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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2014

Auf dem zeitgleich mit Berlin stattfindenden «Marsch fürs Läbe» in Zürich waren 2000 fundamentalistische Christen und 300–400 Gegendemonstrantinnen anwesend.
von Helle Gebhardt, BFS Zürich

Der Verein «Marsch fürs Läbe» wurde im Jahr 2011 mit dem Ziel gegründet, Veranstaltungen «zum Schutz des Lebens» durchzuführen. Dazu gehört auch die seit 2010 jährlich stattfindende Kundgebung «Marsch fürs Läbe». Präsident des Vereins ist Daniel Regli, der derzeit auch für die rechtslastige SVP im Gemeinderat der Stadt Zürich sitzt.

Der christlich-fundamentalistische Verein zieht gegen die bis zur 12.Schwangerschaftswoche gesetzlich erlaubte Abtreibung zu Felde und will die sogenannte Fristenregelung abschaffen. Sie war im Jahr 2002 schweizweit in einer Volksabstimmung von 72% der Abstimmenden angenommen worden. Auch wenn diese Fristenregelung noch lange nicht das bedeutet, was wir unter einem selbstbestimmten Leben verstehen, weil sie unter anderem beinhaltet, dass eine Notlage geltend gemacht werden muss um abtreiben zu dürfen, so ist die Möglichkeit eines legalen Schwangerschaftsabbruchs doch ein wichtiger Fortschritt und ein zentrales Frauenrecht.

Die Argumente der selbsternannten «Lebensschützer» beziehen sich ausschließlich auf das Wohl des Kindes, welches sie sichern wollen. Sie verschieben den Fokus weg von der Frau und geben vor, «den Schwächsten der Gesellschaft» eine Stimme zu geben. So können sie ihre Meinung als die Meinung der «Unterdrückten und Nicht-Gehörten» darstellen. Bezeichnenderweise sind die auf der Webseite genannten Mitglieder und die am «Marsch fürs Läbe» aufgebotenen Redner ausschließlich Männer. Um ihre Position zu untermauern, berufen sie sich auf die Bibel, nach deren Anweisungen sie angeblich handeln.

Konservatismus und Frauenfeindlichkeit

Die Werte, welche der «Marsch fürs Läbe» vermittelt, sind problematisch und rückständig. Die christliche Familie, die der Verein auf seiner Webseite als «wahren Reichtum» bezeichnet, wird zum Idealbild stilisiert. Zu einer ordentlichen Familie gehören demnach sowohl die Ehe wie auch eine kirchliche Hochzeit. Homosexuelle und Andersgläubige dürfen jedoch nicht kirchlich heiraten, und viele Menschen leben unverheiratet in Beziehungen zusammen – allein das macht klar, wie realitätsfern und – gerade in Bezug auf andere Lebensentwürfe – ausgrenzend dieses Idealbild ist. Diese fundamentalistischen Vorstellungen von Familie sind Teil eines frauen- und männerfeindlichen, reaktionären Gesamtbildes.

Religiöse und fundamentalistische Ansichten gewinnen insbesondere in Krisenzeiten, wo gesellschaftliche Institutionen von den herrschenden Klassen torpediert und abgebaut werden, wieder an Boden. Religion ist allerdings lange nicht gleichbedeutend mit reaktionären Ideologien. Schon der Ausdruck von Karl Marx, der «Religion als Opium des Volkes» bezeichnete, attestiert dieser durchaus auch positive Eigenschaften. Wenn Menschen in religiösem Glauben einen Zufluchtsort finden, den ihnen die kapitalistische Gesellschaft nicht bieten kann, ist daran nicht viel auszusetzen. Einer emanzipatorischen Bewegung kann nicht daran gelegen sein, den individuellen Glauben zu verteufeln.

Etwas anderes ist es aber, unter dem Deckmantel der Religion erzkonservative und rückwärtsgewandte Ideologien zu propagieren, die darauf aus sind, Frauen und gesellschaftliche Minderheiten zu diskriminieren und ihrer Freiheit zu berauben. Das sind reaktionäre Antworten auf die Krisen des Kapitalismus, denen es etwas entgegenzusetzen gilt.

Abtreibung und soziale Sicherheit

Diese Verbindung ist entscheidend. Schwangerschaftsabbruch, aber auch pränatale Diagnostik und die zurzeit kontrovers diskutierte Sterbehilfe sind keine Felder individueller Moral. Die Entscheidung, ob während der Schwangerschaft Tests durchgeführt werden sollen, um allfällige Behinderungen des Kindes frühzeitig zu erkennen, ist nur vordergründig eine persönliche. Viel zu oft werden soziale, aber auch ökonomische Rahmenbedingungen in der Debatte um Leben und Sterben vernachlässigt.

Das Recht auf Abtreibung ist in den letzten Jahrzehnten erkämpft worden und stellt gerade für eine – noch lange nicht erreichte – Gleichstellung der Geschlechter ein zentrales Element dar. Ebenso wichtig ist aber, dass die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, nicht vom Einkommen der Eltern abhängen darf. Krippenplätze, Kinderbetreuung und finanzielle Erleichterungen sind deshalb genauso wichtig, wenn wir ein selbstbestimmtes Leben und eine freie Entscheidung über das Kinderkriegen fordern. Die christlichen Fundamentalisten vom «Marsch fürs Läbe» gehen auf diese sozioökonomischen Hintergründe kaum ein. Für sie zählt «Gottes Wort», und das nimmt nun einmal keine Rücksicht auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Dafür haben sie die christliche Familie auserwählt, die den ökonomischen Rahmen bilden soll, in dem Kinder zur Welt kommen. Der Mann vedient Geld, die Frau besorgt den Rest.

Gerade in Krisenzeiten, wo auch in der Schweiz viele bestehende Institutionen, die den Menschen zumindest bis zu einem gewissen Grad eine soziale Sicherheit versprachen, von den herrschenden Klassen zerstört werden, wo Krippenplätze knapp sind und ein Kind manchmal eine erhebliche ökonomische Belastung bedeutet, erfreut sich die Institution «Familie» wachsender Beliebtheit.

Kinder zu bekommen oder nicht ist eine extrem persönliche Entscheidung. Eine Entscheidung, die jeder Mensch, besonders aber jede Frau, frei und ohne gesellschaftliche, ökonomische oder moralische Zwänge treffen sollte. Davon sind wir heute aus den genannten Gründen weit entfernt. Noch immer hängt die Entscheidung für oder gegen ein Kind von viel zu vielen äußeren Faktoren ab.

Unser Ziel muss deshalb sein, jeder Frau die Möglichkeit zu geben, frei über einen Schwangerschaftsabbruch bestimmen zu können. Diese Wahlfreiheit beginnt bei der Gleichstellung und der Entscheidungsfreiheit der Frau in der Liebesbeziehung und endet beim Beruf, der mit einem Kind vereinbar ist. Alle diese Faktoren beeinflussen uhre Entscheidung und müssen berücksichtigt werden. Es reicht nicht, die Abtreibung rechtlich zu erlauben. Sie muss eine wirkliche Option sein. Keine Frau sollte gezwungen sein, aufgrund von sozialem Druck ein Kind abzutreiben. Genauso wenig aber sollte eine Frau dazu gezwungen werden, eines auszutragen.

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