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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2014
Ulrich Schneider: Mehr Mensch. Gegen die Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Westend, 2014. 158 S., 13,99 Euro

von Paul B. Kleiser

Das neue Buch von Ulrich Schneider stellt eine Philippika gegen den unter neoliberalen Vorzeichen immer weiter getriebenen Sozialabbau und die Taylorisierung der Sozialarbeit dar. Geschrieben ist es für die «Gutmenschen, Bedenkenträger und Sozialromantiker», also jene, die sich gegen den neoliberalen «Zeitgeist» wenden, der laut Marx häufig der «Ungeist eines geistlosen Zeitalters» ist.Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und war als solcher nicht zufällig einer der schärfsten Kritiker von Schröders Agenda 2010. Er wendet sich gegen die zunehmende «Vermarktwirtschaftlichung», die Durchsetzung von Renditekriterien im Sozialbereich, in Krankenhäusern («Fallpauschalen»), bei der Kindererziehung und vor allem in der Pflege.
«Im Zusammenspiel von Markt, öffentlicher Verwaltung und Sozialem hat es die gewerbliche Wirtschaft vermocht, immer weitere Lebensbereiche der Menschen unter ihren Zugriff und ihre gewinnorientierte Logik zu zwingen. Wohnen beispielweise war staatlicherseits lang dem Wirken der kapitalistischen Marktwirtschaft entzogen. Erst ganz allmählich wurde es erlaubt, hier Geschäfte zu machen. Ebenso verhält es sich mit der Energiewirtschaft, mit der Wasserwirtschaft, schließlich mit der Gesundheitsversorgung oder der Pflege von Menschen. Nach und nach wurde ein Feld nach dem anderen erobert und der Gewinn- und Renditelogik unterworfen. Seit dem Mauerfall 1989 ist Deutschland vom neoliberalen Wirtschaftsprinzip geradezu überrollt worden. Die Grundsätze, Denkweisen und Instrumente der profitorientierten Marktwirtschaft, vom kalten Preiswettbewerb bis hin zur vordergründig, weil ökonomisch effizienten Taylorisierung von Arbeitsprozessen machen auch vor dem Sozialen, vor Bildung, Erziehung und Wohlfahrtspflege, vor Kindergärten, Pflegeheimen oder Hilfen für Arbeitslose keinen Halt mehr.»
Schneider erklärt, die Ökonomisierung des Sozialen sei in der BRD in drei Schüben erfolgt: Zunächst ging es darum, ob die soziale Arbeit überhaupt «erfolgreich» sei und wie der Erfolg definiert werden könne. Seit der Krise der frühen 80er Jahre sei zunehmend die Frage der monetären Effizienz gestellt worden; die Arbeit sollte billiger werden. Es wurde immer häufiger von der «Sozialwirtschaft» oder dem «Humankapital» gesprochen. In den 90er Jahren wurde dann die Frage nach dem «Mehrwert des Sozialen» gestellt: Was haben wir von eurer Wohltätigkeit, wenn wir nicht betroffen sind? Die Gesellschaft polarisierte sich immer schärfer und die Reichen versuchten, sich aus der Solidargemeinschaft auszuklinken. Der Besitzindividualismus kam immer stärker in Mode. Die «ökonomistische Theorie» griff auf fast alle Lebensbereiche über, der Mensch wurde als eine Art «Vermögensverwalter» seiner selbst («Ich-AG») gesehen. Frauen bekamen keine Kinder mehr, angeblich weil diese sich nicht «rechneten».
Am Beispiel der Folgen der Einführung der Pflegeversicherung 1995 beschreibt Schneider die unmenschlichen Konsequenzen der Ökonomisierung. Denn vorher war die Pflege eine Aufgabe von gemeinnützigen Verbänden und ihren Einrichtungen. Der deutliche Anstieg der Pflegefälle zusammen mit einem sprunghaften Anstieg der Kosten für die Kommunen drängte auf die Einführung einer Pflegeversicherung als «vierter Säule» der Sozialversicherung. Doch nun wurde dieser Bereich privaten Gewinninteressen geöffnet (und ein neuer Niedriglohnbereich geschaffen, ließe sich anfügen). «Große Ketten und Konzerne, darunter reichlich Aktiengesellschaften, drängten auf den neuen Markt, Fonds sammelten Geld der Sparer ein und versprachen kräftige und krisensichere Renditen, wenn sie in Seniorenresidenzen, Ruhesitze und Pflegeheime investierten.» Und die Bürgermeister freuten sich, weniger Sozialhilfe zahlen zu müssen und sogar neue Steuereinnahmen erwarten zu können.
Doch wer sind die Verlierer dieser Privatisierung? Während die Kosten der Pflege in den vergangenen 15 Jahren um etwa 70% anstiegen, nahmen die Löhne gerade mal um 15% zu. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist dann nicht nur ein ausgedehnter «Niedriglohnsektor» im Bereich der «Care-Arbeit», sondern vor allem auch die «Minutenpflege», also die Erstellung eines umfänglichen Katalogs von Verrichtungen, für die genaue Zeitwerte festgelegt wurden. («Kleine Wäsche» soundsoviel Minuten, «Nahrungsaufnahme» soundsoviele, usw.) Dies bedeutete eine massive Arbeitsverdichtung für die Pflegekräfte mit der Folge, dass sie keine Zeit mehr für die ihnen anvertrauten Menschen haben, die eigentliche «Pflege» also vor die Hunde geht. Die Logik des Profits steht in diametralem Gegensatz zu den Bedürfnissen von alten und kranken Menschen, aber auch zu einer menschengerechten Arbeitswelt.

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