von Werner Sauerborn
Erschreckend die Kampagne, die derzeit gegen die GDL, den Streik und den GDL-Vorsitzenden in einem Großteil der Mainstreammedien läuft. Einstweiliger Höhepunkt dürfte die Veröffentlichung der Wohnanschrift und Telefonnummer von Weselsky gewesen sein. Das erinnert an die Hetze der Springerpresse gegen Rudi Dutschke Ende der 68er Jahre.Imponierend für jeden Gewerkschafter mit Gewerkschafterherz, wie sich die GDL von dieser Hasswelle nicht beirren lässt, sich auf ihre eigene Kraft besinnt und ihren Weg geht.
Diese Auseinandersetzung ist aufwühlend. Sie wird im Guten oder Schlechten vieles verändern. Aufgerufen sind elementare Fragen gewerkschaftlicher Organisation, die in diesem Konflikt mit verhandelt und vielleicht entschieden werden.
Die Vorstellung, wie durchsetzungsstarke Gewerkschaften aufgestellt sein müssen, wurde in der Bundesrepublik stark durch die Erfahrungen der Niederlagen von Weimarer Republik und Faschismus geprägt. Die historische Konsequenz ist mit dem Schlüsselbegriff Einheitsgewerkschaft auf den Punkt gebracht, eng verwandt mit dem in der aktuellen Diskussion umkämpften Begriff der Tarifeinheit.
Einheit, um Zersplitterung zu überwinden
Einheitsgewerkschaft und Tarifeinheit sind zunächst moralische Kategorien oder Appelle: nur gemeinsam sind Lohnabhängige stark. Sie sind aber auch als organisationspolitische Imperative zu verstehen: Die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften misst sich an ihrer Fähigkeit, organisatorisch und politisch die strukturelle Konkurrenz der Beschäftigten untereinander zu begrenzen, d.h. alles in eine Solidargemeinschaft einzubinden, was der Arbeitgeberseite Anknüpfungspunkte bietet, die Anbieter von Arbeitskraft (Beschäftigte und Erwerbslose) gegeneinander auszuspielen.
Und da gibt es einiges: unterschiedliche (partei)politische Ausrichtungen, religiöse Orientierungen («Christliche Gewerkschaften»), unterschiedliche Berufsgruppen (Angestellte, Beamte, Lokführer, Ärzte, Piloten…) und – in letzter Zeit zu einer Schlüsselfrage der gewerkschaftlichen Organisation geworden – die Konkurrenz von Arbeitnehmern innerhalb der gleichen Branche. Gerade auf Ausgliederungen, Tarifflucht und Globalisierung der Arbeitsmärkte durch Standortverlagerungen und die daraus neu erwachsenden Konkurrenzen haben die Gewerkschaften, auch die sich als Einheitsgewerkschaften verstehenden, bisher keine überzeugenden Antworten gefunden.
Wenn die Überwindung, zumindest Begrenzung all dieser Solidaritätsbarrieren das Erfolgskriterium gewerkschaftlicher Organisation ist, wie ist dann der derzeitige Konflikt zwischen GDL und EVG zu bewerten?
Vor zwanzig Jahren, als die Gewerkschaftswelt noch in Ordnung war (mehr oder weniger), lag die Antwort auf der Hand: Alle im DGB sind Einheitsgewerkschaft, alle außerhalb, als da sind oder waren DAG, Beamtenbund, Christliche, Gelbe, sind nicht unabhängig oder sind berufsständisch verfasst und also keine Einheits-, im Grunde gar keine «richtigen» Gewerkschaften.
Heute, nach so viel Umwälzungen in der Wirtschaftstruktur und in den Konkurrenzbeziehungen, reicht die Schablone kaum mehr aus zur Beantwortung der Frage, welche Gewerkschaft ein zukunftstaugliches Organisationsmodell oder -ziel hat, welche also dem Ideal der Einheitsgewerkschaft am nächsten kommt. Kurioserweise, das zeigen gerade GDL und EVG als «Gewerkschaft Deutscher (?) Lokomotivführer» und als «Eisenbahn- und Verkehrs(?)gewerkschaft», taugen selbst Gewerkschaftsnamen nicht mehr dazu, das Wesentliche einer Gewerkschaft zu erfassen.
EVG und GDL: Wege und Erfolge
Die EVG ist im Kern weiterhin eine Betriebsgewerkschaft der Deutschen Bahn (DB), und dort entgegen ihrem Anspruch auch berufsständisch, weil sie wesentliche Bereiche wie die Lokführer und teilweise die Zugbegleiter nicht (mehr) organisieren kann. Von dem Anspruch einer allgemeinen Verkehrsgewerkschaft, gar einer europäischen1, ist sie meilenweit entfernt. Viel später und schlechter als der GDL ist es ihr gelungen, in den riesigen Konkurrenzmärkten privater Eisenbahnverkehrsunternehmen, besonders im Güterverkehr, Fuß zu fassen. Wichtige Kriterien von Einheitsgewerkschaftlichkeit erfüllt die EVG trotz DGB-Mitgliedschaft nicht (mehr).
Anders die GDL. Sie vertritt irritierenderweise zwar das Organisationsprinzip des «Gewerkschaftspluralismus», das inkompatibel ist mit der Vorstellung von Einheitsgewerkschaft. Inwieweit es sich hier um ein Dogma oder eher um eine pragmatische Situationsbeschreibung geht, steht dahin. In ihrer realen Organisationspolitik bewegt sich die GDL faktisch jedenfalls viel stärker in Richtung Einheitsgewerkschaft.
Indem sie ihren Organisationbereich weit über die Lokführer hinaus definiert und dies in der Mitgliederentwicklung auch realisieren kann, bewegt sie sich weg vom Berufsständischen. Ihr Anspruch, u.a. auch für die Zugbegleiter als schlecht organisierter Gruppe mit wenig Druckpotenzial tariffähig zu werden, entkräftet den Vorwurf der Rosinenpickerei, also als Durchsetzungsstarke zulasten durchsetzungsschwacher Beschäftigtengruppen zu kämpfen. Eher versucht die GDL hier eine Lokomotivfunktion (sic!) für eine schwächere Beschäftigtengruppe wahrzunehmen, die ihr das auch durch Mitgliederzuwächse zu danken scheint.
In etlichen privaten Eisenbahnunternehmen ist die GDL in allen Berufsgruppen die stärkere Gewerkschaft, schließt die maßgeblichen Tarifverträge ab, während die EVG in einer Minderheitenposition ist. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass – auf den ersten Blick überraschend – auch die EVG sich jüngst auf ihrem kleinen Gewerkschaftstag in Fulda gegen das Nahlessche Tarifeinheitsgesetz ausgesprochen hat, wenn auch nur «in der jetzigen Form».
In der Praxis Richtung Einheitsgewerkschaft
Dass die GDL ihren Organisationsbereich nicht nur vertikal im jeweiligen Unternehmen über die Berufsgruppe der Lokführer hinaus ausgeweitet hat, sondern auch horizontal, indem sie früh und erfolgreich Mitglieder in den Konkurrenzunternehmen der DB organisiert hat, zeigt ebenfalls eine einheitsgewerkschaftliche Ausrichtung. Diese Entwicklung in die richtige Richtung hat sich womöglich ganz unideologisch einfach aus der gewerkschaftlichen Alltagserfahrung ergeben, die eine mobilisierungsbereite Gewerkschaft in jeder Auseinandersetzung macht: Da wo es der Arbeitgeberseite gelingt, Belegschaften konkurrierender Firmen gegeneinander auszuspielen, liegt ein gewerkschaftliches Organisationsdefizit vor, das angegangen und behoben werden muss.
Dieser Weg der GDL trägt jetzt schon Früchte. Ihre hohe Streikfähigkeit resultiert nicht nur aus dem beindruckenden Organisationsgrad von 80% bei den Lokführern der DB, und auch nicht nur aus ihrem großen Druckpotenzial, sondern ganz entscheidend auch aus der erfolgreich eingedämmten Konkurrenz privater Eisenbahnunternehmen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen. Hier ist der GDL nämlich eine weitgehende Angleichung der Tarifstandards gelungen, die das Gegeneinanderausspielen und Tarifdumping der Arbeitgeber begrenzt und ihnen langfristig auch die Möglichkeit nimmt, Streikbrecher einzusetzen.
Partner gegen Privatisierung und Stuttgart 21
Quersumme aus all diesen Kriterien ist die gewerkschaftliche Unabhängigkeit. Gewerkschaften, die sich politisch und organisationspolitisch in einer Weise aufstellen, die ihnen die Entfaltung ihrer Organisationsmacht letztlich in Form von Streikfähigkeit ermöglicht, sind selbstbewusster und unabhängiger: Unabhängiger von öffentlicher Stimmungsmache und vor allem unabhängiger von ihrem Arbeitgeber. Sie sind nicht darauf angewiesen, Arbeitnehmerinteressen vermittelt über das Unternehmensinteresse zu vertreten, sie müssen nicht jede auch noch so arbeitnehmerfeindliche Unternehmenspolitik wie im Falle Transnet/EVG von der Bahnprivatisierung2 bis zu Stuttgart 213 mittragen, in der Hoffnung, für diese kooperative Haltung in irgendeiner Weise «entlohnt» zu werden.
Je unabhängiger Gewerkschaften sich von der Unternehmens- und Arbeitgeberlogik machen, desto politikfähiger sind sie, desto wirksamer können sie Arbeitnehmerinteresse auch auf der politischen Ebene verfolgen, im Grenzfall durch den politischen Streik. Ein so politisch handlungsfähige Gewerkschaft hätte sich 1994 der Bahnprivatisierung und spätestens 2013 nach der verheerenden Kostenexplosion dem Katastrophenprojekt Stuttgart 21 in den Weg stellen können und das mit der ultima ratio des Streiks. Denkt man einen solchen Machtfaktor mit den Potenzialen der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 zusammen, hätten viele Weichen anders gestellt werden können und ist auch künftig eine politische Wende in der Bahnpolitik und ein Ausstieg aus S21 machbar.
Nimmt man Organisationsnamen und DGB-Zugehörigkeit als Kriterium für Einheitsgewerkschaftlichkeit, liegt die GDL voll daneben. Orientiert man sich am Wesentlichen, nämlich am praktischen Verständnis von gewerkschaftlicher Organisation und Entwicklung, verwirklicht die GDL viel von dem, was Gewerkschaft sein sollte.
Zwischenschritt Kooperation
Dass es bei der Bahn und in vielen anderen Bereichen zu einer gespaltenen Interessenvertretung der Beschäftigten durch das Erstarken der Berufs- oder Spartengewerkschaften gekommen ist, hat viel mit dem Niedergang der tarifpolitischen Durchsetzungsfähigkeit der großen DGB-Gewerkschaften zu tun, eben weil sie sich vom Ideal der Einheitsgewerkschaft weg entwickelt haben bzw. es nicht vermochten, es unter geänderten Verhältnissen zu erhalten. Die jahrelangen Reallohn- und politischen Positionsverluste trotz guter Wirtschaftentwicklung belegen das. Wo die allgemeinen Pegelstände sinken, ragen einzelne Felsen über die Oberfläche hinaus.
Dennoch kann der Weg aus dieser letztlich destruktiven Konstellation nicht im Niederkonkurrieren der einen durch die andere Gewerkschaft liegen. Der Zwischenschritt zur Tarifeinheit ist die tarifpolitische Kooperation, wie sie in vielen anderen Bereichen und auch in anderen Ländern wie Italien oder Frankreich erfolgreich praktiziert wird. Die effektivste Interessenvertretung der Bahnbeschäftigten und damit das langfristige Ziel muss die selbst organisierte Tarifeinheit und die einheitsgewerkschaftliche Interessenvertretung in der jeweiligen Wirtschaftsbranche sein: eine tarifpolitische Willensbildung, eine gemeinsame Streikkasse, ein gemeinsam erkämpftes Ergebnis.
Werner Sauerborn war Gewerkschaftssekretär von Ver.di Stuttgart und ist Mitinitiator der Initiative «GewerkschafterInnen gegen Stuttgart 21».
1 Die Perspektive statt einer nationalen Multibranchen- eine multinationale Branchengewerkschaft zu bilden, war 2001 einer der Gründe, warum die Vorgängerorganisation Transnet den Weg der Fusion zu Ver.di nicht mitgegangen ist.
2 Auf dem für die Bahnprivatisierung entscheidenden SPD-Parteitag in Hamburg im Jahr 2007 trat Norbert Hansen als Transnet-Vorsitzender und SPD-Mitglied auf, um für eine Teilprivatisierung der Deutschen Bahn zu werben. Für ihn unglücklicherweise sollte er dort am 27.Oktober nach Peter Conradi reden, dessen Beitrag als einfacher SPD-Delegierter, der sich strikt gegen jede Form der Bahnprivatisierung aussprach, die überwältigende Zustimmung der Parteitagsdelegierten gefunden hatte. Hansen stand am Pult und konnte aufgrund des enormen Beifalls für die Conradi-Rede minutenlang nicht mit seiner Rede beginnen. Hansen wechselte sieben Monate später nahtlos von der Transnet-Spitze in den Bahnvorstand
3 Am 5.März 2013 hat bekanntlich Mario Reiß, der GDL-Vertreter im Aufsichtsrat der DB, als einziger gegen den Beschluss gestimmt, Stuttgart 21 trotz Kostenexplosion von 4,5 auf 6,8 Milliarden Euro gegen alle Wirtschaftlichkeitsberechnungen und politischen Zusagen weiterzubauen. Alle EVG-Vertreter im DB-Aufsichtsrat stimmten mit der Arbeitgeberseite für den Weiterbau.
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