von Manuel Kellner
Chris Hirte, Mitherausgeber der Tagebücher von Erich Mühsam1, liest im Buchladen Akzente in Hamm Anfang Oktober. Der Rosa Luxemburg Club Hellweg Soester Börde und SALZ e.V. hatten eingeladen. Viele sind gekommen, alle hören zu wie gebannt. Der Anarchist, Kabarettist, Schriftsteller und führende Mitorganisator der Münchener Räterepublik schreibt ehrlich und schonungslos, legt seine Überlegungen und Gefühle offen.
3./4.August 1914
«Und es ist Krieg. Alles Fürchterliche ist entfesselt. Seit einer Woche ist die Welt verwandelt. Seit drei Tagen rasen die Götter. Wie furchtbar sind diese Zeiten! Wie schrecklich nah ist uns allen der Tod!
Immer und immer hat mich der Gedanke an Krieg beschäftigt. Ich versuchte, mir ihn auszumalen mit seinen Schrecken, ich schrieb gegen ihn, weil ich seine Entsetzlichkeit zu fassen wähnte.
Jetzt ist er da. Ich sehe starke, schöne Menschen einzeln und in Trupps in Kriegsbereitschaft die Straßen durchziehen. Ich drücke Dutzenden täglich zum Abschied die Hand, ich weiß nahe Freunde und Bekannte auf der Reise, ins Feld oder bereit auszuziehen – Körting, Kutscher, Bötticher, v.Jacobi, beide Söhne von Max Halbe und viele mehr –, weiß, dass viele nicht zurückkehren werden, lese Depeschen und Nachrichten, die – jetzt schon, ehe die Katastrophe eingesetzt hat – einem das Herz aufschreien machen, ich sehe alles schauderhaft nahe und viel schlimmer noch in der Realität, als die theoretisierende Phantasie es ausdachte. Und – ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie, ich ertappe mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel, entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen etwelche ‹Feinde›, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, dass ‹wir› uns vor ihnen retten! Nur: Wer sind sie, wer ist ‹wir›?
Aber der Gedanke ist doch grauenhaft, dass die Russen ins Land kommen könnten, Barbaren? Immerhin Menschen anderer Art, ohne Achtung vor unserer Welt, ohne Rücksicht auf unsere Gefühle mordend und sengend, Frauen und Kinder misshandelnd. Und mit unseren Kulturgütern Kosakenscherze treibend. Und wie furchtbar ist es zu lesen, dass heut ein französischer Arzt mit zwei Offizieren in Metz versucht hat, einen Brunnen mit Cholerabazillen zu vergiften! (Tatarenmeldung. Dementiert. E.M.) Vorgestern haben die Hände eines Chauvinisten Jaurès ermordet, den Mann, der den Frieden wollte, der eigentlich alles verkörperte, was wir als die überlegene französische Kultur verehren. Und nun fahren französische Flieger über das Land und werfen Bomben.
Da verlassen einen die Theorien, man wird einer von allen, mit den Instinkten aller, aber mit erhöhtem Leid, weil die Kritik unter dem Gefühl wirksam bleibt und weil alle Parteinahme den Opfern, nicht den Machern gilt.
Die Massen sind durch die Aufregung dieser Tage in wahre Hysterie geraten. Überall werden Spione gewittert. Dann rennen die Menschen in Haufen zusammen, misshandeln die Unglücklichen und übergeben sie der Polizei. Manchmal sollen ja wirklich russische Bombenwerfer abgefasst sein…
Aber doch ist die Einmütigkeit des Gefühls, eine gerechte Sache zu führen, bei aller Verblendung ergreifend. Man ist sehr ernst, aber doch sichtlich gehoben. Wäre bloß nicht schon überall eine üble Gesinnungsriecherei bemerkbar!»
Seine Zeitschrift erscheint nicht mehr
In einer Gaststätte mit Freunden, obwohl nichts Politisches gesagt wird, werden «nationale» Studenten bei Erich Mühsams Auftauchen misstrauisch, die Freunde werden beschimpft, bedroht, denunziert, einer – der am nächsten Tag zur Marine einrücken muss – von der Polizei abgeführt, aber draußen wieder freigelassen.
Erich Mühsam stellt das Erscheinen seiner Zeitschrift Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit mit Beginn des Krieges ein:
«An die Leser des Kain!
Die über die Länder und Völker hereinbrechende Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten. In diesem Augenblick wäre es müßiges Tun, Kritik zu üben oder Schuld auszuteilen. Die Ereignisse nehmen mir, der ich um der Menschlichkeit willen meine Zeitschrift geschaffen habe, die Feder aus der Hand.
Die Leser, die in vierzig Monaten mein Wollen erkannt haben, werden meine Stellung verstehen und billigen. Ich habe nur die Wahl, ganz zu schweigen oder zu sagen, was jetzt niemanden frommt und was unter dem geltenden Ausnahmerecht meine persönliche Sicherheit gefährden kann. Ein Drittes ist unmöglich, da ich meine Überzeugungen nicht verleugnen oder frisieren kann. Auch den Ausweg, den Inhalt der Zeitschrift auf die Glossierung belangloser Kleinigkeiten oder auf kunstkritische Betrachtungen zu beschränken, verschmähe ich. In dieser Stunde, wo es um das Schicksal aller geht, gibt es außerdem nichts Wesentliches und nichts, was eine Zeitschrift für Menschlichkeit angehen könnte.
Deshalb habe ich mich entschlossen, die Herausgabe des Kain während der Dauer des Kriegszustandes zu unterbrechen. Nachher werde ich wieder auf dem Plan sein, um die Wege zu finden und Glück suchen zu helfen. Möge es bald sein!
München, Anfang August 1914»2
Erich Mühsam hat neben Sachtexten und politischen Artikeln Dramen geschrieben und viele Gedichte und Lieder. Am bekanntesten ist «Der Revoluzzer», der deutschen Sozialdemokratie gewidmet. Dieser «Revoluzzer» ist im Zivilstand Lampenputzer, und am Ende schreibt er ein Buch, «nämlich wie man revoluzzt und dabei doch Lampen putzt». Ein Klassiker! Hier eine andere Probe von Mühsams aufmüpfiger Dichtkunst:
Bonzen-Blues
Sei dankbar, Volk, den Edlen die dich leiten,
der Obrigkeit, die stets dein Heil bedenkt.
Willst du dir selber dein Geschick bereiten,
bald wär die Karre in den Sumpf gelenkt.
Was weißt denn du, was für dein Wohlsein nötig ist?
Das Volk gehorche, weil es brägenklötig ist.
Der höhern Einsicht füge dich beizeiten,
und frag nicht lang, warum der Staat dich hängt.
Vertraue, Volk, den Bonzen der Parteien,
geborgen ist dein Glück in ihrem Schoß.
Wenn du sie wählst, wolln alle dich befreien,
wenn sie gewählt sind, melken sie dich bloß.
Stell dir doch vor, wenn niemand dich regieren soll,
wovon dein Bonze dann noch existieren soll.
Der ganze Landtag müsst vor Hunger schreien.
Selbst die Abortfrau wäre arbeitslos.
Sie haben nichts im Kopf als Paragraphen.
Die Bonzen sind, o Volk, die Jungs im Skat,
verhängen Steuern über dich und Strafen,
und wenn du aufmuckst, dann ist’s Hochverrat.
Sie merken nie, wenn alles auf der Kippe steht,
sie merken immer, wo noch eine Krippe steht,
doch du, o Volk, du kannst geruhsam schlafen.
Die Bonzen wachen ja, es wacht der Staat.
Erich Mühsam hat selten Glück gehabt im Leben, aber einmal doch: als einer von 170, die bangen und beben, ob sie für tauglich befunden werden, in den Krieg zu ziehen – das hätten, so meint er, Kaiser, Generäle und andere Vaterländler sehen sollen:
24.September 1915
«Mir ist gottlob die furchtbare Not erspart geblieben. Auf die Frage, was mir fehle, berief ich mich auf schlechte Augen und Herzerweiterung, die sich in Erschöpfungszuständen äußern. Der Stabsarzt selbst legt mir nahe, mich auch auf die Lungen zu berufen, behorchte mich nur ganz wenig und erklärte mich als ‹Ausgemustert!› Ob ich das den seit fünfzehn Jahren gerauchten Zigarren, getrunkenem schwarzen Kaffee und Alkohol und umarmten Frauen verdanke oder dem freiwilligen Verzicht der Militärbehörde, wage ich nicht zu entscheiden. Die neugierigen Blicke der Offiziere und Beamten, als ich in leuchtender Nacktheit in ihren geweihten Raum trat, lässt mich jedenfalls darauf schließen, dass man sich vorher über mich unterhalten haben wird, und da mag wohl die Ansicht laut geworden sein, dass ein derartiger Miesmacher in der deutschen Armee mehr ruinieren als helfen kann.
So wäre denn einmal mein Festhalten an der stets bestätigten Gesinnung wahrhaft belohnt worden.»
1.Januar 1916
Da war bei Erich Mühsam und seiner Frau Kreszentia «Zenzl» Elfinger eine Silvesterfeier mit viel Alkohol. Es entstehen «Schwabinger Knäuel», und Erich Mühsam ist mitten drin und wird mit einer Frau Ehrengard intim, die er sehr begehrt. Ziemlich betrunken merkt er nicht, dass Zenzl sehr sauer ist. Sie droht ihn zu verlassen. Ihn, der sie so sehr liebt, dem sie «die Mutter ersetzt», auf die er so angewiesen ist! Während ich zuhöre, wie er zagt und klagt, wie wenig er ohne sie klarkommen kann, wird mir bewusst, dass er ja in sein Tagebuch schreibt anstatt aufzuräumen, und auch nicht weiß, wie er das ganze von der Silvesterfeier verursachte Chaos beseitigen könnte. Er ist für die freie Liebe und gegen die Diskriminierung der gleichgeschlechtlichen Liebe und für die Befreiung der Frauen und gegen die üblichen patriarchalischen Urteile zu den angeblichen Eigenschaften der Frauen (bloß hält er sie witziger Weise für das «unpünktliche» Geschlecht), und er versucht, nach seinen Überzeugungen zu leben. Aber er bleibt, wie wir alle bis heute, geprägt von den Verhältnissen, die er ablehnt…
Von den Nazis ermordet
Erich Mühsam war oft im Knast. Aber die Nazis ermorden ihn am 10.Juli 1934 nach 16 Monaten «Schutzhaft» im KZ Oranienburg. Vorher haben sie ihn verprügelt, gefoltert, alle Finger seiner Hände einzeln gebrochen. Die Aufforderung, sich selber umzubringen, hatte er stolz abgelehnt. Sein Tod ist bis heute ungerächt.
Seine Frau Zenzl geriet auf der Flucht vor den Nazis in der Sowjetunion in die Fänge des stalinistischen Machtapparats, getäuscht von dem falschen Versprechen, Erich Mühsams Nachlass zu pflegen und aufzuarbeiten. Erst nach Stalins Tod kam sie frei und lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 1962 in der DDR, wo sie sich weiter für den Nachlass Erich Mühsams einsetzte.
Seine politischen Ansichten legte Erich Mühsam 1932 in der Zeitschrift Fanal dar: «Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?»
- Erich Mühsam: Tagebücher. Hrsg. Chris Hirte, Conrad Piers. Bd.7. Verbrecher Verlag, Herbst 2014. Der letzte Bd.15 ist geplant für Herbst 2016, bisher Erschienenes online verfügbar unter www.goga.net/pgproj/63d4449c _TEI.
- Entnommen der hervorragenden Zusammenstellung von Dieter Braeg: «Sich fügen heißt lügen. Eine Erich Mühsam Text- und Liederrevue», www.kossawa.de/index.php/kultur/ 369-erich-muehsam.
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