Die Gezi-Park-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei. Münster: Unrast, 2014. 327 S., 18 Euro
von Bernard Schmid
Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei riefen im vergangenen Jahr zeitweilig erhebliche Hoffnungen in fortschrittlichen Kreisen hervor, brachte doch die breite Protestbewegung ab dem Juni 2013 die Verhältnisse auf spektakuläre Weise zum Tanzen. Nichtsdestotrotz gewann die islamistisch-wirtschaftsliberale Regierungspartei unter Recep Tayyip Erdogan (AKP) vielerorts sowohl die Kommunalwahlen im März dieses Jahres als auch die Präsidentschaftswahl im August.Zur Entmutigung sollte dies dennoch keineswegs Anlass geben. Es sei daran erinnert, dass wenige Wochen nach dem französischen Mai 1968 die gaullistische Rechte bei den Parlamentswahlen einen Erdrutschsieg erlebte, weitaus stärker als Erdogans diesjähriger Wahlerfolg – und dennoch die gesellschaftsverändernden Auswirkungen des Pariser Mai ein Jahrzehnt hindurch anhielten.
Wer deutschsprachige Literatur zu den Vorgängen in der Türkei im Jahr 2013, beginnend mit der brutalen polizeilichen Räumung des Istanbuler Gezi-Parks, und ihren Hintergründen sucht, dem oder der sei das Buch von Tayfun Guttstadt wärmstens empfohlen. Der Titel spielt auf eine Bezeichnung an, mit der Politiker des Regierungslagers die Protestierenden belegten – «Çapulcu» bedeutet so viel wie Plünderer und ist die türkische Entsprechung zur deutschen Beschimpfung als «Chaoten».
Guttstadt beleuchtet das Thema aus verschiedenen Richtungen. Er beginnt auf gut dreißig Seiten mit einer Darstellung der Hintergründe zur Umgestaltung der Türkei unter der seit 2002 das Land ohne Unterbrechung regierenden AKP. Er stellt die neoliberale Umwälzung dar, aber auch ihre vordergründig demokratischen Aspekte – die AKP musste sich zunächst gegen die alte kemalistische Elite, Militär und Staatsbürokratie durchsetzen, um dann aber statt der versprochene politischen Liberalisierung ihre eigenen Machtansprüche immer ungebrochener geltend zu machen. Der Autor kritisiert jedoch auch zu Recht die Kemalisten und türkischen Nationalisten unterschiedlicher Schattierungen. Eine begrüßenswerte starke Sensibilität beweist er für die ökologischen Auswirkungen der AKP-Politik, die ihren «Wirtschaftsboom» u.a. auf teilweise irrwitzige Bauprojekte – etwa überflüssige Wasserkraftwerke, die alle halbwegs bedeutenden Flüsse im Lande verunstalten – sowie auf eine «Kreditfalle» für weite Teile der Bevölkerung aufbaute.
Es folgt auf gut vierzig Seiten eine detaillierte Chronik der Ereignisse. Guttstadt gelingt die Gratwanderung, die einer solchen Übung innewohnt: Eine zu knappe Chronologie kann zur langweiligen Aneinanderreihung von Daten werden; fällt sie aber zu detailliert aus, droht man den Überblick zu verlieren. Die Darstellung ist hervorragend gegliedert und schafft es, eine Abfolge von erhellenden Schlaglichtern auf die Entwicklung der Situation zu werfen. Danach folgen ein knapp zwanzigseitiger Fototeil sowie über 150 Seiten Interviews mit Akteuren der Ereignisse. Die Beiträge von drei Gastautoren, unter ihnen Michael Hardt, schaffen zum Abschluss theoretische Zugänge. Zur Lektüre wärmstes empfohlen.
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