von Manuel Kellner
Am 1.September 1939 begann mit dem Überfall Nazideutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg. 60 bis 70 Millionen Menschen sind ihm zum Opfer gefallen, wenn unmittelbare Kriegsfolgen wie Hungersnöte und Seuchen einbezogen werden, dürften es sogar 80 Millionen gewesen sein.In Bezug auf den Ersten Weltkrieg war die Position der revolutionären Linken (im Gegensatz zur großen Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien) klar: Das war ein imperialistischer Krieg, Revolutionäre konnten keine der Kriegsparteien unterstützen, am wenigsten die herrschende Klasse und den Staat des eigenen Landes. Sie vertraten die Position des revolutionären Defätismus. Aber wie war das mit dem Zweiten Weltkrieg? Musste man da nicht Partei ergreifen? War das nicht ein gerechter Krieg zwischen den antifaschistischen Alliierten auf der einen und Nazideutschland, dem faschistischen Italien und dem reaktionären Kaiserreich Japan auf der anderen Seite?
Nach Ansicht von Ernest Mandel, dem 1995 verstorbenen belgischen Marxisten (und weltweit bekanntesten Mitglied der IV.Internationale), der unter den Nazis Zuchthaus und zwei Konzentrationslager überlebt hatte, lagen die Dinge nicht so einfach.* Er betrachtete den Zweiten Weltkrieg als eine Kombination von verschiedenen Konflikten, zu denen sozialistische Revolutionäre aus seiner Sicht jeweils unterschiedliche Haltungen einzunehmen hatten.
Verteidigung der Sowjetunion
Allein schon wegen der Teilnahme der Sowjetunion, die von Hitlerdeutschland am 22.Juni 1941 überfallen wurde, war der Zweite Weltkrieg nicht einfach nur ein imperialistischer Krieg wie der Erste Weltkrieg. Die Sowjetunion war Opfer eines Angriffskriegs und sie war kein kapitalistisches Land. Ein Sieg Nazideutschlands hätte hier den Kapitalismus restauriert, die Sowjetunion in eine deutsche Kolonie verwandelt und alle noch verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution von 1917 ausradiert. Darum mussten Linke Partei ergreifen für den Verteidigungskrieg der Sowjetunion gegen den imperialistischen Überfall Deutschlands.
Das war keineswegs gleichbedeutend mit einer Befürwortung der Politik Stalins oder des damaligen bürokratisch-diktatorischen Regimes der Sowjetunion. Um nur ein Beispiel zu nennen: Vor dem Überfall Deutschlands auf Polen (am 1.September 1939) wurde am 24.August 1939 der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen, der diesen Überfall deckte und in einem geheimen Zusatzprotokoll Einflusssphären festlegte, die unter anderem die spätere Aufteilung Polens unter Deutschland und die Sowjetunion vorsahen. Das Stalin-Regime gab damit – bis zum Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion – das Streben nach einem Bündnis mit den westlichen imperialistischen Staaten und seine antifaschistische Rhetorik auf und veranlasste die Kommunistischen Parteien, ihre antifaschistische Politik und Bündnisarbeit einzustellen. Als diese westlichen Staaten dann doch wieder zu Alliierten und der Antifaschismus wieder ein wichtiger Teil der offiziellen politischen Linie wurde, verlangte die Stalin-Führung von den KPs die Einstellung des Klassenkampfs und der oppositionellen Arbeit in diesen Ländern.
Gegen nationale Unterdrückung
Nicht nur für die Sowjetunion, auch für China mussten Linke damals gegen Japan Partei ergreifen. China war damals ein halbkoloniales Land, das sich gegen imperialistische Aggressoren wehrte – das war der Maßstab, ganz unabhängig davon, wie die jeweilige politische Führung im Kampf gegen die Aggressoren zu beurteilen war. Dasselbe galt auch für andere asiatische Kolonialvölker, die gegen ihre nationale Unterdrückung durch verschiedene bewaffnete imperialistische Mächte kämpften. Die Überführung der nationalen Befreiungskämpfe in antikapitalistische Revolutionen und ihre Nutzung zur Eroberung der politischen Macht durch Arbeiter- und Bauernräte war der einzige Weg, die nationale Unterdrückung und die damit eng verbundene Niederhaltung der bäuerlichen Massen nachhaltig zu überwinden. Die meisten Führungen der Befreiungsbewegungen waren – im Gegensatz insbesondere zur maoistisch geführten KP Chinas, die tatsächlich den Kapitalismus abschaffte, allerdings nicht zugunsten einer wirklichen Rätemacht – weit entfernt von einer solchen sozialistischen Perspektive. Doch die Kritik an ihren möglicherweise unzureichenden oder falschen politischen Positionen und der Wunsch, das eigene sozialistische Programm zu verwirklichen, entband nicht von der Pflicht zur Parteinahme in Konflikten, in denen der Einfluss der eigenen Ideen gering oder verschwindend gering war.
Die Partisanenkriege
Ein weiterer Konflikt im Rahmen des Zweiten Weltkriegs war der Kampf der Bevölkerungen Europas, deren Länder von den Nazis besetzt worden waren. Auch das waren Formen des Kampfs gegen nationale Unterdrückung, die mit sozialen Revolutionen verbunden werden konnten. In Jugoslawien und Albanien hatte er die Abschaffung des Kapitalismus zur Folge; der Bürgerkrieg in Griechenland endete aufgrund der Nachkriegsvereinbarungen der westlichen Siegermächte mit der Sowjetunion in einer Niederlage, und auch der Partisanenkrieg in Norditalien vermochte die Herrschaft des Kapitals nicht zu brechen. In all diesen Fällen mussten sozialistische Revolutionäre selbstverständlich für die Partisanen Partei ergreifen und ihren Kampf unterstützen.
Kein Burgfriede
Über die genannten Konflikte hinaus war der Zweite Weltkrieg jedoch auch ein innerimperialistischer Konflikt um die Weltherrschaft. Das deutsche Kapital hatte Hitler nicht zuletzt deshalb unterstützt, weil es für sich selbst im Krieg den einzigen Weg sah, seine Klassenherrschaft zu erhalten und erneut nach der Weltherrschaft zu greifen. Frankreich und Großbritannien kämpften den Worten nach für Demokratie, in Wirklichkeit aber um ihre Kolonialreiche und um ihren imperialistischen Einfluss in Afrika und Asien (was nichts daran änderte, dass der französische Widerstand gegen die Nazibesatzer unterstützt werden musste). Auch dem US-Imperialismus ging es nicht wirklich um Demokratie, sondern um die eigene Hegemonie – die ihm der Zweite Weltkrieg schlussendlich auch gebracht hat, eingeschränkt durch die Sowjetunion und später durch die VR China und eine Reihe kleinerer Länder, in denen der Kapitalismus entweder als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs von oben oder aber durch antikoloniale Massenbewegungen von unten und in jahrzehntelangen Bürgerkriegen (wie in Vietnam) gestürzt wurde.
Die politischen Führer der genannten Westmächte waren sich der Interessen, für die sie stritten, durchaus bewusst. In bezug auf die USA und ihre Motive für den Kriegseintritt zitiert Mandel den Staatssekretär Cordell Hull, der im Jahr 1942 ziemlich genau aussprach, worum es ging: «Die Führung eines bevorstehenden neuen Systems internationaler Handelsbeziehungen und anderer ökonomischer Angelegenheiten wird aufgrund unserer großen ökonomischen Stärke hauptsächlich den Vereinigten Staaten übertragen werden. Wir sollten diese Führungsstellung und die damit einhergehende Verantwortung hauptsächlich aus Gründen eines rein nationalen Eigeninteresses anstreben.»
Autonomie
Ein Verständnis von Antifaschismus, das den Klassenkampf von unten mit Rücksicht auf kapitalistische Bündnispartner (seien es Parteien oder Staaten) einstellte, wie dies die offiziellen KPs im Sinne der Stalin-Führung seit Juni 1941 vertraten, ist aus sozialistischer Sicht unannehmbar. Um seine westlichen Bündnispartner zu beruhigen, hatte sich Stalin von der sozialistischen Weltrevolution losgesagt und schließlich die III.Internationale, die ohnehin nur noch ein Instrument der sowjetischen Diplomatie war, 1943 auch formell aufgelöst. Für den Ersten Weltkrieg wie für den Zweiten Weltkrieg galt, dass die Arbeiterklasse, ihre Parteien und Organisationen dem «eigenen» Imperialismus – und auch zeitweiligen bürgerlichen Bündnispartnern gegenüber – ihre politische Autonomie wahren mussten, anstatt sich ihnen zu unterwerfen.
Die bürgerlichen Politiker in den USA, Großbritannien, Frankreich und in den kleineren kapitalistischen Ländern setzten den Antifaschismus, den Hass der Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Regime in Deutschland und Italien, die ihre Organisationen zerschlagen hatten, ganz bewusst als Waffe im Klassenkampf ein. Die abhängig Beschäftigten sollten aus ihrer Sicht den Kampf um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen oder gar um die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft aufgeben und sich ganz in den Dienst der Krieges der verbündeten imperialistischen Mächte gegen das faschistische Italien und Nazideutschland stellen, der dafür auch in einen «antifaschistischen Kampf» umgetauft wurde. Sich darauf einzulassen hieß, den bürgerlichen herrschenden Kräften die Führung im antifaschistischen Kampf zuzubilligen.
Gleichwohl mussten Arbeiterorganisationen gegen Aktionen (Streiks, Blockaden) sein, die die Lieferung von Waffen, Munition oder anderer kriegswichtiger Ausrüstungsgegenstände an die Sowjetunion oder ihre militärischen Verbündeten behindern würden. Der antifaschistische Kampf musste geführt werden – aber ohne die politische Unabhängigkeit der lohnabhängigen Klasse und die Ziele der sozialistischen Bewegung preiszugeben.
*Ernest Mandel: Der Zweite Weltkrieg. Frankfurt a.M.: ISP, 1991 (dt. Ausgabe von: The meaning of the Second World War. London: Verso, 1986).
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