von Ingo Schmidt
Ungleiche Einkommensverteilung, Vermögenskonzentration und globale Vermögensteuer: Mit diesen Themen ist der französische Ökonom Thomas Piketty zum Bestsellerautor in Amerika geworden. Als solcher wurde er dann auch Gegenstand des Medieninteresses in Deutschland.
In einer Reihe von Besprechungen und Interviews wird der hiesige Markt auf die deutsche Übersetzung des Kapital im 21.Jahrhundert vorbereitet. Die für Frühjahr 2015 angekündigte Veröffentlichung wird zu einer breiten Diskussionen um die Möglichkeiten und Grenzen sozialdemokratischer Politik führen. Damit ergibt sich auch die Möglichkeit, sozialistische Ideen zu entwickeln und zu verbreiten.
Dazu bedarf es allerdings gründlicher Vorarbeit. Denn im Gegensatz zur Strategie des Dritten Wegs, die Vorträumer wie Ulrich Beck und Anthony Giddens in den 90er Jahren auf den Markt geworfen haben, entwickelt Piketty seine Reformvorschläge aus einer gründlichen Analyse kapitalistischer Verteilungsverhältnisse. Damit ist er so weit in Richtung historischen Materialismus gegangen, dass er sich im Text zu einer kritischen Abgrenzung gegenüber Marx genötigt sah. Was ihn nicht daran hinderte, eine Anspielung auf Das Kapital werbewirksam im Titel seines eigenen Buches unterzubringen. Aber was schreibt er denn nun eigentlich?
Der Rentierkapitalismus
Piketty verfolgt Kapitalakkumulation und Einkommensverteilung in Westeuropa und den USA von der Zeit der Großen Depression im 19. Jahrhundert – üblicherweise auf die Jahre 1873–1896 datiert – bis zur Großen Rezession des 21. Jahrhunderts. Dabei stellt er fest, dass sich die Ungleichverteilung von Einkommen und Kapitalbesitz gegenwärtig auf Werte zubewegt, die zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts erreicht wurden. Diese Ungleichheit könne durch eine inflationäre Entwertung von Vermögenstiteln überwunden werden und politischen Bewegungen Auftrieb verleihen, die sich Umverteilung im Namen des Schutzes gegen die Macht des globalen Kapitals und des Schutzes der eigenen Nation auf die Fahnen schreiben.
Von all dem hat das «Zeitalter der Katastrophen» von 1914 bis 1945 reichlich und mehr gesehen: Zwei Weltkriege und die Große Depression der 30er Jahre haben das ihre getan, um Ungleichheit durch Entwertung und Zerstörung von Vermögenswerten zu reduzieren.
Piketty unterstellt einen Kausalzusammenhang zwischen der Belle Epoque mit ihrem obszönen Nebeneinander von demonstrativ zur Schau gestelltem Reichtum und nicht zu verbergender Massenarmut und den «schöpferischen Zerstörungen» im Zeitalter der Katastrophen.
Mit diesem Zusammenhang begründet er seine Forderung nach einer globalen Vermögensteuer. Diese solle und könne die Ungleichheit auf ein Maß beschränken, das Gesellschaften vor dem sozialen und dann auch politischen Auseinanderbrechen bewahre und die Weltwirtschaft vor dem Zerfall in rivalisierende Nationalökonomien schütze.
In den «Wirtschaftswunderjahren», die dem Zweiten Weltkrieg folgten, konnte die Sprengkraft, die den kapitalistischen Verteilungsverhältnissen innewohnt, vorübergehend neutralisiert werden. Die vorangegangenen Kriege und Krisen hatten Kapital, für das es keine rentable Anlage gab, in erheblichem Umfang vernichtet.
Zudem führte die sozialstaatliche Einhegung des Kapitalismus zu einer mehr oder minder schiedlichen Teilung von Wachstumsgewinnen zwischen Arbeit und Kapital. Wachstumsschwäche und Sozialabbau seit den 80er Jahren haben das Verteilungsproblem jedoch wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Die Renditen aus Vermögensbesitz übersteigen nunmehr das Wirtschaftswachstum. Sie können daher nicht aus zusätzlich geschaffenen Werten bedient werden, sondern erfordern eine Umverteilung zulasten der Arbeitseinkommen. Da ein erheblicher Anteil der Vermögenseinkommen nicht konsumiert wird, sondern in den weiteren Vermögensaufbau fließt, schaukeln sich Vermögenskonzentration und Einkommensungleichheit gegenseitig hoch.
Es entsteht eine von der Reichtumsproduktion abgehobene Vermögensgesellschaft, deren Saus und Braus die Arbeitsgesellschaft immer weiter abwertet. Damit wird aber der kapitalistischen Gesellschaft, in der Einkommen angeblich auf dem produktiven Beitrag jedes einzelnen zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beruht – sei es in Form von körperlicher Arbeit, Management oder unternehmerischerer Initiative – die Legitimationsgrundlage entzogen.
Der Lebensstil des 1%, den Oliver Stone im Wolf of Wall Street in abstoßend treffender Weise auf die Leinwand gebracht hat, steht in krassem Widerspruch zu solchen Vorstellungen. Pikettys Kapital im 21.Jahrhundert bietet Erklärungen und Alternativen angesichts des Unbehagens an einer neoliberalen Bereicherungskultur, die sich von der Großen Rezession kurzzeitig verunsichern ließ, aber schließlich auch die Krise in ein gutes Geschäft verwandeln konnte.
Autonomes Wachstum?
Allerdings stößt Pikettys vorwiegend empirische Analyse an theoretische, geografische und politische Grenzen. Beispielsweise übernimmt er die in der Volkswirtschaftslehre häufig getroffene Annahme, Wirtschaftswachstum werde durch Produktivitäts- und Bevölkerungswachstum angetrieben. Letztere seien theoretisch aber nicht zu erklären, sie könnten nur empirisch gemessen werden. Piketty grenzt seine Annahme eines autonomen Wachstums ausdrücklich gegen die Marxsche Theorie ab, die er dahingehend interpretiert, Akkumulation des Kapitals führe notwendig zu einer sinkenden Profitrate. Seine eigene These, dass sich die Verteilungsungleichheit gerade deswegen verschärft, weil die Profitraten hoch bleiben, während das Wachstum sinkt, ist damit logisch unvereinbar.
Allerdings ist das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate auch unter Marxisten umstritten. Und Piketty, wenn er seiner empirischen Analyse partout keine wie auch immer marxistische Theorie zugrunde legen will, sollte sich wenigstens nach alternativen Erklärungen umsehen. Schließlich gibt es genügend Wachstumseuphoriker, die jede Krise und die damit verbundenen Verteilungsprobleme durch wachstumsfördernde Maßnahmen zu überwinden suchen. Um solchen Vorschlägen den Wind aus den Segeln zu nehmen, müsste schon erklärt werden, warum das Wachstum in Europa und Amerika die Werte der Nachkriegsprosperität trotz Wachstumspolitik nie wieder erreicht.
Die Annahme, steigende Bevölkerungszahlen führten automatisch zu Wirtschaftswachstum, ist noch aus einem anderen Grund problematisch. Sie unterstellt, dass ein steigendes Arbeitsangebot auch zu entsprechender Nachfrage führen würde. Dass dem nicht so ist, zeigt die anhaltende Arbeitslosigkeit in kapitalistischen Gesellschaften deutlich.
Pikettys Untersuchung der Ungleichheit wäre überzeugender, wenn er zwischen der Vermögenskonzentration auf der einen, Arbeitslosigkeit und dem davon ausgehenden Lohndruck auf der anderen Seite einen Zusammenhang hergestellt hätte. Marx’ Ausführungen zum «allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation» im ersten Band des Kapitals seien in diesem Zusammenhang ausdrücklich zur (Wieder-)Lektüre empfohlen.
Machtverhältnisse
Eine weitere analytische Leerstelle im Kapital des 21. Jahrhunderts stellen die politischen Machtverhältnisse dar. Und das, obwohl Piketty alles andere als ein weltabgewandter Forscher ist. Als Berater der französischen PS war er an der Ausarbeitung der Millionärssteuer beteiligt, mit der Hollande seiner Präsidentschaft zunächst einen echt sozialdemokratischen Charakter gegeben hatte. Dadurch verschlechterte sich freilich das Investitionsklima. Hier und da wurde Kapital aus Frankreich abgezogen, um der Drohung mit der großen Kapitalflucht Nachdruck zu verleihen. Unter diesem Druck ist Hollande inzwischen auf einen Steuersenkungskurs umgeschwenkt.
Es ist billig, hierin einen Sieg des globalen Kapitals zu sehen, das soziale Reformen ein für alle mal unmöglich mache. Mit diesem Argument haben sich Dritte-Weg-Sozialdemokraten vom Sozialstaat verabschiedet, und gelegentlich fanden sich auch Marxisten, die aus dem gleichen Argument den unvermeidlichen Aufstieg des Sozialismus abgeleitet haben. Allerdings spielt die Vernachlässigung der Machtverhältnisse, die einer globalen Vermögensteuer oder anderen sozialen Reformen im Wege stehen, solchen Argumenten in die Hände. Wenn sich Piketty dieser Frage gestellt hätte, wäre er vielleicht auch zu einem anderen Urteil über Kapitalkontrollen gekommen.
Aus seiner Wirtschaftsanalyse leitet er das Argument ab, eine globale Vermögensteuer zur Verringerung von Ungleichheiten sei Kapitalkontrollen vorzuziehen, um die Effizienzgewinne der internationalen Arbeitsteilung nicht aufs Spiel zu setzen. Wie es um diese Gewinne bestellt ist, wäre noch mal eine eigene Diskussion wert. Regierungen, die nennenswerte Steuererhöhungen planen, müssen sich aber schon fragen, ob solche Maßnahmen nicht durch Kapitalkontrollen abgesichert werden müssen. Dass eine globale Steuer, die Kapitalflucht unmöglich machen würde, nicht auf einen Schlag, etwa von der UNO, eingeführt werden wird, weiß Piketty schließlich auch.
Piketty lädt uns zu einer theoriegeleiteten Bestandsaufnahme kapitalistischer Realitäten und davon ausgehender politischer Reformen ein. Wir sollten diese Einladung annehmen und das Kapital des 21.Jahrhundert einer kritischen Lektüre unterziehen. Aber auch, um unsere eigenen, von Marx’ Kapital ausgehenden Vorstellungen, zu hinterfragen und eine Kapitalismuskritik für das 21.Jahrhundert zu entwickeln.
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