsabkommen, bilateraler Dialog) umfassend genutzt und ausgeschöpft.»
Die von der EU angestrebte Liberalisierung des Welthandels geht dabei über die WTO-Regeln weit hinaus: Während die WTO Ausfuhrsteuern als legitim betrachtet, möchten die EU und Deutschland diese begrenzen bzw. ganz unterbinden. Besonders der afrikanische Kontinent ist dabei im Visier. In einer Studie für Oxfam, Weed u.a. aus dem Jahr 2010 heißt es: «Die Strategie der EU zielt darauf ab, alle Exportquoten, die es Afrika ermöglichen, eine heimische Industrie zur Verarbeitung der geförderten Rohstoffe aufzubauen, zu verbieten. Auch setzt sie afrikanische Regierungen unter Druck, ihre Ausfuhrsteuern zu senken, wodurch diese dringend benötigte Milliardenerlöse verlieren würde.»
Die Schalen der Zwiebel
Im Kern propagiert die EU stets dieselben Maßnahmen: Liberalisierung von Waren- und Dienstleistungshandel, die Gleichstellung ausländischer und inländischer Investitionen, weltweiten Schutz von Unternehmen und geistigem Eigentum vor dem Zugriff der Staaten. Es überrascht nicht, dass die Konzerne daran interessiert sind, dass die EU Rechtssicherheit und Investitionsschutz nötigenfalls auch militärisch gewährleistet. So zieht der Expansionsdrang der Unternehmen den des Militärs nach sich. Zeitgleich mit der Lissabon-Strategie, durch welche die EU innerhalb von zehn Jahren zur Weltwirtschaftsmacht Nummer eins werden sollte, setzte deshalb auch der forcierte Aufbaue eines EU-Militärapparats ein.
Ein erster Schritt in Richtung einer Großraumpolitik war die EU-(Ost-)Erweiterung: die Aufnahme zehn neuer Mitglieder in den Jahren 2004–2007. Sie wurden gleichberechtigte Mitglieder der Europäischen Union, verursachten wegen des hohen Produktivitätsgefälles jedoch auch Schwierigkeiten. So wurden frühzeitig neue Formen für die weitere territoriale Expansion gesucht: die Europäische Nachbarschaftspolitik ward geboren. Deren Ziel ist, einen «Ring befreundeter Staaten» um die EU zu legen, ohne diesen eine Beitrittsperspektive zu eröffnen.
Die Nachbarschaftspolitik erstreckt sich derzeit auf 16 Staaten: Ägypten, Algerien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Moldawien, das besetzte palästinensische Gebiet, Syrien, Tunesien, die Ukraine und Weißrussland. Sie ergeben eine «großeuropäische Wirtschaftszone», die den wirtschaftlichen «Umbau» der einzelnen Länder nach neoliberalem Muster einschließt. Eine engere Integration – vor allem Visaerleichterungen! – erfolgt erst, wenn der Umbau zur Zufriedenheit der EU erfolgt ist. Diese «Nachbarschaftspolitik» ist nichts weiter als die Errichtung eines eigenen Machtblocks außerhalb der EU-Grenzen.
Der Kern, die Peripherie und die Protektorate
Damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Um den Großraum Europa soll sich zudem eine «Eurosphäre», eine Grand Area legen, ein Ring aus achtzig Staaten, der die ehemalige Sowjetunion, den Mittleren Osten, Nordafrika und Sub-Sahara-Afrika sowie die ölreiche kaspische und zentralasiatische Region umfasst und bis weit nach Ostasien reicht. Solche Pläne werden u.a. im Institute for Security Studies in Brüssel und dort insbesondere von der Group on Grand Strategy ausgeheckt.
Die Länder in dieser Grand Area müssen fünf Kriterien erfüllen, darunter:
– Sie müssen über alle grundlegenden Ressourcen verfügen, die notwendig sind, um die europäischen industrielle Bedürfnisse zu decken.
– Sie müssen alle wesentlichen Handelsrouten, insbesondere Energiepipelines und maritime Schifffahrtsrouten aus anderen Regionen ins europäische Heimatland einschließen…
Die Grand Area soll mit einem engen Netz von europäischen Militärbasen überzogen und damit unter Kontrolle gebracht werden, das wird europäische «Vorwärtspräsenz» genannt. Solche Militärbasen könnten etwa im Kaukasus und in Zentralasien, in der arktischen Region und entlang der Küstenlinie des Indischen Ozeans «benötigt» werden. Sie richten sich nicht allein gegen konkurrierende Mächte, sie haben auch diszplinierende Funktion nach innen: sie sollen «der Halsstarrigkeit und etwaigem Fehlverhalten auf Seiten der lokalen Machthaber vorbeugen» – politischer Misswirtschaft, ethnischer Gewalt, Kriminalität, sozialen Unruhen und Revolten. Der frühere Büroleiter des langjährigen EU-Außenbeauftragten Javier Solana, sieht in «einer Art freiwilligem Protektorat», wie es für Bosnien und den Kosovo geschaffen wurde, die geeignete Form der politischen Herrschaft über die Grand Area.
«Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Basis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die raueren Methoden zurückgreifen – Gewalt präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im 19.Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selbst stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden.»
Imperium heißt Krieg
Mit der Performance der EU, so hochgesteckte Ziele zu erreichen, steht es derzeit nicht zum Besten, ihr globaler Einfluss nimmt eher ab, die Probleme zwischen den Kernländern nehmen zu, Konflikte um die Peripherie, wie etwa die Ukraine, drohen leicht aus dem Ruder zu laufen. Die imperialen Ziele werden deshalb nicht zurückgesteckt: Bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt, könnte man die Reaktion zusammenfassen. Tony Blair betonte im Jahr 2011: «Die Existenzberechtigung Europas basiert heute auf Macht, nicht auf Frieden.» Und es hat seinen Grund, warum Massenmedien Ereignisse wie in der Ukraine dazu nutzen, einen «neuen Kalten Krieg» zwischen «Demokraten» (USA, EU) und «Autokraten» (China, Russland) herbeizuschreiben: Da soll eine renitente Bevölkerung sturmreif geschossen werden. Das genannte Institute for Strategic Studies hat im selben Jahr 2011 einen Sammelband «Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020» herausgegeben, in dem es heißt: «Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik [muss] ... gegenüber den entfremdeten modernen Staaten eine harte Machtpolitik verfolgen, die von der Einflussnahme im Clausewitzschen Sinne bis zur direkten militärischen Konfrontation reichen kann.» Für die Durchsetzung dieser Linie macht Gauck gerade den Frontmann.
* Diese 14 «kritischen» Rohstoffe sind: Antimon, Beryllium, Kobalt, Flussspat, Gallium, Germanium, Graphit, Indium, Magnesium, Niob, Metalle der Platingruppe, seltene Erden, Tantal, Wolfram. Sie werden insbesondere zur Herstellung von Hightechprodukten verwendet: Mobiltelefone, Lithium-Ionen-Batterien, Glasfaserkabel. Zu den «beinahe kritischen» Rohstoffen zählen u.a. Rhenium, Tellur, Hanium, Selen, Zinn, Holz und Naturkautschuk.
Quellen:
– Jürgen Wagner: Die EU als Rüstungstreiber. Aufrüstungsdruck, Kriegskassen und ein militärisch-industrieller Komplex für die Weltmacht EUropa. Reihe «Informationen zu Politik und Gesellschaft», Nr.7, 2012, der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europaparlament.
– Lukas Renz: Rohstoffimperialismus. Deutsche und europäische Entwicklungspolitik im Dienste von Wirtschaft und Machtpolitik. IMI-Studie 1/2014, Informationsstelle Militarisierung, Tübingen.
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