von Jürgen Wagner
Eine neue NATO-Truppe soll innerhalb von zwei bis fünf Tagen an der Peripherie einsatzfähig sein.
Die bisherige Eskalationsspirale zwischen Russland und dem Westen gipfelte buchstäblich beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten am 4./5.September 2014 in Wales. Ihm waren monatelange antirussische Kanonaden in den westlichen Medien vorausgegangen und auch die versammelten Staatsoberhäupter wurden nicht müde zu betonen, Moskau habe die in Freundschaft ausgestreckte Hand des Westens rüde beiseite geschlagen und müsse nun eben die Konsequenzen tragen.
So heißt es in der Abschlusserklärung des Gipfels: «Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat die NATO sich darum bemüht, eine Partnerschaft mit Russland aufzubauen … Russland hat seine internationalen Verpflichtungen ebenso wie internationales Recht verletzt und so das gegenseitige Vertrauen, das den Kern unserer Zusammenarbeit bildet, zerstört.»
Happy birthday, NATO
Doch mit dieser Interpretation werden Ursache und Wirkung der aktuellen Krise auf perfide Art und Weise verdreht, wie John J. Mearsheimer, einer der bekanntesten US-Politikwissenschaftler, erfrischend deutlich klargestellt hat:
«Im Westen gilt es als gesicherte Erkenntnis, dass an der Ukraine-Krise maßgeblich die aggressive Haltung der Russen schuld ist … Doch diese Darstellung ist falsch: Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten. An der Wurzel des Konflikts liegt die NATO-Osterweiterung, Kernpunkt einer umfassenden Strategie, die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu holen und in den Westen einzubinden. Dazu kamen die EU-Osterweiterung und die Unterstützung der Demokratiebewegung in der Ukraine durch den Westen, beginnend mit der Orangenen Revolution 2004. Seit Mitte der 90er Jahre lehnen russische Staatschefs eine NATO-Osterweiterung entschieden ab, und in den vergangenen Jahren haben sie unmissverständlich klargemacht, dass sie einer Umwandlung ihres strategisch wichtigen Nachbarn in eine Bastion des Westens nicht untätig zusehen würden. Das Fass zum Überlaufen brachte der unrechtmäßige Sturz des demokratisch gewählten prorussischen Präsidenten der Ukraine; Putin sprach zu Recht von einem ‹Staatsstreich›.»
Die Konfrontation mit Russland wurde also zumindest billigend, womöglich sogar bewusst in Kauf genommen. Aus Sicht der NATO hätte man den Konflikt ohnehin erfinden müssen, wenn es ihn nicht schon gäbe. Lange Jahre hatte sich das Bündnis Auslandseinsätze nach dem Vorbild Afghanistans als neuen Markenkern auf die Fahnen geschrieben (ohne dabei aber seine russlandfeindliche Politik einzustellen). Als dieser und auch andere NATO-Einsätze aber einen mehr oder weniger desaströsen Verlauf nahmen, geriet die Allianz sichtlich ins Trudeln, wie es denn nun weitergehen soll. Da kommt das «Feindbild Russland» gerade recht, liefert es doch eine Daseinsberechtigung, mit der dem westlichen Kriegsbündnis zur Freude der Hardliner neues Leben eingehaucht werden kann: «65 Jahre nach ihrer Gründung schien die NATO reif für die Rente. Doch das Vorgehen Moskaus in der Ukraine hat den alten Auftrag des Bündnisses neu belebt … Die neue NATO-Strategie für Osteuropa wird zu heftigen Debatten über Verteidigungsausgaben führen. Auf die deutschen Steuerzahler dürften zusätzliche Milliarden-Belastungen zukommen. Aber das ist es wert. Die NATO ist immer noch die beste Versicherung gegen Schurken, Despoten und Aggressoren wie Putin. Happy birthday, NATO!» (Internationale Politik und Gesellschaft, 1.9.2014.)
Mobilmachung nach Osten
Schon vor dem Gipfeltreffen in Wales waren die NATO-Staaten alles andere als untätig: Die Luftraumüberwachung über Osteuropa wurde aufgestockt, mehr Manöver wurden abgehalten und seitens der USA eine «European Reassurance Initiative» im Gesamtumfang etwa einer Milliarde Dollar ins Leben gerufen. So bilanzierte NATO-Generalsekretär – und Russland-Hardliner – Anders Fogh Rasmussen im Mai 2014 zufrieden: «Wir haben bereits unmittelbare Maßnahmen ergriffen: Mehr Flugzeuge in der Luft, mehr Schiffe auf dem Meer und mehr Manöver am Boden.» Gleichzeitig kündige er einen «Bereitschaftsaktionsplan» an, mit dem die antirussischen Maßnahmen noch weiter intensiviert werden sollten und der schlussendlich auf dem NATO-Gipfel in Wales verabschiedet wurde.
Gemäß dem geheimen Dokument, das der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (31.8.2014) augenscheinlich vorlag, sollen fünf neue Militärstützpunkte in den drei baltischen Staaten sowie in Polen und Rumänien mit einer ständigen Besatzung von 300 bis 600 Soldaten errichtet werden. Die weiteren Details wurden von der Zeitung folgendermaßen beschrieben: «In dem Dokument wird Russland als ‹Bedrohung für die euroatlantische Sicherheit› eingestuft. Sein Vorgehen in der Ukraine wird unter dem Schlagwort ‹hybrid warfare› (gemischte, unkonventionelle Kriegsführung) analysiert. Die Allianz verpflichtet sich darauf, ‹die Fähigkeit der östlichen Alliierten zu erhöhen, Truppenverstärkungen aufzunehmen›. Das soll durch neue Kommandostrukturen und die Vorverlagerung von Ausrüstung geschehen. Die weiteren Details sollen bis Ende des Jahres von den Planungsstäben der NATO ausgearbeitet werden … Außerdem soll eine schnelle Eingreiftruppe mit etwa 4000 Mann gebildet werden, die man im Fall eines Angriffs oder Einsickerns feindlicher Kämpfer binnen Tagen nach Osten verlegen kann … Auch die Bundeswehr will sich an der Rotation der Kampftruppen beteiligen. Anfang kommenden Jahres soll eine Kompanie, etwa 150 Mann, eine amerikanische Einheit ablösen; an welchem Ort, ist noch nicht bekannt.»
Die «Very High Readiness Joint Task Force» (VRTF) oder auch «Speerspitze» benannte neue NATO-Truppe soll innerhalb von zwei bis fünf Tagen einsatzbereit und bis Februar 2015 aufgestellt sein. Auch wenn die Einheit weltweit operieren können soll, lässt das Abschlussdokument des NATO-Gipfels keinen Zweifel, wo der Schwerpunkt und damit der Gegner verortet wird: «Die Very High Readiness Joint Task Force wird in der Lage sein … auf aufziehende Herausforderungen besonders an der Peripherie der NATO zu antworten.» Generell finden sich im Gipfeldokument ungewöhnlich viele und ungewöhnlich scharfe Anfeindungen gegenüber Moskau. Da werden «Russlands aggressive Handlungen gegen die Ukraine» kritisiert und die «russische Eskalation und illegale militärische Intervention aufs Schärfste verurteilt».
Die kurze Zeitspanne für die Mobilisierung wirft die Frage auf, wie Deutschland sich angesichts einer Reaktionszeit von 48 Stunden beteiligen will, da es sicher nicht möglich sein wird, in dieser Frist eine Zustimmung des Parlaments einzuholen. Womöglich wird deshalb versucht werden, hierfür Vorratsbeschlüsse zu erwirken und damit die Parlamentsbeteiligung weiter auszuhöhlen.
Würfelspiel mit der Katastrophe
Von besonderer Brisanz ist angesichts der aktuellen Situation auch das Bestreben der ukrainischen Regierung, schnellstmöglich der NATO beizutreten. Ein diesbezüglicher Gesetzentwurf, der dies ermöglichen würde, soll bereits in der Mache sein. Diesem Wunsch wollten die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten beim Wales-Gipfel dann aber doch nicht nachkommen. Zwar betont das NATO-Gipfeldokument, es werde weiter eine Politik der offenen Tür verfolgt, als dann aber mögliche Beitrittskandidaten aufgelistet werden, fehlt der Name Ukraine auffällig. Beschlossen wurde auf dem Gipfel allerdings ein umfassendes «Hilfspaket» – sprich die Aufrüstung der Ukraine. Es soll Präzisionsmunition geliefert und generell bei der Modernisierung der Armee geholfen werden, konkret in den Bereichen Logistik, Kommando- und Kommunikationsstrukturen sowie Cyber-Abwehr: «Wir haben ein umfassendes und zugeschnittenes Maßnahmenpaket gepackt, damit die Ukraine besser für ihre eigene Sicherheit sorgen kann», so NATO-Generalsekretär Rasmussen.
Dies ist in doppelter Hinsicht hochproblematisch: Nachdem die ukrainischen Regierungstruppen faktisch den Krieg im Osten des Landes verloren haben, rückte Präsident Petro Poroschenko erstmals von seiner bisherigen Linie ab, keine Friedensverhandlungen führen zu wollen. Die westliche Aufrüstung macht es nun aber wahrscheinlich, dass er den Kampf bis auf Messer fortsetzen wird, wie Kritiker richtigerweise anmerken: «Mit westlichen Waffen versorgt, werden ukrainische Führer der Verlockung erliegen, Friedensverhandlungen den Rücken zuzukehren und auf einen Krieg zu setzen, den sie nicht gewinnen können.» Dadurch wird nicht nur das Töten und Sterben innerhalb der Ukraine verlängert, sondern auch ein dauerhafter Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland in Kauf genommen.
Die NATO-Politik ist ein hochgefährliches Spiel mit dem Feuer, wie etwa der Historiker Michael Stürmer in der Welt (30.8.2014) kritisiert: «Waffen für die Ukraine, NATO-Mitgliedschaft? Damit überfordert sich das Bündnis und verstärkt die Gefahr des großen Krieges. Im Schatten nuklearer Waffen ist das ein Würfelspiel mit der Katastrophe.» Das NATO-Treffen war ein gefährlicher Schritt in diese Richtung: In ihrer unnachahmlich knappen und prägnanten Art fasste Bild am 5.9. die Ergebnisse des Gipfels folgendermaßen zusammen: «Mehr Truppen, mehr Manöver! Das ist ein neuer Kalter Krieg!»
Jürgen Wagner ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung, Tübingen. Die Abschlusserklärung des Gipfels findet sich auf: www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_ 112964.htm.
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