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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2014

Eine Herausforderung für die radikale Linke

von Alain Bihr

Seit Marine Le Pen als Nachfolgerin ihres Vaters an die Spitze des Front National getreten ist, wiederholen die Medien bis zum Überdruss, der Front National versuche, sich zu «entdämonisieren» und seinen Diskurs «nach links hin» zu korrigieren. Damit reproduzieren sie einmal mehr die Propaganda des Front National und verschleiern, worum es bei dieser angeblichen Wende geht und wieviel Kontinuität sie in Wirklichkeit enthält.
Im Gegensatz zu Chrysi Avgi in Griechenland hat der Front National sich nie als Neonazi-Partei verstanden. In seinen Reihen gab es zwar Nostalgiker des Dritten Reichs und des kollaborationistischen Vichy-Regimes, doch sie waren immer randständig, und ihre Positionen wurden auch schon zu Zeiten von Le Pen Vater von der Parteiführung streng verurteilt. Gleichwohl wurde der Front National rasch als rechtsextremistische Bewegung ausgemacht, da sein Führersein Selbstverständnis mit «nationale und volkstümliche Rechte» umschrieb; dazu gehören u.a. die ständige fremdenfeindliche und rassistische Hetze des Front National gegen Einwanderer und ihre antisemitischen und geschichstrevisionistischen Ausfälle.

Diese Kainsmale möchte die neue Führung des Front National um Marine Le Pen nun gerne loswerden. Denn sie sind ein Hindernis für die Gewinnung weiterer Teile der Wählerschaft auf der Rechten und in der Mitte, sowie für die Bündnisse mit den Parteien, die diese Wählerschaft traditionell repräsentieren. Denn – und das ist das Neue: die Führung des Front National strebt solche Bündnisse jetzt an.

Jean-Marie Le Pen hatte sich immer vorgestellt, im Verlauf einer scharfen nationalen Krise an die Macht zu kommen, in alle anderen politischen Formationen diskreditiert wären und er, wie Philippe Pétain im Juni 1940, als Retter in der Not erscheinen könnte. Deshalb weigerte er sich, ein Bündnis mit der sog. republikanischen Rechten anzustreben, die er mindestens ebenso sehr hasste wie die Linke.

Dieses Konzept stand im Widerspruch zu den Vorstellungen von Bruno Mégret, der Ende der 80er Jahre seine rechte Hand wurde. Mégret hatte verstanden, dass die Eroberung der Regierungsmacht sowohl auf nationaler Ebene wie auch in den Gemeinden, Verwaltungsbezirken und Regionen nur im Bündnis mit der Rechten möglich war. Für dieses Szenario lieferten zuerst Italien mit dem Bündnis der «postfaschistischen» Alleanza Nazionale mit der rechten Partei Forza Italia von Silvio Berlusconi, dann Österreich mit dem Bündnis der rechtsextremistischen FPÖ mit der traditionell rechten ÖVP Beispiele. Der Konflikt zwischen den beiden verschiedenen Strategien stürzte die Partei 1999 in eine schwere Krise, bei der sie ein Drittel ihrer Wählerschaft und zwei Drittel ihrer Kader verlor, die Bruno Mégret nach dessen Parteiausschluss folgten.

Eine andere Strategie

Hinter der von Marine Le Pen und ihrem Führungsteam angestrebten «Entdämonisierung» des Front National steckt also in Wirklichkeit die Übernahme der Strategie von Bruno Mégret, dem heftigsten innerparteilichen Widersacher ihres Vaters. Die Tochter ist dabei, ihren Vater zu verraten. Die Atmosphäre erreicht zwar nicht die Intensität der dramatischen Bearbeitungen des mörderischen Fluchs der Atriden, aber sie steht doch in der schönsten tragikomischen Tradition von Machtkämpfen.

Wer die Entwicklung des Front National verfolgt, seit er sich dauerhaft im politischen Spektrum in Frankreich etabliert hat, wird sich über seine neue «Linkswende» keine Illusionen machen. Es geht dabei um das propagandistische Aufgreifen bestimmter Forderungen der Lohnabhängigen (in Sachen Verteidigung von Arbeitsplätzen, Löhnen, sozialen Sicherungssystemen usw.). Die Grenzen dieser «Linkswende» werden deutlich, sobald man auf die Haltung des Front National zu den Kämpfen der abhängig Beschäftigten schaut, auch in ihren ganz klassischen Formen (Streiks, Straßendemonstrationen): Dazu schweigt der Front National regelmäßig, und wenn er sich äußert, dann kritisiert er diese Kämpfe im allgemeinen. Erst recht nehmen seine Führer und Mitglieder an solchen Kämpfen nicht teil.

Tatsächlich hat der Front National in den letzten dreißig Jahren regelmäßig solche «Linkswendungen» vollzogen, die nie von Dauer waren. Sein beiläufiges Interesse für Lohnforderungen erklärt sich aus seiner doppelten gesellschaftlichen und wahlpolitischen Basis. Seine größten Wahlerfolge verzeichnet der Front National in zwei verschiedenen Wählerschichten mit entgegengesetzten politischen Interessen: einerseits die traditionellen Mittelschichten (kleine und mittlere Landwirte, Handwerker und Kleinhändler, Freiberufler und Kleinunternehmer), andererseits lohnabhängige Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte, die die Mehrheit des modernen Proletariats bilden. Das ökonomische und soziale Programm des Front National, das hauptsächlich Propagandazwecken dient, schwankt ständig zwischen beiden hin und her: Mal betont er Forderungen, die Arbeitskosten, also der Löhne, Sozialabgaben und die direkten Steuern zu senken, mal führt er sich als Verteidiger der Arbeitsplätze, der sozialen Sicherheit usw. auf. Der Front National kann den widersprüchlichen Charakter ihren Programms nur dadurch verschleiern, dass sie mal die eine, mal die andere Art von Forderungen in den Vordergrund stellt.

Zugleich versucht er, eine kohärente Synthese aus beidem herzustellen, indem er von der «nationalen Priorität» spricht: Er schlägt vor, Arbeitsplätze und Sozialleistungen in erster Linie oder sogar ausschließlich Franzosen zu geben und die französischen Unternehmen durch exklusiven Zugang zu den staatlichen Ausschreibungen und durch neue Zollschranken gegen die ausländische Konkurrenz zu schützen.

Was die «Linkswende» bedeutet

Die jüngere «Linkswende» des Front National erklärt sich jedoch nicht allein aus diesen periodischen Schwankungen in seiner Propaganda. Sie erklärt sich auch aus der Tatsache, dass sein bedeutendstes Wählerreservoir im Lager der Lohnabhängigen liegt. Dies umso mehr als die Lohnabhängigen in Frankreich heutzutage, wie im übrigen Europa, in einer verzweifelten Lage sind, Opfer der Angriffe auf ihre Reallöhne und der Sparpolitik – angebliche die einzig mögliche Antwort auf die Strukturkrise des Kapitalismus –, allein gelassen von ihren gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, die ihre Interessen nicht mehr verteidigen oder gar die Sparpolitik selber mitmachen.

Die «Linkswende» erklärt sich schließlich aus der genannten Strategieänderung und wirft zugleich Licht auf deren Sinn. Denn das vom Front National angestrebte Bündnis mit der traditionellen Rechten oder einem Teil von ihr ist nicht von Dauer, wenn es nur als kleinkariertes taktisches politisches Manöver daherkommt. Vielmehr müssten der Front National und die traditionelle Rechte einen gesellschaftlichen Block (ein Bündnis verschiedener Klassen) schmieden und festigen, der aus einem Teil des Proletariats, einem großen Teil der traditionellen Mittelschichten und dem Teil der Bourgeoisie besteht, der sich hauptsächlich auf den Binnenmarkt orientiert. Ein solcher gesellschaftlicher Block könnte die Basis liefern für eine Politik des Bruchs mit der neoliberalen Ordnung, die Europa heute beherrscht – was natürlich den Ausstieg aus der Eurozone und aus der Europäischen Union impliziert.

Der Erfolg des Unternehmens hängt letzten Endes ab von den noch kommenden Zuspitzungen der Strukturkrise auf Weltebene, von der Art der Fortsetzung der neoliberalen Austeritätspolitik in Europa, aber auch und vor allem, ob es den Organisationen der radikalen Linken gelingt, dem Widerstand und den Kämpfen der Lohnabhängigen eine antikapitalistische Stoßrichtung zu geben. Das ist letztlich die Herausforderung, die der Front National an die Adresse der radikalen Linken richtet.

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