Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Film 2. Juni 2014
von Kurt Hofmann

Das Filmfestival «Crossing Europe» in Linz hat auch in diesem Jahr ein vielfältiges Programm trotz enger finanzieller Grenzen gezeigt: In der Ausgabe 11, die vom 23. bis 28.April stattfand, wurde «Crossing Europe» erneut seinem Ruf als Gegenentwurf zum sterilen Einheitsbrei des «Eurofilms» gerecht.

Anstelle des Ausrechenbaren, Glattpolierten war den in Linz gezeigten Arbeiten bei allen Unterschieden gemein, dass sie vorschnellen Gewissheiten misstrauten und auf die Neugierde des Publikums setzten.

Den Hauptpreis des Festivals vergab die Internationale Jury an die spanische Regisseurin Liliana Torres für ihren Film Family Tour. Zu Recht, der Film ist eine schonungslose Analyse zum Thema «Familienbande»: Die Idee, nach Jahren der Abwesenheit einen Monat lang an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, bereut die Filmemacherin Lili bald. Denn ihre Mutter hat ein ausgiebiges Besuchsprogramm für sie ausgearbeitet. Nach den Großeltern müssen die Tanten und Cousinen bedient werden, obligatorische Gastgeschenke inklusive. Man mag es auf den ersten Blick hyperrealistisch nennen, wie Liliana Torres in ihrem Spielfilmdebüt die Rollen des so unübersichtlichen wie lästigen Familienclans besetzt hat, denn bis auf ihr, von der Schauspielerin Nuria Gago verkörpertes, Alter Ego Lili stellen sich alle Verwandten selbst dar. Naturgemäß geht es Liliana Torres in Family Tour nicht um semidokumentarische, voyeuristisch geprägte Einblicke, sondern um von ihr abverlangte und ihr gegenüber verweigerte Akzeptanz unter Berufung auf eine abstammungsbedingte, lebenslange Verpflichtung. Die Familie nimmt Lili als Geisel und erwartet Zuwendung. Ob die Tochter während ihres Heimaturlaubes andere Dinge tun möchte, als Verwandte zu besuchen, steht nicht zur Debatte. Deren Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind allenfalls als Wurmfortsatz familiärer Selbstdarstellung von kurzfristigem (und oberflächlichem) Interesse. Lilis Status ist jener des ewigen, nur eben nun etwas zu groß geratenen Kindes. So bald wird sich Lili nach ihrem mehrwöchigen Besuch nicht mehr in Spanien blicken lassen, das «Blut ist nur insoferne dickflüssiger als Wasser, als es für eine gewisse soziale Dummheit der lebensspendende Quell ist», schrieb einst David Cooper in Der Tod der Familie (Rowohlt, 1972). Diese Erkenntnis vermittelt Family Tour auf exemplarische Weise.

Ein weiterer herausragender Film, der auf dem Festival zu sehen war, ist Violet vom belgischen Regisseur Bas Devos, der auf der diesjährigen Berlinale den Preis «Generation 14+» für einen Langfilm gewonnen hat.

Jesse muss mit ansehen, wie sein Freund Jonas in einer Einkaufspassage erstochen wird: ein plötzlicher Ausbruch von Gewalt durch eine undefinierte Gruppe von Jugendlichen, die nach der Tat flüchten. Jesse kann weder eingreifen, noch kann er begreifen, was passiert ist. Was ist geschehen? Was man «weiterführende Hinweise» nennt – Jesse vermag sie nicht zu liefern. Unklar bleibt, was das Massaker ausgelöst hat, unübersehbar ist, was es bei Jesse bewirkt hat. Wie in einer Zeitschleife wird er wieder und wieder auf dieses Ereignis zurückgeworfen. Einer ist tot, doch der andere lebt nicht mehr.

Violet ist ein Film über das Danach. Die üblichen Erklärungsversuche unterbleiben ebenso wie eine moralisierende oder sentimentalisierende Sicht der Ereignisse. Es gibt kaum Dialog. Die Welt des traumatisierten fünfzehnjährigen Jesse wird fast ausschließlich visuell beschrieben: wie ihm das Vertraute plötzlich bedrohlich erscheint, einzelne Gegenstände fatale Assoziationen bei ihm auslösen, der Versuch, die Wohnung zu verlassen, Panik bei ihm verursacht. Jesse ist ein Biker, seine ersten Versuche, sich in der Außenwelt zurechtzufinden, sind innerhalb der Gruppe im Park. Wie Kunststücke mit dem Fahrrad zu vollführen sind, weiß er immer noch, wie Kommunikation mit den anderen möglich wäre, weiß er nicht mehr.

Eine «Tatortbesichtigung»: Jesse betritt erstmals wieder das Einkaufscenter und sieht nur ein bedrohliches Nichts, alles verschwimmt vor seinen Augen, Farben, Blutspritzer, eine Atmosphäre der Angst. Im Park läuft Jesse ein Kind nach, etwa neun bis zehn Jahre alt. Auf seinem Smartphone hat er Bilder der Überwachungskamera, die im Internet zu sehen waren, heruntergeladen und konfrontiert Jesse damit: ob er das sei, inmitten der «Action»? Das Kind ist kein frühreifer Sadist, nur so grausam, wie Kinder sein können. Und die Täter? Man sieht Hände, von Handschellen zusammengehalten, einen Hinterkopf: Monstren? Wohl kaum, vielmehr leben sie mitten unter uns. Auch hier: keine Erklärungsversuche, keine Schuldzuweisungen.

Gegen Ende des Films eine lange Kamerafahrt über eine leere Straße. In deren Mitte wird ein auf seltsame Weise umgestülptes Fahrrad sichtbar, wie «geköpft», ein Symbol der Gewalt, so abstrahierend wie eindringlich. Eine filmische Installation, die noch einmal deutlich macht, wie sehr der Film Violet sich vom üblichen Entrüstungsarsenal wie auch von der voyeuristischen «Ausschlachtung» absetzt. Anstelle von Geschwätzigkeit gibt es den Blick durch das Kameraauge.

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