von Jochen Gester
Der derzeitige Arbeitskampf bei Amazon hat bereits im Frühjahr 2013 begonnen. Ausgelöst wurde er durch die posttayloristischen Arbeitsbedingungen in dem Internetkaufhaus (siehe SoZ 5/2013). Die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten wollen durchsetzen, dass Amazon den Tarifvertrag des Einzelversandhandels anerkennt und sich nicht länger darauf beruft, ein Logistikunternehmen zu sein. Sie wollen aber auch die ihnen auferlegten Arbeitsbedingungen nicht länger hinnehmen und fordern deshalb eine Reduzierung der erheblichen gesundheitlichen Belastungen, eine Einschränkung des rigiden Kontrollsystems und einen respektvollen Umgang der Vorgesetzten mit den Beschäftigten. Diese Themen sollen Eingang finden in einen neu abzuschließenden Tarifvertrag.
Nachdem sich zuletzt im September 2000 Beschäftigte an Streiks beteiligt hatten, rief Ver.di für den 27.Oktober erneut zu Arbeitsniederlegungen auf. Die am Sonntagnacht begonnenen Ausstände dauerten bis zum 1.November, jedoch an einzelnen Standorten unterschiedlich lang, bis Mitte der folgenden Woche. Der gewerkschaftliche Organisationsprozess kommt dabei deutlich voran. Erstmals konnte Ver.di an fünf von acht Standorten gleichzeitig Arbeitskampfmaßnahmen ergreifen, zu Beginn der Auseinandersetzung war dies nur an den Standorten Bad Hersfeld und Leipzig möglich gewesen. Auch gibt es mittlerweile an allen Standorten gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte.
Die Streikenden sandten ihre Botschaft an die deutsche Unternehmensleitung auf originelle und kreative Weise. Die Arbeitgebervertreter erhielten die Nachricht mit einer Drohne – der Technologie, in die das Unternehmen viele Forschungsgelder steckt, um zukünftig Direktauslieferungen aus der Luft möglich zu machen. Doch in diesem Fall nahm die Drohne den entgegengesetzten Weg. Das versandte Paket enthielt einen Bestellzettel: «Artikel: Tarifvertrag, Stückzahl 1, Preis: Flächentarifvertrag im Einzel- und Versandhandel».
Wann Ver.di die nächste Streikwelle einleiten wird, bleibt offen. Je überraschender sich Teile der Belegschaft ihren Aufgaben entziehen können, desto wirksamer kann das sein. An die Adresse des Arbeitgebers gerichtet kommentierte Thomas Schneider, Streikleiter in Leipzig: «Amazon muss damit rechnen, dass sie keine ruhige Minute mehr haben.»
Auch in Frankreich haben in der Zwischenzeit einzelne Amazon-Standorte gestreikt. Gerade dorthin war der Konzern gern ausgewichen, wenn es Lieferverzögerungen infolge des Arbeitskampfes in Deutschland gab.
Grenzenlos
Überhaupt scheinen die Verantwortlichen der beteiligten Gewerkschaften begriffen zu haben, dass sie es mit einem international aufgestellten Konzern zu tun haben, der in ganz Europa von Spanien über Irland bis Polen über Logistikzentren verfügt und gerade auch stark in der Tschechischen Republik expandieren will. Deutschland ist mit seinen acht Logistikzentren, zwei Kundenservicebüros und einem Verwaltungsstandort mit Abstand der wichtigste Operationsort.
Anfang November trafen sich in Fulda Vertreter europäischer Gewerkschaften aus Deutschland, Frankreich, Tschechien, Polen und England sowie Abgesandte aus den USA, um gemeinsam zu beraten, wie sie Druck für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne machen können. Dem Treffen vorausgegangen war eine vom internationalen Gewerkschaftsdachverband UNI Global Union und von der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) organisierte Konferenz am 2. und 3.Juli in Berlin. Ver.di nutzte auch den Jahreskongress des ITF in Sofia, um für Unterstützung zu werben. Denn der Verband verfügt über die größten Erfahrungen in der Führung internationaler Arbeitskämpfe. Die ITF sagte Solidaritätsaktionen zu.
Ver.di-Vorstand Christine Behle: «Unser Ziel ist, eine globale Antwort auf die globale Herausforderung Amazon zu finden – für existenzsichernde Tarifverträge aller Beschäftigten entlang der Wertschöpfungskette.» Damit ist ein strategischer gewerkschaftlicher Ansatz für eine basisgewerkschaftliche Kooperation bezeichnet, der von Beschäftigten des internationalen TIE-Netzwerks entwickelt und von Ver.di übernommen wurde. Das Projekt trägt den Namen «ExChains».
Doch die Grenzen werden nicht nur von «Berufsgewerkschaftern» überschritten. Auch die im Streik stehenden Beschäftigten selbst machen sich auf den Weg zu ihren Kollegen in den Nachbarländern. Mit Unterstützung des Kasseler Solidaritätskomitees besuchten Bad Hersfelder Amazon-Beschäftige die ebenfalls streikenden Männer und Frauen von Amazon im französischen Chalon. Die Chalonis wiederum zeigten Flagge auf der anderen Rheinseite. Auf einem vom Komitee erstellten Transparent ist auf Deutsch und Französisch zu lesen: «In jedem Streik steckt ein Traum». Ein den Streik unterstützendes, vor allem von jungen Aktivisten getragenes, externes Netzwerk gibt es ferner in Leipzig, und auch in Berlin hat sich ein Soli-Arbeitskreis gegründet, um Unterstützung zu bieten, sollte auch in Brieselang gestreikt werden.
Nutzer als Streikbrecher?
Der Arbeitskampf dürfte zu Jahresende nochmal Fahrt aufnehmen. Denn dann geht es ums Weihnachtsgeschäft und das damit verbundene stark steigende Arbeitsvolumen. Amazon bereitet sich – auch mit Blick auf den streikbedingten Entzug von Arbeitskräften – darauf im großen Stil vor. Mit der plakatierten Werbebotschaft «Werden Sie offizieller Partner des Weihnachtsmanns» wirbt der Versandhändler um 10000 zusätzliche Aushilfskräfte, die sicherstellen sollen, dass der nicht streikende Teil der 9000 regulär Beschäftigten alle Aufträge abarbeiten kann.
Wie bei allen größeren Arbeitskämpfen entscheidet über Erfolg und Misserfolg nicht nur die Einheit und Geschlossenheit der Belegschaften. Wichtig ist auch die externe Unterstützung, die die Konfliktparteien für sich gewinnen können. Das rücksichtslose Auftreten des US-Konzerns beschäftigt seit langem nicht nur die dort Beschäftigten, sondern auch die öffentliche Meinung. Es trifft die Gesellschaft insgesamt, wenn das Unternehmen des Herrn Bezos seine Gewinne dem Fiskus entzieht und weniger als ein Prozent davon versteuert. Auch viele Buchhändler sind die Knebelverträge leid, die ihnen von diesem diktatorisch agierenden Konzern aufgedrückt werden. Hier sind also viele Sympathien zu mobilisieren.
Doch es gibt auch Gegenstimmen, denen vor allem die «Streikfreudigkeit» der Gewerkschaften missfällt, nicht zufällig findet man sie auch in den seriösen Leitmedien. So zeichnet Nadine Oberhuber in der Zeit ihren Lesern ein Bild vom Streikgeschehen bei Amazon, bei dem die Streikenden keinen Rückhalt unter den Beschäftigten haben und auch ihre Streikanliegen selbst absurd erscheinen. Die Autorin des Artikels resümiert: «Es geht bei diesem Streik im besten Fall um 44 Cent. So weit liegen in den untersten Lohnklasse die Stundenlöhne im Versandhandel (10,66 Euro in LG 1/2) und im Logistikunternehmen (10,22 Euro) auseinander.»
Selbst wenn man die Rechnung als richtig unterstellt, bleibt bei dieser Betrachtung der Hauptunterschied zwischen der Ist-Situation und dem geforderten Einzelhandelstarifvertrag außen vor: Amazon zahlt tarifliche Leistungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld entweder nicht oder nach Nase. Und hier summieren sich keine unbedeutenden Beträge. Die Zeit-Autorin hingegen erweckt den Eindruck, Amazon stelle Beschäftigte ein, die nicht die Grundrechnungsarten beherrschen und sich von Gewerkschaftsfunktionären für blöd verkaufen lassen. Bsirske & Co veranstalteten demnach das Ganze nur, damit «ziemlich viel Geld in die Gewerkschaftskasse» gespült wird, Einnahmen, die Ver.di aufgrund des Mitgliederschwunds dringend benötige. Dass Ver.di 2013 eine positive Mitgliederbilanz zu verzeichnen hatte, wird hier ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Tatsache, dass es in diesem Arbeitskampf im Kern gar nicht um Geld geht, sondern um krank machende Arbeitsbedingungen, letztlich um «Dinge» wie Respekt und Würde, Bedürfnisse, die in der neuen schönen Arbeitswelt des Herrn Bezos als verzichtbar gelten.
Frau Oberhuber sieht Ver.di bereits auf dem Rückzug, konfrontiert mit immer mehr Widerstand aus den Reihen derjenigen, die sie zu beschützen vorgebe. Tatsächlich haben Angestellte an den Standorten Leipzig und Bad Hersfeld 1000 Unterschriften gesammelt, die Partei für das Unternehmen ergreifen. Wie viele dieser Unterschriften jedoch aus freien Stücken geleistet wurden, ist ebenso offen wie die Antwort auf die Frage, was sie mit diesem Beistand ausdrücken wollen. Sicher ist allerdings, dass ein kluger Umgang mit den hier sichtbar werdenden Ängsten eines Teils der Belegschaft für den Erfolg des Arbeitskampfes von erheblicher Bedeutung ist.
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