Sozialer Protest in den Landesfarben Italiens
von Henri Wilno
Ende 2013 fanden in zahlreichen italienischen Städten Straßenblockaden, Platzbesetzungen und «spontane» Kundgebungen statt. Die beteiligten Akteure gehörten sozialen Gruppen an, die für gewöhnlich nicht mit solchen Kampfformen in Verbindung gebracht werden: Händler, Handwerker, Lkw-Fahrer, Kleinbauern zusammen mit Personen, die mehr oder weniger am Rande der Gesellschaft stehen, Vorstadtjugendliche, Erwerbslose und auch Studierende. Sie werden oft als forconi bezeichnet: diejenigen, die Heugabeln schwenken.
Im Januar 2012 gab es in Sizilien eine Bewegung von Fernfahrern. Sie blockierten mehrere Tage lang die Zufahrtsstraßen und Autobahnen um Palermo. Sie protestierten gegen die Benzinpreise und forderten Steuersenkungen. Ihre Aktionen erhielten die Unterstützung anderer sozialer Gruppen: von Fischern (die gleichermaßen unter den hohen Benzinpreisen leiden), Bauern, Handwerkern und Kleinunternehmern im Bauwesen, aber auch Arbeitslosen…
Tatsächlich ging es der Bewegung um mehr als nur um die Senkung der Benzinpreise. Zudem rückte sie die forconi ins Rampenlicht, die im ländlichen Milieu Siziliens im Sommer 2011 entstanden waren. Die sizilianischen forconi mischten die Forderung nach mehr Autonomie für Sizilien gegenüber der Zentralregierung mit der Bekräftigung des Rechts auf «Würde», der Anprangerung der Korruption und Volksferne der Politiker und der Ablehnung der Regierung sowie der Europäischen Zentralbank. Sie bezeichneten sich als unpolitisch und als Gegner der politischen Parteien, aber Teile der extremen Rechten waren in der Bewegung präsent, vor allem Forza Nuova.
Von den landesweiten politischen Parteien kam mehr oder weniger ausdrückliche Unterstützung aus der Mitte-links-Partei Italia dei Valori (Italien der Werte) und aus der Bewegung von Beppe Grillo. Die großen Parteien bewahrten deutliches Schweigen. Was die Initiatoren der sozialen Zentren waren gespalten: Einige kritisierten die Protestaktionen und verwiesen auf die Präsenz von Neofaschisten, während die Initiatoren der beiden linken sozialen Zentren von Palermo erklärten: «Wir sind auf Seiten der forconi, denn dies ist ein legitimer Kampf, der eine gute Orientierung benötigt. Wir haben keine Angst, uns dabei die Hände schmutzig zu machen.»
Die Schockwelle vom 9.Dezember
2012 und 2013 breitete sich die Forconi-Bewegung in verschiedenen italienischen Regionen aus. Koordinationen entstanden auf regionaler und nationaler Ebene mit Losungen gegen die zu hohen Steuern, die korrupte Politikerkaste («Sie sollen alle verschwinden»), gegen die Parasiten (die Beamten), gegen die Gewerkschaften, die nur die Arbeiter verteidigen, die einen Job haben, Aber auch gegen die Sparpolitik, die Banken, den Euro und die EU. Dazu kommt noch «der Stolz, Italiener zu sein».
Am 9.Dezember 2013 und den an den darauffolgenden Tagen fanden an Dutzenden Orten bedeutende Demonstrationen statt: Straßenblockaden, Schienenbesetzung, Zusammenstöße mit der Polizei vor öffentlichen Gebäuden. Die Demonstrationen waren besonders groß und hart in Turin, einer traditionellen Arbeiterstadt, die von der Entindustrialisierung besonders betroffen ist und im Vergleich zu 1971 ein Viertel ihrer Bevölkerung verloren hat. In Turin und Genua nahmen die Polizisten zum Zeichen ihre Sympathie die Helme ab.
Wie bei der sizilianischen Bewegung das Jahr zuvor stießen zu den üblichen kleinbürgerlichen Schichten Erwerbslose, Vorstadtjugendliche und einige Studierende. Viele trugen italienische Fahnen und sangen die Nationalhymne. Auch in Turin erklärten Aktivisten der sozialen Zentren: «Wir sind nicht einverstanden, aber wir sind in der Protestbewegung, um die Richtung zu ändern.»
Danach fanden während des restlichen Jahres verschiedene lokale Aktionen der forconi statt. Doch die Auseinandersetzung zwischen «Moderaten» und «Hardlinern» in ihren Reihen, die sich hauptsächlich auf die eingesetzten Kampfmittel bezog, nahm zu. Der «harte» Flügel (dessen Hauptvertreter, der Landwirt Calvani, zu einer Versammlung im Jaguar vorfuhr) rief zu einer Demonstration in Rom am 18.Dezember auf. Trotz der Verstärkung durch Faschisten der Casa Pound war die Aktion mit weniger als 3000 Teilnehmern ein Misserfolg. Einer der führenden «Hardliner», Andrea Zunino, Landwirt aus Norditalien, erklärte, Italien sei ein Sklave der jüdischen Banken.
Die «Moderaten» um Marianno Ferro (auch er ein Landwirt, hervorgegangen aus der traditionell mit der Rechten verbundenen Bewegung für die Autonomie Siziliens) distanzierten sich von der Initiative vom 18.Dezember. Sie enthüllten stattdessen am 23.Dezember symbolisch im Vatikan vor dem Papst ein Transparent: «Die Armen können nicht warten.» Aber das Hauptereignis der Bewegung sollte der 10.Januar sein, an dem das Ultimatum an Premier Enrico Letta, das ihn zum Rücktritt zwingen sollte, auslief. Im Vorfeld verschärfte sich die Kontroverse zwischen Calvani und Ferro, und die Initiative der «Hardliner» am 10.Januar hatten keinen großen Zulauf.
Rechts und links: alles eins?
In der Tageszeitung Il Manifesto beschrieb ein Chronist die Demonstration der forconi in Turin am 9.Dezember vor allem als eine Demonstration von «Verarmten»: Angehörige der verarmten Mittelschichten; Prekarisierte, die dazu verdammt sind, dies zu bleiben; Arbeitslose usw.
Die Situation ist günstig für soziale Revolten, trotz der Inaktivität der Führungen der großen Gewerkschaften, die alle in unterschiedlichem Maße die neoliberale Politik unterstützen. Darauf reagiert auch die radikale Linke: Am 18.Oktober 2013 riefen die Basisgewerkschaften zu einem landesweiten Streiktag und zu einer Demonstration in Rom gegen die Sparpolitik auf. Am Tag darauf fand eine weitere Demonstration in Rom im Rahmen des europäischen Aktionstags für das Recht auf eine Wohnung statt, ebenfalls unterstützt von den Basisgewerkschaften. Daran nahmen über 70000 Menschen teil, darunter zahlreiche Jugendliche und Migranten ohne Papiere.
Auf den Sturz Berlusconis im November 2011 folgten zwei Regierungen: zuerst die Regierung Monti, die von allen Parlamentsparteien mit Ausnahme der extremen Rechten um die Lega Nord unterstützt wurde und eine drastische Sparpolitik vorantrieb; und nach den Wahlen vom Februar 2013 (die den steilen Aufstieg der «Fünf-Sterne»-Bewegung von Beppe Grillo sah) eine Regierung der nationalen Einheit (aus Berlusconi-Anhängern, ehemaligen Berlusconi-Anhängern und der parlamentarischen «Linken») unter Führung von Enrico Letta (PD). Diese Regierung verfolgte weitgehend dieselbe Politik wie die Regierung Monti.
Bei dieser Vermischung von rechts und «links» ist das Auftauchen der forconi nicht verwunderlich. Die Regierung und die Gewerkschaftsführungen haben bislang nicht mehr zuwege gebracht, als die Gewalt auf den Demonstrationen zu verurteilen und zu hoffen, dass der Spuk bald vorbei sein wird.
Von den Parlamentsparteien unterstützt Beppe Grillo die forconi am deutlichsten, aber auch Berlusconi hat seine Solidarität kundgetan. Auf der «Linken» hingegen präsentiert sich die PD als Verteidigerin der republikanischen Institutionen. Dasselbe gilt für die Partei SEL (Linke-Ökologie-Freiheit): Deren Führer Nichi Vendola hat erklärt, die Proteste seien eine Gefahr für die Demokratie. Damit verstärken diese Parteien das in der Bevölkerung verbreitete Gefühl, dass die offizielle Linke sich für ihre Lage nicht interessiert.
Radikale Linke gespalten
Die radikale Linke ist in dieser Frage gespalten. Einige, darunter die Aktivisten der genannten sozialen Zentren, haben sich mehr oder weniger an den Initiativen der forconi beteiligt und versucht, sie zu beeinflussen. Andere stellen sich Fragen wie der historische Führer der No-Tav-Bewegung (gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon–Turin), Alberto Perino: «Wenn ein Volk unterdrückt wird, rebelliert es und es muss klar sein, dass wir dann anderen nicht das Feld überlassen können. Erinnern wir uns an das Beispiel der Goldenen Morgenröte in Griechenland. Es besteht die Gefahr, dass so etwas auch in Italien entsteht. Ich sage nicht, dass wir Arm in Arm mit den Faschos gehen müssen. Ganz im Gegenteil. Aber auch wenn wir darauf achten müssen, nicht instrumentalisiert zu werden, müssen wir darauf achten, dass nicht andere die Rebellion der Bevölkerung instrumentalisieren.»
Sinistra Anticapitalista, die Organisation der IV.Internationale in Italien, hat gegenüber den forconi eine distanziertere Haltung. «Es wäre eine gefährliche Illusion, diese Mobilisierungen als Wegbereiter für einen wirklichen positiven Kampf gegen die Regierung und ihre Sparpolitik zu betrachten, wie dies manche Linke tun», schreibt Franco Turigliatto. Diego Giachetti fasst das Problem folgendermaßen zusammen: «Das Phänomen zeigt das Potenzial der Radikalisierung nach rechts von Teilen des Kleinbürgertums und des ‹Subproletariats›, was zu einer Gefahr für die Arbeiterklasse werden kann … Es sind die Schwäche und die Ineffizienz der Aktionen der Gewerkschaftsführungen, die den Weg für diese Art Protest bereiten. Das Problem kann nicht dadurch ausgeräumt werden, dass man behauptet, diese Bewegungen leisteten einen positiven Beitrag im Kampf gegen die Regierung und ihre Sparpolitik. Man kann aber sie auch nicht allein als Frucht eines (zerstörerischen?) Komplotts faschistischer Gruppen abtun.» Sinistra Anticapitalista legt deshalb den Schwerpunkt auf die Notwendigkeit einer Mobilisierung der Lohnabhängigen gegen die Regierung und die Sparpolitik.
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