von Harald Etzbach
Seit Mitte September ist der vor allem von Kurden bewohnte nordsyrische Kanton Kobanê (arabisch: Ain al-Arab) mit dem gleichnamigen Hauptort heftigen Angriffen durch die Milizen des sog. «Islamischen Staates» (IS/ISIS) ausgesetzt. Bisher sollen über 600 Menschen ums Leben gekommen sein, darunter etwa 300 IS-Kämpfer. Manche Schätzungen gehen von der doppelten Anzahl von Toten aus.Die Verteidigung Kobanês liegt in den Händen der Volksverteidigungseinheiten (YPG), den bewaffneten Einheiten der Demokratischen Unionspartei (PYD), mehrerer unabhängiger islamischer Brigaden und Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA).
Kobanê ist einer von drei Kantonen (zusammen mit Afrin und al-Hasaka/Cizîrê), die das faktisch autonome Territorium Rojava bilden. Aus diesem Gebiet waren im Juli 2012 die syrischen Regierungstruppen abgezogen, offenbar in einem Deal des Assad-Regimes mit der PYD. Die bewaffneten Einheiten der PYD hielten sich aus dem syrischen Bürgerkrieg heraus, dafür hatten die Assad-Truppen eine Front weniger, an der sie kämpfen mussten (wobei das Regime ohne Zweifel den Hintergedanken hatte, sich mit dem «kurdischen Problem» zu beschäftigen, nachdem die Revolution in den anderen Landesteilen niedergeschlagen war).
Tatsächlich ging diese Rechnung für beide Seiten auf, und es kam außer in Aleppo, wo kurdische Brigaden kurdische Stadtviertel verteidigten, lange Zeit nirgendwo zu einer größeren militärischen Konfrontation zwischen der PYD und Assad-Truppen. Auf der anderen Seite konnte unter diesen Bedingungen in Rojava relativ ungestört ein Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen stattfinden.
Auch wenn dieser Prozess keineswegs widerspruchsfrei ist (so ging die PYD etwa auch gegen kurdische Basisaktivisten vor, was im Sommer letzten Jahres in mehreren Städten zu Protesten führte), ist das in Rojava begonnene Experiment eine Hoffnung, nicht zuletzt im Hinblick auf das Zusammenleben unterschiedlicher Völker im Nahen Osten und auf die Frauenfrage. Ein Hoffnungsschimmer ist auch, dass die gemeinsame Bedrohung durch die Jihadisten des IS zu einer Zusammenarbeit zwischen Einheiten der YPG und der FSA geführt hat.
Der Angriff der wesentlich vom Assad-Regime hochgezogenen und von der Türkei gegen die kurdische Selbstbestimmung eingesetzten Terrormiliz hat dabei nicht zuletzt gezeigt, dass der revolutionäre Isolationismus des Projekts Rojava mit der Vorstellung, es sei dauerhaft möglich, sich von der politischen Entwicklungen der unmittelbaren Umgebung und insbesondere von der Revolution in anderen Teilen Syriens abzukoppeln, an seine Grenzen gestoßen ist.
Die kurdischen Regionen im Norden sind jedoch nicht die einzigen Orte Syriens, in denen die syrische Revolution zu neuen radikalen Formen der politischen Neuorganisation geführt hat. In ganz Syrien sind hunderte von lokalen Komitees und andere Formen der autonomen Selbstorganisation entstanden. Im Unterschied zur Selbstverwaltung in Rojava hatten diese Strukturen im Rest des Landes jedoch niemals die Zeit und den Raum zu einer einigermaßen geschützten Entwicklung, denn sie waren von Anfang an das Ziel immer brutalerer Angriffe durch die Truppen des Assadregimes und seiner Verbündeten.
Im Unterschied zu Kobanê standen andere syrische Städte, in denen solche Formen der Selbstorganisation entstanden waren, auch niemals im Zentrum des internationalen Medieninteresses. Der Fall von Homs, einer der Geburtsstädte der syrischen Revolution, im Mai dieses Jahres war eine Randnotiz; die Eroberung von Raqqa durch IS(IS)-Milizen ein Jahr zuvor und der Protest der dortigen Bevölkerung (darunter viele Frauen) gegen die Jihadisten wurden so gut wie gar nicht wahrgenommen.
Diese Ignoranz der Medien hält bis heute an. Während Kobanê – zu Recht – überall in den Nachrichten auftaucht, erfahren wir fast nichts über den Terror, den die Luftwaffe des Assad-Regimes jeden Tag in Aleppo und anderen Städten mit dem Abwurf von Fassbomben erzeugt. Wer hat schon einmal von al-Waer gehört, jenem Stadtteil von Homs, der immer noch unter der Kontrolle der Rebellen ist, in dem 400000 Menschen (die Hälfte von ihnen Flüchtlinge) leben und der seit Monaten vom Assad-Regime belagert und bombardiert wird? Noch weniger erfahren wir darüber, dass der Widerstand gegen die jihadistischen IS-Milizen keinesfalls auf Rojava und Kobanê beschränkt ist. Über die Hinrichtung von 700 Angehörigen des al-Sheitat-Stammes, der in der Provinz Deir ez-Zor gegen IS(IS) gekämpft hatte, konnte man bei al-Jazeera lesen, sonst fast nirgendwo. Über die ebenfalls in Deir ez-Zor operierende Guerilla-Gruppe der «Weißen Leichentücher» (Kufn al-Abiyyad, der makabre Name bezieht sich auf die Leichentücher, die die Gruppe für IS(IS)-Mitglieder bereithält) wird ebenfalls kaum berichtet.
Noch irritierender als die selektive Wahrnehmung der Medien ist der selektive Internationalismus eines großen Teils der westlichen Linken. Seit dem Angriff auf Kobanê haben weltweit unzählige Großdemonstrationen stattgefunden, an denen die Linke in großer Zahl teilgenommen und die sie oftmals mitorganisiert hat. Gut besuchte Veranstaltungen gab es zuhauf, und linke Gruppen sammeln Geld zur Bewaffnung der kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer in Kobanê. Das ist alles richtig, auch wenn gesagt werden muss, dass manchen dieser Gruppen die syrische Revolution in den letzten dreieinhalb Jahren bestenfalls gleichgültig war.
Fatal ist jedoch ein Internationalismus, der Solidarität von ethnischen Zugehörigkeiten abhängig macht und der auf diese Weise genau jene Spaltungen reproduziert, die von Regimen wie dem des Assad-Clans schon immer als Herrschaftsinstrument eingesetzt wurden. Hier wird die simple Tatsache nicht verstanden, dass die Selbstverwaltung in Rojava eine Folge der syrischen Revolution ist und dass das Überleben des Projekts Rojava von der Weiterentwicklung und vom Erfolg der syrischen Revolution insgesamt abhängt.
In Syrien selbst ist man da mittlerweile offensichtlich weiter. So hat das Oberkommando der YPG Ende Oktober eine Erklärung veröffentlicht, in der die YPG die Partnerschaft mit den Einheiten der FSA betont, die in Kobanê die Jihadisten des IS bekämpft haben. Außerdem bekennt sich die YPG zur Verantwortung nicht nur für Rojava, sondern auch für Syrien insgesamt.
Die politische Linke im Westen, die heute für Kobanê und Rojava auf die Straße geht, täte gut daran, sich an die berühmte Detroiter Rede von Malcolm X zu erinnern, in der es heißt: «Es ist Freiheit für alle oder Freiheit für niemanden» – Freiheit für die Menschen in Rojava kann nur glaubwürdig fordern, wer für die Freiheit und Selbstbestimmung aller Menschen in Syrien eintritt.
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