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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2014

Eine Zusammenstellung von Adopt a Revolution

Im Schatten des Aufstands der syrischen Bevölkerung gegen die Assad-Diktatur haben sich Jihadisten in Syrien eine Machtbasis aufbauen können. Lange Zeit vom Regime zumindest toleriert, wenn nicht gefördert, hat der «Islamische Staat in Irak und Syrien» (ISIS) mittlerweile weite Gebiete Syriens und nach einer Offensive im Juni 2014 auch große Teile des Irak unter seine Kontrolle gebracht. «Adopt a Revolution» beobachtet die Entwicklung der Jihadisten in Syrien seit Beginn des syrischen Aufstands. Die nachstehenden Hintergrundinformationen beruhen in erster Linie auf den intensiven Kontakten mit syrischen Aktivisten.

ISIS ist eine Abspaltung von al-Qaeda. Die Gruppe entstand im Irak als Sammelbecken radikal-islamistischer Gruppen, die gegen die US-Präsenz kämpften.

In Syrien war al-Qaeda ab 2012 mit ihrer Untergruppe Jabat al-Nusra («Unterstützungsfront») vertreten. Anfang 2013 begann auch die al-Qaeda-Gruppe ISI (Islamischer Staat im Irak) unter Abu Bakr al-Baghdadi Operationen in Syrien und nannte sich fortan ISIS (Islamischer Staat im Irak und der Levante). Im Oktober 2013 erklärte al-Baghdadi den Zusammenschluss mit Jabat al-Nusra unter seiner Führung, aber ohne die al-Nusra-Führung oder die al-Qaeda-Führung konsultiert zu haben. Al-Qaeda-Führer al-Zawahiri forderte ISIS und al-Nusra zunächst auf, sich zu einigen. Als dies nicht fruchtete, verlangte er, dass ISIS Syrien verlasse und al-Nusra das Feld überlasse. Da ISIS blieb, erklärte al-Qaeda im Februar 2014 die Beziehungen mit ISIS für beendet.

Aber der Ausschluss von ISIS aus dem al-Qaeda-Verbund geht nicht nur auf Machtkämpfe zurück, al-Qaeda distanziert sich auch von der brutalen Unterdrückung der Bevölkerung und den Gräueltaten des ISIS gegen Schiiten.

ISIS setzt darauf, Jihadisten aus der ganzen Welt in seine Strukturen zu integrieren, darunter kampferfahrene Tschetschenen oder Libyer. Auch um sich gegen diese ausländischen Besatzer zu wehren, schlossen sich im Dezember 2013 fast alle Rebellengruppen gegen die Gruppe zusammen, einschließlich von Teilen von al-Nusra. Im Januar 2014 konnte die Anti-ISIS-Allianz große Teile der Provinzen Idlib und Aleppo von ISIS zurückerobern, jedoch stabilisierte sich ISIS rund um die Provinzhauptstadt Raqqa.

Im Juni 2014 nahm ISIS mehrere Städte im Irak ein. Am 29.Juni erklärte al-Baghdadi das gesamte von ISIS besetzte Territorium zum Kalifat und nannte die Gruppe in «Islamischer Staat» (IS) um. Seitdem versucht der IS seinen Einflussbereich gegenüber der kurdischen Autonomie im Nordirak auszuweiten und marschiert parallel gegen die irakische Armee und schiitische Milizen auf Bagdad vor.

Auch in Syrien erobert der IS weitere Gebiete, u.a. mit Hilfe schwerer Waffensysteme US-amerikanischer Herkunft, die ISIS im Irak erbeutet hat. Der IS geht dabei schwerpunktmäßig gegen die kurdische Selbstverwaltung entlang der türkisch-syrischen Grenze vor sowie gegen Rebellengruppen in der Provinz Aleppo.

Was will der IS?

Genauso wie al-Qaeda strebt der IS ein weltumspannendes Kalifat an, in dem die Regeln der Scharia gelten.

Um das zu erreichen soll sich der «gute Muslim» im ständigen Kampf gegen Ungläubige befinden. Ungläubige sind Nichtmuslime und alle schiitisch-muslimischen Sekten, sowie sunnitische Muslime, die nicht entsprechend den strengen Regeln der Scharia leben.

Der IS unterscheidet sich ideologisch nicht von anderen al-Qaeda-Gruppen, wohl aber in der Strategie. Während al-Nusra oder der jemenitische al-Qaeda-Arm AQAP zunächst die herrschenden «Ungläubigen» bekämpfen und sich später der Umerziehung der einfachen Bevölkerung widmen wollen, setzt ISIS die Prioritäten andersherum. In Syrien hat der ISIS sich auf die Hinzugewinnung von Territorium konzentriert und dort sofort rigide islamische Gesetze eingeführt, die er mit aller Härte gegen die Bevölkerung umsetzt. Während sich al-Nusra als besonders militante Gruppe gegen das Assad-Regime erwiesen hat und dafür auch mit anderen Rebellengruppen kooperiert, kämpfte ISIS zunächst nicht gegen Assad, sondern nur gegen Rebellen, um ihnen Gebiete abzunehmen. Nach dem Vormarsch im Irak geht ISIS in den von ihm dominierten Gebieten nun auch gegen die letzten Außenposten des Assad-Regimes vor.

Durch die lange, stabile Herrschaft über einige Gebiete in Syrien ist es ISIS mittlerweile gelungen, quasistaatliche Strukturen aufzubauen. So gibt es in den zum «Islamischen Staat» gehörenden Gebieten zivile Verwaltungsräte, die sich um die Organisation des Alltags kümmern, inklusive solcher Aufgaben wie Telekommunikation oder Sozialhilfe.

Was bedeutet Scharia im Sinne des IS?

Die radikale Interpretation von Scharia bedeutet, dass alle im Koran auffindbaren Regeln Gesetze werden müssen.

Auf die Scharia, das islamische Gesetz, berufen sich die meisten Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Das heißt in der Regel, dass keine Gesetze erlassen werden dürfen, die explizit gegen den Islam verstoßen. Die radikale Interpretation von Scharia besagt, dass alle im Koran und in den Hadithen [Überlieferungen über die Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed] auffindbaren Regeln Gesetz werden müssen. Das ist auch die Vorstellung des Wahhabismus, auf den sich Saudi-Arabien beruft.

In diesem Grundsatz unterscheiden sich ISIS und Saudi-Arabien nicht, beide wenden Körperstrafen wie Steinigungen, Handabhacken und Auspeitschen an. Allerdings scheint es, dass sich der IS aus den tausenden von islamischen Regeln stets die härtestmögliche Auslegung islamischen Rechts heraussucht und längst einstimmig getroffene Änderungen der Doktrin ignoriert.

So sind sich alle, auch die konservativsten Kleriker in der islamischen Welt einig, dass die Sklaverei abgeschafft ist. ISIS verkauft trotzdem «ungläubige» Frauen als Sexsklavinnen unter Berufung auf religiöse Texte – und wie auch in der Bibel kann man im Koran und in den Hadithen Rechtfertigungen für Sexsklaverei finden. Die wortwörtliche Auslegung von Textstellen wird inzwischen von einigen muslimischen Klerikern in Frage gestellt, die scharfe Kritik an ISIS üben. So trafen sich 250 Gelehrte im März in Abu Dhabi und befanden, die vom IS brutal durchgesetzten Regeln stünden im Missverhältnis zu den vier Grundwerte des Islam Weisheit, Gerechtigkeit, Gnade und Gemeinwohl.

Verbrechen des IS in Syrien

Körperstrafen, Folterung, Massenexekutionen – die bewusste Zurschaustellung der Gewalt ist besonders schockierend.

In der syrischen Provinzhauptstadt Raqqa zwingt der IS Jungen ab dem Alter von 12 Jahren in militärische Trainingslager. Neben dem Kampf an der Waffe gehört auch das Zuschauen bei Hinrichtungen zur Ausbildung.

Schon Vorschulkinder werden in Koranschulen gezwungen und lernen dort, dass Ungläubige umgebracht werden müssen. Wenn die Eltern der Kinder protestieren, droht ISIS, ihnen den Kopf abzuschneiden. Frauen dürfen nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße. Eine Ausnahme bildet die Frauenbrigade von ISIS, die unbegleitete, ungenügend verhüllte Frauen verhaftet und bestraft. In ISIS-Gefängnissen werden regelmäßig harte körperliche Strafen angewendet, etwa Auspeitschen. Zu den Vergehen, die zu einer Verhaftung führen können, gehören unislamisches Verhalten wie Rauchen oder Kritik an ISIS. Wie bereits unter dem Assad-Regime werden zivile Aktivisten mit besonderer Härte verfolgt. Die Scharia-Gerichte urteilen oft in nur fünf Minuten.

Religiöse Minderheiten, die keiner Buchreligionen angehören, also alle Nichtmuslime außer Christen und Juden, sind für ISIS Ungläubige, Schiiten gelten als Häretiker. Beide Gruppen werden von ISIS ohne Pardon getötet, auch Kinder. Christen müssen eine hohe Dhimmi-Steuer zahlen, für mittlere Einkommen etwa 275 Euro im halben Jahr – das entspricht in Syrien mehr als einem Monatseinkommen. Können sie das nicht, lässt ISIS ihnen die Wahl: Sie können zum Islam konvertieren oder sie werden getötet.

ISIS kreuzigt regelmäßig Menschen mit Bezug auf den Koranvers 5:33, der besagt, dass diejenigen, die gegen Gott und seinen Botschafter kämpfen, gekreuzigt werden können. ISIS kreuzigt nach dieser Logik meist FSA-Kämpfer, Assad-Leute und Demokratie-Aktivisten. Fliehende und gefangengenommene Soldaten werden in aller Regel getötet, meist in Massenexekutionen.

Besonders schockierend für viele Syrer ist die bewusste Zurschaustellung der Gewalt. ISIS führt bevorzugt Exekutionen durch, wenn viele Leute auf der Straße sind, z.B. an Markttagen. Aufgespießte Köpfe, Gekreuzigte und die Leichen von Exekutierten bleiben oft tagelang zur Abschreckung an Ort und Stelle.

Wer unterstützte ISIS?

Immer wieder wird auf Qatar und Saudi-Arabien als Unterstützer verwiesen, offizielle Beweise gibt es jedoch nicht.

Qatar unterstützt in der gesamten Region Organisationen der Muslimbrüder. Die sind allerdings seit längerem mit al-Qaeda verfeindet, in Syrien kämpfen die Muslimbrüder gegen den IS. Allerdings ist Qatar besonders lax in der Kontrolle von islamischen Wohltätigkeitsorganisationen, die wohl auch für al-Qaeda sammeln. Saudi-Arabien steht derzeit an der Spitze derer, die Maßnahmen gegen ISIS fordern und auch ergreifen. In Syrien hat Saudi-Arabien die Islamische Front aufgebaut, die gegen den IS kämpft.

Auch sonst scheint es keine Staatsmacht zu geben, die ein Interesse daran haben könnte, den IS stark zu machen. Das schließt nicht aus, dass reiche Staatsbürger der arabischen Golfmonarchien den IS unterstützen, was in diesen Despotien wohl nur gelingt, wenn die Herrschenden ein Auge zudrücken.

Inzwischen erhält der IS womöglich keine bedeutende Unterstützung von außen. Nach einer Untersuchung der Rand-Corporation kommen nur 5% der Einnahmen von Spendern. Hauptsächlich finanziert sich die Gruppe über Erpressung, Lösegelder aus Entführungen, Raub, Schmuggel und inzwischen zunehmend durch Einnahmen aus dem Ölgeschäft in Syrien und Irak. Kurz vor dem Fall von Mossul konnte die irakische Armee Speichersticks sicherstellen, die Informationen über die Finanzstruktur von ISIS beinhalteten. Demzufolge verfügt die Organisation über ein geschätztes Vermögen von über 800 Millionen US-Dollar.

Indirekte Unterstützung erhielt ISIS in Syrien von der Türkei und vom syrischen Regime. Die türkische Regierung ermöglichte allen Anti-Assad-Kämpfern, die Grenze zu passieren. Radikale Islamisten wurden besonders freundlich an den Grenzübergängen zum syrischen Teil Kurdistans behandelt, wo sie nicht Assad, sondern die Kurden bekämpfen. Die Türkei wollte damit offenbar einer Stärkung der Kurden in dem Konflikt entgegenwirken.

Das Assad-Regime hat im Oktober 2011 eine Reihe al-Qaeda-naher Islamisten aus den Gefängnissen entlassen, ohne juristisch einsichtigen Grund. Einer davon gilt als Hauptplaner der Londoner U-Bahn-Anschläge, wäre also unter normalen Umständen noch lange hinter Gittern geblieben. Auch ließ Assad bis zum Frühsommer 2014 ISIS-Stellungen nicht angreifen. Dass ISIS sich soweit ausdehnen konnte, liegt also auch daran, dass er auf geringen Widerstand stieß: nur auf Kurden und FSA-Rebellen, die gleichzeitig noch gegen Assad kämpften.

Anzahl der Kämpfer

Die Angaben über die Anzahl der Kämpfer schwanken stark, auch weil die Abgrenzung schwerfällt.

Das Syrian Observatory for Human Rights geht von 50000 Kämpfern in Syrien aus, von denen 20000 aus dem Ausland kämen. Der Irak-Experte Falko Walde vermutet 10000–15000 Mann unter Waffen, das Verteidigungsministerium vermutet einen Kern von 15000 Kämpfern, davon 6000 mit guter militärischer Ausbildung. Die EU-Kommission geht davon aus, dass 2000 Kämpfer aus der EU bei ISIS aktiv sind, davon 500 aus Großbritannien und nach Angaben des Verfassungsschutzes 400 aus Deutschland.

Ziviler Widerstand gegen den «Islamischen Staat»

Seit Beginn des Aufstands betonen zivile Aktivisten in Syrien die toleranten Traditionen des Landes.

Unter anderem mit dem Slogan «Eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins!» haben sich Aktivisten von Anfang an gegen eine ethnische oder konfessionelle Spaltung des Landes gewandt. In der Folge leisteten nicht nur bewaffnete Oppositionelle Widerstand gegen ISIS, wobei in der Zeit von Januar bis August 2014 bei Kämpfen gegen den «Islamischen Staat» mindestens 7000 Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) ums Leben gekommen sind. Mehrere Beispiele zeigen, dass die Jihadisten besonders dort vertrieben werden konnten, wo die junge syrische Zivilgesellschaft stark ist und es ihr gelingt, die Bevölkerung gegen die terroristische Herrschaft zu mobilisieren. So organisierten etwa Aktivisten in Menbej in der Provinz Aleppo einen Generalstreik gegen die ISIS-Verbrechen. In Atareb in Nordsyrien führte das lokale Revolutionskomitee das Verbot ein, auf dem Marktplatz Waffen zu tragen, wohl wissend, dass ISIS sich daran nicht halten und damit seine Autorität untergraben wird. Langfristig braucht es eine starke Zivilgesellschaft, um die gesellschaftlichen Spaltungen zu überwinden und den Einfluss der Jihadisten zurückzudrängen.

Adopt a Revolution unterstützt in ganz Syrien Projekte der syrischen Zivilgesellschaft, gegen die Assad-Diktatur genauso wie gegen jihadistischen Terror. Helfen Sie mit, unterstützen Sie die Aktivisten bei ihrer Arbeit!

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