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Asien/Australien 1. November 2014
Gegen soziale Ungleichheit und Hegemonie der Oligarchen

von Sung Vincent

Die Regenschirmbewegung speist sich aus allen sozialen Schichten Hongkongs. Sie unterscheidet sich von den Protesten der vergangenen Jahrzehnte durch ihre Methoden gewaltfreien Widerstands, ihre Spontaneität und die massive Störung der öffentlichen Ordnung. Ausgelöst wurde sie durch die politische Frage, wie demokratisch die kommenden Präsidentschaftswahlen sein werden, dahinter stehen aber tieferliegende soziale und ökonomische Spannungen.Freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gehören zu den zentralen Forderungen der demokratischen Bewegungen seit der Rückkehr Hongkongs in die Volksrepublik China im Jahr 1997.
Das Grundgesetz, auch die «Mini-Verfassung» von Hongkong genannt, sieht vor, dass der Präsident von Hongkong von der Bevölkerung gewählt werden kann. Die chinesische Regierung hat die Umsetzung ihrer diesbezüglichen Zusage jedoch immer wieder verschoben.
Im Mai 2013 hat das Bündnis Occupy Central auf Initiative des Juristen Benny Thai, des Soziologen Chan Kin-Man und des Pastors Zhu Yao Ming Kampagnenpläne für eine Direktwahl des Präsidenten im Jahr 2017 veröffentlicht und damit gedroht, das das Wirtschafts- und Finanzzentrum von Hongkong zu besetzen und, falls nötig, zu blockieren.
Occupy Central forderte unter anderem eine Volksabstimmung über drei verschiedene Modalitäten der Präsidentschaftswahlen. Nahezu 800000 Menschen (von 7,1 Millionen Einwohnern) nahmen online oder in Wahlbüros an der Abstimmung teil. Dabei erhielt das Verfahren, wonach die Kandidaten für die Präsidentschaft von den Bürgern vorgeschlagen werden sollten, die Mehrheit.

Der Protest explodiert

Im August 2014 entschied der Nationale Chinesische Volkskongress, dass die Wähler lediglich die Wahl zwischen zwei oder drei von einem Nominierungskomitee auserkorenen Kandidaten haben sollten. Das Wahlkomitee besteht aus 1200 Personen, darunter prochinesische Kapitalisten und Politiker. Der derzeitige Präsident Cy Leung wurde von dieser kleinen Clique im Jahr 2012 «gewählt». Er ist ein Handlanger Pekings und wohl insgeheim Mitglied der KP Chinas.
Am 22.September rief der Studentenverband HKFS einen fünftägigen Streik aus. Auch Gymnasialschüler nahmen daran teil. Am 26.September riefen die Streikenden zu einer Demonstration auf, um einen Platz nahe dem Regierungsbezirk zu besetzen. Die Polizei unterdrückte die Bewegung und nahm drei führende Aktivisten fest. Es kamen jedoch immer mehr Leute auf den Platz.
Erst von da an gaben die Sprecher der Bewegung die Losung «Occupy Central» aus und verlangten von der Polizei die Freilassung der drei Studentenvertreter. Die Polizei setzte Pfefferspray und schließlich Tränengas ein, um die Versammlung aufzulösen.
Die Polizeigewalt gegen den friedlichen Protest löste eine Welle der Empörung aus, die in eine breite Massenbewegung mündete. Die Protestierenden blockierten Straßen und errichteten Barrikaden. Der Gewerkschaftsverband von Hongkong (HKCTU, eine unabhängige Gewerkschaft, die zum demokratischen Lager gehört) rief für den 29.September zu einem Streik auf, der aber wenig befolgt wurde.

Die Dynamiken der Bewegung
In der Regel beziehen sich die Medien von Hongkong auf Occupy Central (OC) und deren Kampagne. Die treibende Kraft der Bewegung sind jedoch die jungen Studierenden, und sie wahren Distanz zu den drei Leitern des OC.
OC organisiert die Proteste in strikt zentralisierter Weise von oben nach unten, die Massenbewegung dagegen hat diesen Rahmen immer wieder gesprengt und ihre Autonomie behauptet.
Die Bewegung wurde von den ausländischen Medien als «Revolution der Regenschirme» bezeichnet, obwohl es sich nicht um eine Revolution handelt. Zu Beginn nutzten die Protestierenden Schirme, um sich vor Sonne und Regen zu schützen, und dann auch vor dem Pfefferspray. Sie nutzten auch Schutzbrillen oder Tücher.
Die Protestierenden haben sich auf den besetzten Plätzen diszipliniert verhalten, Abfälle gesammelt, die Straßen gereinigt. Es gab zahlreiche kleine Diskussionsforen mit gleichem Zugang für alle. Kleinhändler wurden durch finanzielle Unterstützung besonders für die ärmsten Bewohner von Mong Kok, einem äußerst dicht besiedelten Stadtteil Hongkongs auf der Halbinsel Kowloon, gewonnen. Die normalen Leute waren vom Opfergeist der Studierenden für die Zukunft von Hongkong angerührt. Sie haben sie mit Wasser, Nahrung und anderen Dingen versorgt. Sie schützten die Studierenden, als diese von Mitgliedern der Mafia und von Lakaien Pekings angegriffen, Studentinnen sexuell belästigt und die Barrikaden und Zelte zerstört wurden. Die Polizei sah dabei nur zu.

Soziale Spannungen

Gemäß einem UN-Bericht von 2008/2009 kennt Hongkong seit Jahrzehnten die größte Kluft zwischen reich und arm in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Ein Bericht des Credit Suisse Research Institute von 2010/2011 hat gezeigt, dass dort 1,2% der Bevölkerung 53% des Vermögens besitzen. Die Mehrheit von ihnen besteht aus Immobilienmagnaten und Finanzoligarchen. Die Regierung von Hongkong hat kaum etwas unternommen, um die extreme soziale Polarisierung einzudämmen.
Die Hälfte der Abgeordneten des Legco (des Parlaments) werden eher von Unternehmensleitungen entsandt als dass sie gewählte «Wahlmänner» wären. Diese Leute sind generell strikt gegen freie Wahlen. Weiterhin legen sie regelmäßig ihr Veto gegen alle Gesetzesvorhaben ein, die das Recht auf Arbeit und den Schutz der normalen Menschen betreffen. Hingegen stimmen sie für alle Privatisierungen der öffentlichen Dienste und für alle Maßnahmen zugunsten der Konzerninteressen.
Die Hegemonie der Immobilienvertreter ist ein enormes soziales Problem. Ihre Oligarchie monopolisiert den Immobilienmarkt, was hohe Verkaufs- und Mietpreise zur Folge hat. Hongkong hat die höchsten Immobilienpreise der Welt. Es ist für ein junges Paar nahezu unmöglich, eine kleine Wohnung zu kaufen. Die Immobilienspekulation, befeuert vom Kapitalzufluss aus der VR China, nimmt überhand.
Die Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten haben sich verschlechtert, weil Löhne und Gehälter viel zu niedrig sind und die Inflationsrate nicht ausgleichen. Die kleinen Händler wurden aus den Stadtvierteln von Supermärkten und Fastfoodketten vertrieben.
Im März 2012 stieß ein 40 Tage langer Streik der Hafenarbeiter für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auf breite populäre Unerstützung, es gab auch Solidaritätsaktionen von jungen Leuten. Die Streikenden arbeiteten für die Hutchison Whampoa Ltd., die zum Wirtschaftsimperium von Li Ka-shing gehört, dem reichsten Mann Asiens und symbolischem Feindbild der Empörung gegen die Hegemonie der Oligarchen.
Auch die Konflikte zwischen Hongkong-Einwohnern und Festlandchinesen haben sich verschärft. Das liegt an den negativen Auswirkungen des individuellen Besucherprogramms, das Festlandchinesen den Besuch Hongkongs erleichtert. Kontinentalchinesen kaufen in Hongkong ein, etwa Lebensmittel, zum Nachteil der ortsansässigen Bevölkerung. Darum hat die Regierung Anfang 2013 die Menge der Güter beschränkt, die Reisende mitnehmen können. Der zunehmende Tourismus, der sich dem Besucherprogramm verdankt, hat auch deformierende Folgen: In manchen Stadtvierteln zählt man mehr Juweliere als Bäckereien.
In Hongkong ist in den letzten Jahren auch eine politische Rechte entstanden, die vorgibt, die Lebensart und Kultur zu schützen. Sie schürt den Hass zwischen der lokalen Bevölkerung und den Festlandchinesen, die sie als «Heuschrecken» bezeichnet. In ähnlichem Stil greift sie linke Aktivisten an. Ein Teil der extremen Rechten fordert die Unabhängigkeit oder gar die Rückkehr zum Status der britischen Kolonie. Einige von der Regierung enttäuschte junge Leute haben sich davon einfangen lassen.

Wie weiter?

Die Mehrzahl der an der Massenbewegung Beteiligten ist jung und nach 1990 geboren. Nach den Diskussionen über die Gängelung der Bewegung von oben sind sie militanter geworden und wagen es, sich gegen das Vorgehen der Polizei zu wehren.
Ihre Formen des Aktivismus knüpfen an die Mobilisierung von 2010 gegen eine von den Oligarchen betriebene umweltschädliche Hochgeschwindigkeitslinie zwischen Hongkong und Guangzhou an: Damals hinderten die Demonstrierenden die Befürworter des Projekts unter den Abgeordneten daran, das Parlamentsgebäude zu verlassen. Doch das Regime Cy Leungs machte keinerlei Zugeständnisse an die Bewegung. Die sah sich somit herausgefordert, die Frage zu beantworten: «Was sollen wir jetzt tun?» In der Bewegung wurde sehr lebhaft darüber diskutiert, ob man sich zurückziehen sollte, um neuerlichen Repressionen aus dem Weg zu gehen, die möglicherweise tödliche Folgen gehabt hätten.
Da die Protestierenden über ein hohes Maß an Autonomie verfügen und sehr an dieser hängen, widersetzen sie sich dem Bau einer Rednertribüne und der Organisierung von Ordnertrupps, aus Angst, die Bewegung könne in bestimmten besetzten Stadtvierteln vereinnahmt werden. Leider kann die politische Rechte aus dieser Angst vor Vereinnahmung Vorteile ziehen. Sie verteilt bereits Flugblätter gegen die alternative Linke mit Parolen wie «Misstraut den linken Idioten!»
Es gibt eine Gruppe von Aktiven für eine alternative Linke, Left 21. Ihre Mitglieder engagieren sich sehr stark in der Bewegung, wegen der unheilvollen Atmosphäre tun sich das aber auf individuelle Weise. In den Diskussionen der Bewegung betonen sie unter anderem, dass die Demokratie mit den Rechten der arbeitenden Menschen und der Forderung nach ansprechenden Lebensbedingungen für die normalen Leute verbunden werden muss.

Gefahr von rechts

Diese Bewegung für Demokratie hat tatsächlich soziale und wirtschaftliche Dimensionen. Ihre Bedeutung ist, dass viele junge Leute sich gegen soziale Ungerechtigkeit und gegen die Hegemonie der Oligarchen, gegen soziale Ungleichheit und gegen die Beherrschung durch das chinesische Kapital wehren wollen. Sie können sich ihre Zukunft nicht in einer solchen Gesellschaft vorstellen.
Dennoch wird Spontaneität allein die Bewegung nicht voranbringen. Fragen der Strategie und der Organisation müssen erörtert werden, wenn die Demonstrierenden einem so mächtigen Staatsapparat gegenüberstehen, der zudem von der KPCh gestützt wird. Es ist deshalb unerlässlich, die Unterstützung der arbeitenden Bevölkerung zu gewinnen. Indessen versucht die politische Rechte, die Einwohner Hongkongs gegen die Festlandchinesen aufzuhetzen, während die Pro-Peking-Medien behaupten, die Bewegung stehe «unter ausländischem Einfluss».
Die KPCh wäre sicherlich glücklich, wenn sich die Bewegung in eine Kampagne gegen die Festlandchinesen verwandeln würde. Deshalb ist es für die örtliche radikale Linke notwendig, über die Ausrichtung der Bewegung zu diskutieren und eine Verbindung zu Festlandchinesen herzustellen, um die Bewegung zu stärken und vor einer Fehlorientierung zu bewahren.
Die Bewegung bringt den Teilnehmenden wichtige Erfahrungen, befreit sie von einem falschen Legalismus im Namen des «Respekts vor dem Gesetz» und verschafft ihnen die Möglichkeit, bei zahlreichen Treffen und Foren politisch zu lernen.
Wie auch immer das Endergebnis aussehen wird, diese friedlichen und gewitzten jungen Leute haben die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung Hongkongs erlangt. Sicher ist auf jeden Fall, dass es in Zukunft eine wunderbare Kraft des Widerstands gegen die herrschende Klasse von Hongkong (die Pro-Peking-Kapitalisten und Oligarchen) und die KPCh geben wird.

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