von Alain Bihr
Als das Ergebnis der Europawahlen in Frankreich bekannt wurde, waren viele höchst konsterniert. Der Front National wurde mit fast 25% im Landesdurchschnitt die mit Abstand stärkste Kraft, wobei er im Wahlkreis Nordost, wo Marine Le Pen Kandidatin war, sogar 33,6% erreichte, im Wahlkreis Ost, wo ihr Ehemann angetreten war, 29% und im Wahlkreis Südost, wo ihr Vater kandidierte, 28,2%.
Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass dieses Ergebnis weder aus dem Rahmen fällt noch überraschend kommt. Wenn man nicht wie das Kaninchen auf die Schlange nur auf die Prozentzahlen schaut, sondern die absoluten Zahlen zur Einschätzung mit heranzieht, dann relativiert sich der Wahlerfolg des Front National etwas: Die marineblauen Listen haben «nur» 4711000 Stimmen angezogen, als Direktkandidatin zu den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren hatte Marine Le Pen mehr als 6400000 erhalten. Zu den Europawahlen, an denen sich nur bescheidene 42,4% der Wählerschaft beteiligten, hat der Front National, wie auch die anderen politischen Parteien, nicht ihr ganzes Potenzial mobilisieren können – es hätte für ihn besser, das heißt also, es hätte schlimmer kommen können.
Diese Überlegung erlaubt, das politische Problem, vor dem wir stehen, genauer zu benennen. Sein relativer Wahlerfolg ist in Wirklichkeit weniger Ergebnis seiner Fähigkeit, seine Wählerbasis besser zu mobilisieren, als vielmehr die Folge der Unfähigkeit der anderen politischen Kräfte, die ihren zu mobilisieren – was auch die starke Wahlenthaltung erklärt.
Die europhilen und eurokratischen Parteien (Gaullisten, Konservative, Liberale und die sozialdemokratische PS) haben in der Wählerschaft eigentlich eine breite Mehrheit, konnten ihre Wählerbasis aber nicht in ausreichendem Maße an die Urnen locken, denn diese steht der EU sehr gleichgültig bis skeptisch gegenüber. Die EU hat ja auf die Finanzkrise 2007–2009 nur mit einer Verdoppelung der Lohnsenkungs- und Sparpolitik reagiert, nachdem sie die Rettung des Finanzkapitals durch eine Explosion der Schulden der öffentlichen Haushalte organisiert hatte.
Aber Indifferenz und Skeptizismus weichen zunehmend einer direkten Ablehnung der EU, und das in einem wachsenden Teil der Bevölkerung, die am direktesten Opfer der Krise und ihres neoliberalen Managements wurden, mit steigender Erwerbsarbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung, einem Anstieg der Massenentlassungen, sinkender Einkommen und Kaufkraft, schleichender Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme usw. Diese Bevölkerungsschichten erkennen sehr wohl in den Institutionen der EU (Kommission und Zentralbank an der Spitze) die Instanzen, die ihnen in offener oder versteckter Komplizenschaft mit den verschiedenen nationalen Regierungen die Zwangsjacke der Lohnsenkungs- und Austeritätspolitik verpasst haben.
Gerade in diesen Schichten erzielte der Front National seine besten Ergebnisse, und dort hat er auch ein Reservoir an weiteren potenziellen Wählern. Er schafft das, indem er deren Ressentiments aufgreift, ihrer ohnmächtigen Wut und passiven Revoltiertheit ein Sprachrohr verleiht, indem er ihnen die tatsächlich Verantwortlichen (die Regierungsparteien, die die neoliberale Politik verordnen) und zugleich die nur in ihrer Einbildung Verantwortlichen zeigt (den Ausländer mit allen seinen Gesichtern, innerhalb wie außerhalb der nationalen Grenzen Frankreichs) und ihnen als einzigen Heilsweg die Rückkehr zu einem starken Nationalstaat verkündet, der alleiniger Herr seiner Währung, seiner Gesetzgebung und seiner Grenzen ist.
Doch es ist keineswegs gesichert, dass der Front National damit automatisch Erfolg hat. Wenn diese Opfer der neoliberalen Politik sich den nationalistischen Sirenengesängen des Front National hingeben, dann deshalb, weil sie keine andere Alternative sehen. Ihre Ressentiments rühren auch daher, dass sie nicht selber für ihre Interessen kämpfen können – gestützt auf Berufsverbände, Gewerkschaften und politische Organisationen, die in der Lage sind, ihnen einen Rahmen für Mobilisierung und Bewusstwerdung zu liefern, indem sie ihnen den Hauptfeind (den Kapitalismus) und eine glaubwürdige emanzipatorische Perspektive aufzeigen. Letztlich ist der Erfolg des Front National zuallererst der Preis für das Fehlen eines radikal linken Pols in Frankreich, der konsequent antineoliberale und antikapitalistische Kräfte eint. Die niedrigen von der Linksfront (Front de Gauche) erzielten Ergebnisse (6,3% im Landesdurchschnitt) und die unbedeutenden Ergebnisse der radikalen linken Listen (1,6%) illustrieren das und zeigen die Dringlichkeit, einen solchen Pol aufzubauen.
Der Autor war Soziologiedozent in Besançon mit Schwerpunkt soziale Ungleichheit und Klassenbeziehungen.
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