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Amerika 1. November 2014
Ermordet, gefoltert und verschwunden

von Ricardo Loewe

Bei einem Angriff der Polizei auf Lehramtsstudierende wurden am 26.September in Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero sechs Menschen getötet, 20 verwundet und 43 Studierende verhaftet, die seither verschwunden sind. Es ist nur der jüngste Akt einer jahrelangen systematischen Strategie des Staates zur Ausschaltung einer unbequemen, oppositionellen Studentenorganisation.Die Pädagogische Hochschule «Raúl Isidro Burgos» in der kleinen Ortschaft Ayotzinapa ist ein imposanter architektonischer Komplex. Die in den 1930er Jahren errichtete Schule ist eine von 46 Lehranstalten für ländliche Volksschullehrer in ganz Mexiko. Sie verfügt über Hörsäle und Schlafräume für 500 Studenten, bescheidene Häuschen für die Angestellten, große Sportplätze, geräumige Werkstätten, eine Bibliothek und weitere Anlagen. Praktisch alle Wände sind mit Malereien bedeckt, die mexikanische und internationale soziale Kämpfer darstellen. Hier haben 88 Generationen von Schullehrern aus den verschiedensten Ortschaften Mexikos ihr Studium abgeschlossen, um in Volksschulen die ärmsten Bewohner der kleinen Bauerngemeinden zu unterrichten, genau dort, wo die Mittel des Erziehungsministeriums nicht hinkommen.
Die Studierenden dieser Erziehungsanstalten sind Mitglieder einer 1935 gegründeten Dachorganisation, der Federación de Estudiantes y Campesinos Socialistas de México (FECSM), der älteste Studentenverband im Land. Sein Hauptziel ist, den Bauernkindern eine Bildung zu bieten und die Rechte des Volkes im marxistisch-leninistischen Sinne zu verteidigen. Die Struktur des Bundes ähnelt den Arbeitervereinen, die der Ursprung der mexikanischen Revolution waren.

Ein Klassenkrieg gegen die Volksbildung

Der härteste Schlag, den die FECSM bisher erlitten hat, war die Schließung von weit mehr als der Hälfte der Hochschulen in den Jahren 1968–1971 unter Einsatz des Heeres. Über die Zahl der Studierenden, die dabei ermordet wurden oder verschwanden, herrscht bis heute Unklarheit. Nur 16 Schulen überlebten den Kahlschlag. Während dieser Jahre tauchte die FECSM unter und arbeitet erst seit 1972 wieder «semi-klandestin».
Das Bildungsmodell der Escuelas Normales Rurales (der ländlichen Volksschulen) steht im Widerspruch zur Erziehungspolitik in Mexiko, besonders seit den 80er Jahren: Unter den neoliberalen Vorgaben werden den Escuelas Budget und Stipendien zusehends gekürzt, es werden ihnen reaktionäre Lehrer und Studienprogramme aufgezwungen und es wird immer wieder immer heftigere Gewalt angewendet.

Polizeiterror

Seit drei Wochen, seit den Schießereien am 26.September hat sich die sonst fröhliche und emsige Anstalt in ein Lager von besorgten und erschöpften Bauernfamilien verwandelt. An diesem Tag, um 21 Uhr, wollten 80 Studierende der Pädagogischen Hochschule «Raúl Isidro Burgos» in drei Bussen von Iguala nach Chilpancingo, der Hauptstadt Guerreros, fahren. Sie hatten Geld gesammelt, um an der Protestdemonstration teilzunehmen, die jedes Jahr in Mexikos Hauptstadt der über 300 Studierenden gedenkt, die am 2.10.1968 ermordet wurden; die Tat blieb ungesühnt. Bei der Ausfahrt aus dem Busbahnhof wurden die Busse von Streifenwagen der Polizei geschnitten und beschossen. Nach einer kurzen Verfolgung wurden die Studierenden eingekreist, so dass sie ausstiegen und zum nächsten Streifenwagen gingen, um ihre Situation zu erklären. Ohne jede Vorwarnung fing die Polizei an zu schießen, der Angriff dauerte etwa 40 Minuten. Ein Teil der Studierenden konnte fliehen, ein Teil wurde mit Gewalt aus den Bussen gezerrt und abtransportiert.
Einige reorganisierten sich und gingen auf die Suche nach ihren festgenommenen Compañeros. Sie meldeten den Vorfall der Staatsanwaltschaft, die erst nach zwölf Stunden mit der «Suche» und der Ermittlung begann. Um 24 Uhr begannen die «Normalistas» die Medien zu informieren, als schwer bewaffnete Männer in Zivil aus einem Pickup stiegen und das Feuer eröffneten. Zeugenaussagen zufolge hatte ein Konvoi des Bundesheeres die Schießerei aus der Ferne beobachtet.
Am Nachmittag des nächsten Tages wurde die Leiche von Julio Fuentes gefunden, dem bei lebendigem Leib die Gesichtshaut abgezogen und die Augen ausgekratzt worden waren.

Die Antwort der Politik

Nach dem Angriff in Iguala bedrohte die Polizei die Pädagogischen Hochschulen in den Bundesländern Morelos, Puebla und Tlaxcala.
Dann startete die Landesregierung eine großangelegte Farce: a) große Erklärungen von Politikern aller Parteien, die die Gelegenheit nutzten, um Wahlpropaganda zu machen, indem sie sich gegenseitig beschuldigten; b) intensive Medienpropaganda über die angebliche Teilnahme der Mafia; c) Zulassung der Flucht des Bürgermeisters und des Polizeichefs von Iguala, um dieselbe dann zu verdammen; d) Kriminalisierung und würdelose Behandlung der Opfer und ihrer Verwandten; e) lautes Debattieren, ob der Gouverneur abdanken soll oder nicht; f) aber vor allem «Suche» nach Leichen, nicht nach Lebenden.
Über zehn Massengräber wurden plötzlich aufgedeckt, in denen Tote lagen, die schon lange gesucht wurden. Bei jedem angeblichen Fund wurde laut gefragt, ob darunter Studis seien oder nicht. «Wir haben es satt, dass sie uns weiterhin ignorieren, und dass wir nur über den Fernseher erfahren, dass sie Tote und nicht unsere lebenden Söhne suchen», sagte ein empörter Vater den Bundesbeamten angesichts der Ergebnislosigkeit ihrer Suche nach den 43 Verschwundenen.
Zehntausende Studierende haben daraufhin die Straßen der Großstädten besetzt, zusammen mit Basisorganisationen sperrten sie die Mautstellen und schlossen die Bürgermeisterämter im Bundesland Guerrero, Anonymus hackte die Homepage des Bundesstaates, die Menschenrechtsorganisationen verurteilten die Behörden von Iguala, den Gouverneur von Guerrero und die Bundesregierung. Protestierende drangen in das Rathaus von Chilpancingo ein und legten Feuer, nachdem Mitarbeiter und Besucher das Gebäude verlassen hatten. Im ganzen Land wurde der Rücktritt des Gouverneurs gefordert. Die Untätigkeit der Behörden hat große Wut bei den Angehörigen und Kommilitonen ausgelöst.
Schließlich haben sich auch fünf Guerilla-Organisationen gemeldet, vier von ihnen, um die Bevölkerung zu «jeglicher Art des Kampfes» aufzufordern, während die EZLN mit 20000 Zapatisten demonstrierte.

Kein Partnerschaftsabkommen mit Mexiko!

Die Anschläge auf die Studierenden sind nicht ohne Kenntnis des Staates geschehen. Sie sind Teil einer systematischen Klassenverfolgung auf allen Ebenen der Regierung (Bund, Land, Gemeinde). Sie sind ein Staatsverbrechen. Diesmal erschienen die «Drogenmafia» und die «Organisierte Kriminalität» als das, was sie sind: ein grotesker Vorwand, eine Tarnung des Polizeistaates unter dem Deckmantel der «Demokratie». Eine Strafe für die Täter ist nicht zu erwarten, denn eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.
16 Abgeordnete des Europaparlaments haben ihre Besorgnis über den Fall ausgedrückt. Sie fordern die Stornierung des 2008 unterzeichneten Globalabkommens und des strategischen Partnerschaftsabkommens zwischen der EU und Mexiko sowie deren Neuverhandlung auf Grund der kritischen Menschenrechtslage in Mexiko. Beide Abkommen beinhalten Klauseln, welche die Garantie der Menschenrechte und der Sicherheit der Bürger festschreiben. Diese Klauseln sollen eingehalten werden, fordern die Parlamentarier.
In Deutschland fordern 16 Menschenrechtsorganisationen von der Bundesregierung, die Verhandlungen über das Sicherheitsabkommen mit Mexiko zu überprüfen und dem geplanten Abkommen nicht zuzustimmen.

Ricardo Loewe ist mexikanisch-österreichischer Arzt und schreibt u.a. für Lateinamerika anders.

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