Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2014
Das Dorf, wo Menschen wichtiger sind als Profit

von Liam Barrington und Len Wilton

In der blühenden spanischen Kleinstadt Marinaleda ist das Leben von den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe und der direkten Aktion geprägt. Ist das eine Alternative – in einem Land, das von der Last der Schulden gelähmt ist?Im Süden Spaniens sind die Straßen so etwas wie kollektive Wohnzimmer. Lebendige Straßencafés, dazwischen eine paar Partystühle – die Menschen kommen zusammen und schwatzen über die Ereignisse des Tages bis spät in die Nacht. Mitte Juni, wenn das Thermometer 40 Grad überschreitet, zieht der Geruch nach frischem Fisch von den Küchen und Restaurants durch die Straßen, wenn die jahreszeitlich bedingt späte Abendessenszeit beginnt. Die Szenerie ist typisch spanisch, gerade im Süden, in Andalusien.

Das Bild ist typisch für Marinaleda. Anfangs wirkt es kaum anders als zahlreiche andere Dörfer in der südlichen Sierra, wären da nicht ein paar vielsagende Indizien. Das mögen die Straßennamen sein (Ernesto Che Guevara, Solidarität, Salvador-Allende-Platz, um ein paar zu nennen); vielleicht ist es das Graffitto (handgemalte Hammer & Sichel fröhlich vereint mit dem anarchistischen A im Kreis – ganz so, als hätte es die historischen Differenzen zwischen den beiden Ideologien in der jüngsten Vergangenheit nie gegeben); vielleicht ist es auch das zwei Stockwerke hohe Bild Che Guevaras, das die Wände des örtlichen Sportstadiums ziert.

Man nennt Marinaleda Spaniens «kommunistisches Utopia», obwohl die örtliche Variante wenig Ähnlichkeit mit dem sowjetischen Orginal aufweist, das einem da unmittelbar einfällt. Jenseits solcher Zuordnungen ist Marinaleda eine Stadt, deren soziales Gefüge aus ökonomischen Fäden gewoben ist, die sich seit dem Ende Francos Mitte der 70er Jahre vom Rest des Landes grundlegend unterscheiden. Eine Fabrik für Olivenöl in Genossenschaftsbesitz, Wohnhäuser, die von und für die Gemeinschaft gebaut wurden, die berühmter Ausräumaktion in einem großen Supermarkt, angeführt von einem charismatischen Bürgermeister, dessen Erträge an öffentliche Tafeln für Arme weitergegeben wurden – das alles hat dazu beigetragen, dass Marinaleda der Ruf eines Leuchtfeuers der Hoffnung anhängt.

Die Währung der direkten Aktion

Die spanische Wirtschaft befindet sich seit 2008 im Sinkflug, die Arbeitslosenrate liegt landesweit bei 26%, über die Hälfte der jungen Leute findet keine Arbeit. Marinaleda hingegen kann von sich sagen, dass die meisten Leute zumindest etwas Arbeit haben und dass jene, die keine haben, über ein starkes Sicherheitsnetz verfügen, das sie auffängt.

Denn über seine Geldwirtschaft hinaus verfügt Marinaleda über eine Währung, die man jenseits von Aktivistengruppen oder indigenen Gemeinden, die gegen zerstörerische Projekte kämpfen, selten findet: die Währung der direkten Aktion. Anstatt sich ausschließlich darauf zu verlassen, dass sich mit Geld alles regeln lässt, haben die Einwohner ihren Grips und ihren Schweiß gemeinsam darauf verwendet, in dieser Ecke der Welt ein anderes System zu schaffen.

Als Kleingeld wieder einmal Mangelware war – und das ist fast immer so, seit sich die Gemeinde auf ihren Weg gemacht hat – taten sich die Einwohner von Marinaleda zusammen, um zu schauen, was zu tun sei. Mal hieß es, Ländereien eines andalusischen Aristokraten zu besetzen und das Land für die Bewohner der Kleinstadt nutzbar zu machen. Mal hieß es nur, gemeinsam den Müll in der Stadt einzusammeln.

Ohne ganz die Beziehungen zu den übergeordneten Behörden zu kappen, hat der Gemeinderat Macht und Zuständigkeiten in die Hände jener übergeben, denen er dienen soll. Regelmäßig gibt es Vollversammlungen, so dass die Bewohner der Stadt an den Entscheidungen, die ihr Leben bestimmen, beteiligt werden. Diese Versammlungen schaffen Räume, wo Menschen zusammenkommen um zu organisieren, was in der Gemeinde gemeinsam angegangen werden muss.

«Das beste hier in Marinaleda, was man an anderen Orten nicht findet, ist die Versammlung», sagt Manuel Gutiérrez Daneri, ein altgedienter Angestellter der Gemeinde. «Die Versammlung ist der Ort, wo die Leute die Probleme diskutieren und Lösungen finden.» Hier werden sogar kleine kriminelle Vergehen behandelt, weil die Stadt über keine Polizei und kein Gericht mehr verfügt, seit der letzte Polizist sich in den Ruhestand verabschiedet hat.

In seiner Zeit als Bürgermeister ist es Juan Manuel Sánchez Gordillo gelungen, beträchtliche finanzielle Unterstützung von der Regionalregierung zu beschaffen – ein Umstand, den Gutiérrez Daneri dem Erfolg der kollektiven direkten Aktionen zuschreibt. «Wenn du vorangehst und alle Leute hinter dir hast, dann bist du sehr mächtig», sagt er.

Infolgedessen kann die kleine Stadt recht umfangreiche Sportanlagen und einen schön instand gehaltenen botanischen Garten vorweisen. Dazu kommen eine ganze Reihe von öffentlichen Einrichtungen der Grundversorgung: «Für einen kleinen Ort wie den unseren, mit nicht mehr als 2700 Einwohnern, haben wir eine ganze Menge öffentlicher Einrichtungen», sagt Gutiérrez Daneri.

Chris Burke aus Großbritannien, der schon seit mehreren Jahren in Marinaleda lebt, sagt, der Eintritt für das öffentliche Schwimmbad kostet nur 3 Euro für den ganzen Sommer. Bürgermeister Sánchez Gordillo habe ihm gegenüber einmal gesagt: «Die Sache ist doch, dass man nur dann an einem Ort ein gutes Leben führen kann, wenn auch jeder es sich leisten kann, das Leben zu genießen.» Und er fügt ganz pragmatisch hinzu: «Es gibt kein Utopia, ohne dass einige Einrichtungen rote Zahlen schreiben.»

Von der Besetzung zur Zusammenarbeit

1979 wurde Sánchez Gordillo zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt. Er leitete eine umfangreiche Kampagne mit dem Ziel einer Kursänderung für Marinaleda ein. Man begann mit Hungerstreiks und der Besetzung von Ländereien, die praktisch unbenutzt waren.

Manuel Martín Fernández war von Anfang an an den Kämpfen beteiligt. Er beschreibt, wie der Prozess der Versammlungen es der Gemeinde ermöglichte, den Strom der Abwanderung aus der Stadt zu stoppen. Es begann mit einer wochenlangen Besetzung des nahegelegenen Wasserreservoirs. Damit sollte die Provinzregierung davon überzeugt werden, der Gemeinde genug Wasser zuzuweisen, um das Land zu bewässern.

Die Aktion war ein voller Erfolg. Daraufhin besetzten die Leute 1200 Hektar des jetzt bewässerten Landes, das im Besitz einer aristokratischen Familie war. Das ging bis 1991. Dann aber wurde das Stück Land offiziell enteignet und in kommunalen Besitz überführt. «Es dauerte 12 Jahre, das Land zu bekommen», erklärt Martín Fernández und bezeichnet den Sieg stolz als «Eroberung».

Heute bilden die weiten Felder mit Oliven, Artischocken, Bohnen und Pfeffer das Rückgrat der örtlichen Geldwirtschaft. Das Land wird kollektiv von der Kooperative «El Humoso» verwaltet, und mittlerweile wurde am Stadtrand eine Fabrik errichtet, in der die Früchte in Dosen abgefüllt werden. «Unser Ziel war nicht, Profite zu erzielen, sondern Arbeitsplätze zu schaffen», erklärt Sánchez Gordillo dem britischen Autor Dan Hancox und beschreibt, warum die Stadt es vorzog, arbeitsintensive Pflanzen anbauen, die mehr Beschäftigung für die örtliche Bevölkerung bringen.

Wie für viele Sektoren der Agrarproduktion, auf den Feldern oder in der Fabrik, ist der Arbeitsanfall auch in Marinaleda je nach Saison sehr unterschiedlich und schwankt von Jahr zu Jahr. Aber anders als in anderen agrarisch strukturierten Kleinstädten teilen sich in Marinaleda diejenigen die Arbeit, die sie am nötigsten haben.

Dolores Valderama Martín hat ihr ganzes Leben lang in Marinaleda gelebt und arbeitet mittlerweile seit 14 Jahren in der Verpackungsfabrik «Humoso». Aus ihrem Büro im ersten Stock erklärt sie: «Wenn 200 Leute Arbeit suchen, wir aber nur 40 Arbeiter brauchen, rufen wir alle zusammen. Wir versammeln alle direkt Betroffenen. Dann bilden wir Gruppen, und jede der Gruppen arbeitet zwei Tage lang.»

Die Kooperative setzt sich aus neun Einheiten zusammen, die gemeinsam über wichtige Fragen wie die Verteilung der Arbeit entscheiden. Das kann soweit gehen, dass ein Problem in die städtische Vollversammlung eingebracht wird, um Anregungen und Denkanstöße zu bekommen. Doch sie räumt ein: «Aber wenn es überhaupt keine Arbeit gibt, sind natürlich auch hier, wie anderswo auch, die Leute arbeitslos.»

Viele in der Stadt beklagen den Mangel an Arbeit, aber das soziale Netz aus direkter Aktion und gegenseitiger Hilfe hat zur Folge, dass jemand, anders als in anderen Teilen des Landes, sich mit zwei Monatslöhnen das ganze Jahr über Wasser halten kann. Kern dieses sozialen Netzes ist der Umgang der Gemeinde mit dem Thema Wohnung. Das Beispiel zeigt im übrigen, wie ein kollektive Herangehen die Lücken schließen kann, die eine stagnierende Geldwirtschaft reißt.

 Die Häuser und die Gemeinde

Wenn viele junge Leute ihre ersten Erfahrungen mit dem Wohnungsmarkt machen, ist zwangsläufig Geld das größte Problem. Ganz abgesehen von der allgemeinen Wirtschaftslage, ist die geforderte Anzahlung zumeist so hoch, dass sie selbst in einem ruhigen Marktumfeld völlig jenseits der Möglichkeiten der «verlorenen Generation» liegt, wie sie gelegentlich bezeichnet wird.

Ganz oben auf der Liste der bahnbrechenden Entscheidungen, die Bürgermeister Sánchez Gordillo angestoßen hat, findet sich eine Kombination aus staatlichen Zuschüssen für Baumaterialien, freiwilliger Arbeit beim Hausbau und der Bereitstellung von städtischem Baugrund. Auf diese Weise wurde der Wohnungsbau in Marinaleda zumindest teilweise den Gesetzen des Marktes entzogen. Statt dessen tun sich Gemeindemitglieder zusammen, um auf der Grundlage von Entwürfen städtischer Architekten Wohnungseinheiten zu bauen – ohne Plan, welche Wohnung jetzt genau welcher Familie zugeteilt wird.

Bislang wurden 350 Häuser so errichtet, zur Zeit unseres Besuchs waren 20 weitere im Bau; sie werden Teil einer Wohnungskooperative. Und es hat natürlich massive Auswirkungen auf den Zwang zur Lohnarbeit, wenn die Leute lediglich Hypothekenzahlungen in Höhe von 15 Euro im Monat leisten müssen.

Die Wirtschaft der direkten Aktion

Während der Kapitalismus unsere Beziehungen untereinander als eine permanente Abfolge von egoistischen, lediglich auf den Eigennutz bezogenen Handlungen sieht, verlässt sich Marinaleda auf ein Modell der gegenseitigen Hilfe, wo die Gemeindemitglieder zusammenarbeiten, um gemeinsame Bedürfnisse zu befriedigen – was den Umlauf von viel weniger Geld erforderlich macht. Es gerät ja schnell in Vergessenheit, dass Geld lediglich ein Mittel sein soll, um Aktivitäten anzustoßen, die wiederum Menschen dazu anregen, Dinge zu tun, die sie ansonsten nicht tun würden.

Direkte Aktion gründet sich auf gemeinsame Interessen und sucht nach Umsetzungsmöglichkeiten für das, was die Menschen, die es angeht, für dringend erforderlich halten. Direkte Aktion überwindet die Spaltung zwischen Produzenten und Konsumenten und macht Geld als Vermittlungsinstanz überflüssig, da diejenigen, die etwas getan haben möchten, und jene, die das tun, dieselben sind.

Natürlich hat Marinaleda auch Schwachstellen, aber das Beispiel macht uns bewusst, dass alternative wirtschaftliche Modelle nicht nur theoretisch möglich sind, sondern bereits real existieren. Ein bemerkenswertes Graffito an der Hauptstraße Marinaledas zeigt einen Dream Catcher, überlagert von Hammer und Sichel. Der beigefügte Slogan fordert uns auf: «Verfolge deine Träume – Utopia ist machbar.»

 Quelle: roarmag.org, 15.Juli 2014. Zum Weiterlesen: Dan Hancox: The village against the world. London: Verso, 2014.

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