von Arno Klönne
Den «Nationalfeiertag» am 3.Oktober, die Erinnerung an den Tag des Beitritts der DDR zur BRD, haben wir wieder einmal hinter uns. Große Gefühle erzeugt er nicht. Das mag auch an dem Nebel liegen, der sich über seine lange Vorgeschichte gelagert hat.Staatsoffiziell wird diese gern so erzählt: Im Westen Deutschlands bahnte sich schon bald nach dem Ende der «Hitlerdiktatur» das politische und materielle Glück an, die westlichen Sieger streckten ihre hilfreiche Hand aus, die Westdeutschen lernten Demokratie, das Wirtschaftswunder ereignete sich, alles wurde gut. Den Ostdeutschen war dies nicht vergönnt, dort errichteten die russischen Bolschewiken eine «zweite Diktatur», den DDR-Staat, unter Beihilfe deutscher kommunistischer Funktionäre. Und so herrschten vierzig Jahre lang in einem Teil Deutschlands Unrecht und Elend. Bis zur friedlichen Revolution, zur Wende 1989/90 und zur Wiedervereinigung…
Diese Deutung hat den Vorteil, leicht eingängig zu sein, sie erspart genaueres Hinschauen auf historische Vorgänge. Lässt man sich auf eine solche Mühe dann doch ein, treten irritierende Fragen auf:
Wieso ging 1949 die westdeutsche Staatsgründung der ostdeutschen voraus? Welche gesamtdeutsche Wirkung hatte die separate Währungsreform 1948 im westlichen «Trizonesien»? Hatte die Politik der UdSSR gleich in den ersten Jahren nach 1945 das Ziel, Ostdeutschland (oder gar Gesamtdeutschland) zu sowjetisieren? Bestanden Gelegenheiten, die staatliche Spaltung des besetzten Deutschlands zu vermeiden oder (nach 1949) die Zweistaatlichkeit frühzeitig wieder rückgängig zu machen?
Interdependenzen
Derartige Überlegungen muß nicht anstellen, wer bei diesem Thema einer recht eigentümlichen Methode folgt: Man betrachte alles, was nach 1945 im Osten Deutschlands geschah so, als hätte es darauf einwirkende politische Entscheidungen und Operationen des Westens gar nicht gegeben. Es gab sie aber, höchst folgenreich.
Die politische Entwicklung in Deutschland nach dem Untergang des «Dritten Reiches» vollzog sich interdependent zwischen West und Ost, Ost und West, in Aktionen und Reaktionen auf beiden Seiten, im Kontext der auseinanderbrechenden Anti-Hitler-Koalition, dann des Kalten Krieges. Beherrschend waren dabei zu Beginn die jeweiligen Absichten der Besatzungsmächte, aber über einen begrenzten Einfluß verfügten auch Interessengruppen und Politikmacher in der deutschen Gesellschaft.
Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, hat 1951 die weltpolitischen Bedingungen damaliger Deutschlandpolitik so beschrieben:
«Der Osten will davor gesichert sein, dass Deutschland in die Waagschale des Westens fällt. Der Westen will davor gesichert sein, dass Deutschland in die Waagschale des Ostens fällt. Beide wollen davor gesichert sein, dass Deutschland erneut eine selbständige Gefahr für sie wird.»
Heinemann hatte 1950 als CDU-Minister das Kabinett Adenauer verlassen, weil er mit dem Projekt einer westdeutschen Wiederbewaffnung nicht einverstanden war, er hielt es für spalterisch. Als die UdSSR 1951 einen Plan vorlegte, wonach die beiden deutschen Staaten rasch wieder zusammengeführt werden könnten, bei freien Wahlen aber unter der Bedingung blockpolitischer Neutralität, trat Heinemann dafür ein, diesen Vorschlag prüfend beim Wort zu nehmen, darüber zu verhandeln. Die westdeutsche Regierung verweigerte das. Wie ernst die sog. Stalin-Note gemeint war, wurde erst gar nicht getestet. Das hatte seine Logik im herrschenden politischen Konzept der frühen Bundesrepublik. Es ließ sich auf die Formel bringen: Lieber ein halbes Deutschland ganz als ein ganzes Deutschland halb.
Im Westen: Ein halbes Deutschland ganz
Der in Westdeutschland den politischen Ton angebende «Bürgerblock» mit Konrad Adenauer ab 1949 als Kanzler wollte eine ungebrochen kapitalistische Ökonomie, das Ahlener Programm der CDU von 1947 war rasch zum Altpapier gelegt, und der westdeutsche Wiederaufstieg in den Weltmarkt ließ sich am ehesten durch vorbehaltlose Integration Teildeutschlands in das nordatlantische Bündnis und dessen militärische Strukturen zustandebringen. Gesamtdeutsche Neutralität hätte diesen Ambitionen im Wege gestanden.
Die USA, Großbritannien und nach einigem Zögern auch Frankreich konnten mit der Eingliederung Westdeutschlands in den Westblock zufrieden sein; einen «deutschen Sonderweg» mussten sie nun nicht mehr befürchten, die teildeutsche Bundesrepublik war für sie nützlich als geopolitisches Frontland, und der Generalvertrag sowie die Pariser Verträge* (1952, 1954) sicherten ihnen auch in Zukunft Vorbehaltsrechte gegenüber westdeutscher Politik.
Im Osten: Kommunismus als Perspektive?
Anders die sowjetischen Pläne – in der frühen Nachkriegszeit liefen sie darauf hinaus, eine gesamtdeutsche Lösung zu finden, nicht aus sentimentaler Deutschfreundlichkeit (woher hätte diese auch kommen sollen, angesichts der Erfahrungen 1941-1945), sondern bestimmt durch nachvollziehbare eigene Interessen.
Für die Beseitigung der wirtschaftlichen Kriegsschäden (damit hatten die USA kein Problem) waren für die UdSSR deutsche Reparationen notwendig, aus der Sowjetischen Besatzungszone konnten diese nur in begrenztem Ausmaß erwartet werden. Auch deshalb hielt die sowjetische Deutschlandpolitik an dem 1945 in Potsdam vereinbarten Konzept einer Viermächtekontrolle über Deutschland fest – selbst noch dann, als die USA und Großbritannien bereits den Weg zu einer westdeutschen Staatsgründung beschritten hatten.
Zunächst strebte die UdSSR keineswegs einen ostdeutschen Staat und dessen Sowjetisierung an, die DDR war, wie der Historiker Wilfried Loth es formuliert hat, «Stalins ungeliebtes Kind».
Die «antifaschistisch-demokratische Ordnung», von der sowjetischen Besatzungsmacht als Richtschnur für deutsche Politiker in der Ostzone vorgegeben, war kein propagandistisches Konstrukt, sie sollte gesamtdeutsche Strukturen prägen. Dass die Sowjets schon früh in ihrem Besatzungsgebiet ein Mehrparteiensystem einrichteten, war ein Zeichen dafür. Kommunismus stand nicht im sowjetischen Programm für das besetzte Deutschland. Zonenübergreifend sollten vielmehr Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Sozialisierung der Großunternehmen und Bodenreform die gesellschaftlichen Machtverhältnisse so verändern, dass ein neues deutsches Risiko für die Interessen der UdSSR ausgeschlossen würde; ein wieder zu errichtender gesamtdeutscher Staat sollte sich aus der internationalen geopolitischen Konkurrenz heraushalten.
Es ist nicht mehr zu ermitteln, ob die sowjetische Führung in dieses Konzept tatsächlich die Hoffnung setzte, es werde in Deutschland von der «nachholenden bürgerlichen Revolution» über die «antifaschistisch-demokratische Ordnung» zum «Sozialismus als Vorstufe des Komunismus» führen, oder ob solch ein Spruch nur als Trostpflaster für deutsche kommunistische Funktionäre gedacht war. Jedenfalls war die Gründung der DDR alles andere als die Erfüllung eines bolschewistischen Traumes, vielmehr der erste Akt im Scheitern der sowjetischen Deutschlandpolitik. Die historischen Weichenstellungen geschahen auf der Seite des Westens.
Allerdings leistete die sowjetische Besatzungspraxis in der Ostzone dazu Hilfe außerhalb des Plans. Schon vor 1949 entwickelte sie Eigenschaften, die dem Vorwurf einer «Bolschewisierung» Nahrung gaben. Zudem verfolgten aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrte deutsch-kommunistische Kader ihre spezifischen Gruppeninteressen, Walter Ulbricht beispielsweise war nicht gerade erpicht darauf, in einem neutralen Gesamtdeutschland als Repräsentant einer linken Opposition zu wirken.
Die «Magnettheorie»
Im westdeutschen Staat konnte der «Bürgerblock» sich politisch fest etablieren, die Wirtschaftselite aus der Zeit vor 1945 ihrer Macht wieder sicher sein. Abschreckende Zustände in der DDR dienten der bundesrepublikanischen Teilstaatlichkeit zur Legitimation. Die «Gefahr aus dem Osten» stellte alle kapitalismuskritischen Regungen erst einmal ins Abseits, freilich veranlasste sie westdeutsche bürgerliche Politiker in den 1950er Jahren auch zu sozialstaatlichen Zugeständnissen, einer «Verführbarkeit für kommunistische Agitation» sollte vorgebeugt werden. Eine deutsche Wiedervereinigung wurde imaginär in die Zukunft verlagert, die Rede vom «Unteilbaren Deutschland» (in den Grenzen von 1937) beruhigte national gesonnene Gemüter.
Konrad Adenauer versprach, von einer florierenden Bundesrepublik werde eine «Magnetwirkung» auf die DDR ausgehen und so die deutsche Einheit sich herstellen. Ob er eine Wiedervereinigung wirklich wünschte, wissen wir nicht, mit dem Terrain östlich der innerdeutschen Grenze verbanden ihn keine persönlichen Sympathien. In seiner Voraussage steckte allerdings ein Stück Realismus, die Anziehungsfähigkeit des westdeutschen Lebensstandards betreffend. Nur verschwieg er, dass eine Wiederherstellung der deutschen staatlichen Einheit auf den Konsens mit der Sowjetunion angewiesen war. Die wiederum gab der DDR den Abschied, als sie selbst in Erosion und in den Systemwandel geriet; der ungeliebte deutsche Teilstaat wurde ihr dabei lästig. Sowjetische Panzer wurden gegen die Wende nicht eingesetzt. Diese Revolution, wenn man sie so nennen will, verlief unblutig.
Gespaltene deutsche Linke
Die Ausgangsposition für Sozialisten und Kommunisten im besetzten Deutschland nach dem Untergang des «Dritten Reiches» war alles andere als günstig. Anders als 1918 war der Zusammenbruch des bis dahin herrschenden Systems ohne Zutun einer deutschen revolutionären Bewegung zustande gekommen. In großer Zahl waren in der Zeit des Faschismus linke Aktivisten zu Tode gebracht oder in die Emigration getrieben worden; dort existierten sie außerhalb der deutschen politischen Erfahrungswelt.
Auf der östlichen wie auf der westlichen Seite waren im Exil Kommunisten und Sozalisten in die politischen Apparate der Aufnahmestaaten eingebunden worden, was nach ihrer Rückkehr fragwürdige Folgen hatte. Und dass die Mehrheit der zwischen 1933 und 1945 in Deutschland Lebenden nach der Kapitulation mit dem Gefühl der Erlösung und ganz entschlossen eine «Wende zum Sozialismus» im Sinne gehabt hätte, wird niemand realistisch annehmen können.
Aber es gab immerhin in beträchtlichem Umfang eine Hinwendung zu linken politischen Ideen, Zustimmung zu gesellschaftlichen Reformen (etwa zur Sozialisierung der Großunternehmen und zur Bodenreform), auch den Wunsch, die Spaltung und innere Verfeindung der Arbeiterbewegung in Deutschland zu überwinden. Die Machtverhältnisse im besetzten Zonendeutschland standen dem entgegen.
In Westdeutschland setzte sich die SPD als linke Sammelpartei unter antikommunistischem Vorzeichen durch. Die zunächst durchaus attraktive KPD verlor schnell an Boden, sie galt nun als Instrument der sowjetischen Außenpolitik. In der Ostzone und dann in der DDR wurde die SED zu einer Staatspartei unter sowjetischer Kontrolle.
Bei alledem wirkte die Interdependenz ost- und westdeutscher politischer Weichenstellungen bestimmend; eine authentische Entwicklung der Linken im teil- und im gesamtdeutschen Rahmen war nicht mehr möglich. Die Hausgeschichtsschreibung der SED übrigens pflegte diesen Sachverhalt mit ihren Legenden zu verdecken…
Vier Jahrzehnte ostdeutscher Schuldendienst
Die Spaltung Deutschlands dauerte vierzig Jahre. In dieser Zeit waren die Folgelasten der Politik des Deutschen Reiches in der Hitlerära ganz unproportional den Bürgerinnen und Bürgern der DDR auferlegt, zum Vorteil der wirtschaftlichen Chancen Westdeutschlands.
So ist es nicht verwunderlich, dass die Eliten in Ökonomie und Politik der Altbundesrepublik die Einheit Deutschlands keineswegs als unverzichtbar angesehen haben und deren Wiederherstellung nicht als Eilsache. Die Modalitäten des ostdeutschen Beitritts zum westdeutsch geformten Staat brachten ihnen dann noch einen Extrabonus für ihre abwartende Haltung.
Die deutsche Wiedervereinigung vollzog sich als «Eingliederung der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes»; ein Prozeß demokratischer Willensbildung über eine neue gemeinsame Verfassung (obwohl vom Grundgesetz nahegelegt) wurde vermieden.
Diese Geschichte deutscher Spaltung und Wiedervereinigung bietet keinen Grund für nationalfeierliche Würdigungen.
Der Text basiert auf einem Beitrag, den der Autor für das Onlinemagazin Telepolis geschrieben hat.
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